Gedeihstörung – Ursachen

Pathogenese (Krankheitsentstehung)

Die Pathogenese einer Gedeihstörung ist eng mit der zugrunde liegenden Ursache verknüpft. Eine Gedeihstörung kann durch unterschiedliche Mechanismen hervorgerufen werden, die auf eine verminderte Energieaufnahme, eine unzureichende Energieverwertung oder einen erhöhten Energiebedarf zurückzuführen sind.

Primäre pathophysiologische Mechanismen

  • Unzureichende Nahrungsaufnahme: Eine verminderte Kalorienzufuhr ist oft die Hauptursache für eine Gedeihstörung und kann durch verschiedene Faktoren bedingt sein:
    • Anorexie (Appetitlosigkeit): Verminderter Appetit führt zu einer geringen Nahrungsaufnahme.
    • Chronisches Erbrechen: Häufiges Erbrechen führt zu einem erheblichen Verlust an Nährstoffen.
    • Dysphagie (Schluckstörung) oder Kaustörung: Schwierigkeiten beim Schlucken oder Kauen können die Nahrungsaufnahme erheblich beeinträchtigen.
    • Transportstörung des Ösophagus (Speiseröhre): Mechanische oder funktionelle Probleme der Speiseröhre führen zu einer eingeschränkten Nahrungspassage.
    • Dyspnoe (Atemnot): Atemwegserkrankungen oder Herzprobleme können die Nahrungsaufnahme beeinträchtigen, da die Atemnot die Fähigkeit zur Nahrungsaufnahme einschränkt.
  • Erhöhter Energiebedarf: Ein gesteigerter Energieverbrauch kann bei verschiedenen chronischen Erkrankungen auftreten und zu einer Gedeihstörung führen:
    • Chronische Infektionen: Infektionen wie Tuberkulose oder HIV verursachen eine Erhöhung des Grundumsatzes.
    • Chronische Inflammation: Entzündliche Prozesse, wie sie bei chronisch-entzündlichen Erkrankungen auftreten, führen zu einem gesteigerten Energieverbrauch.
    • Chronische Organerkrankungen: Erkrankungen von Organen wie Herz und Lunge erhöhen den Energiebedarf des Körpers.
    • Maligne Erkrankungen: Krebserkrankungen steigern den Katabolismus und führen zu einem erhöhten Energiebedarf.
  • Gestörte intestinale Aufnahme: Eine gestörte Aufnahme von Nährstoffen im Darm kann zu einer Mangelversorgung führen:
    • Maldigestion (unzureichende Verdauung): Wenn der Verdauungsprozess nicht ausreichend funktioniert, kann die Nahrung nicht vollständig aufgeschlossen werden.
    • Malabsorption (mangelhafte Aufnahme): Die Aufnahme der Nährstoffe durch die Darmschleimhaut ist gestört, wie beispielsweise bei:
      • Zöliakie (Glutenunverträglichkeit)
      • Chronisch-entzündliche Darmerkrankungen (CED), insbesondere Morbus Crohn
      • Pankreasinsuffizienz (Schwäche der Bauchspeicheldrüse): Fehlende Enzyme erschweren die Fett- und Proteinverdauung, was zu einer Mangelernährung führt.

Sekundäre pathophysiologische Veränderungen

  • Gewichtsverlust und verzögertes Wachstum: Durch die mangelnde Nährstoffzufuhr bleibt das Wachstum zurück, und es kommt zu einem deutlichen Gewichtsverlust.
  • Immunschwäche: Ein Mangel an wichtigen Nährstoffen beeinträchtigt das Immunsystem, das das Infektionsrisiko erhöht und die Heilung verzögert.
  • Verzögerte körperliche und geistige Entwicklung: Bei Kindern kann die Gedeihstörung zu einer verzögerten physischen und kognitiven Entwicklung führen.

Klinische Manifestation

  • Leitsymptome: Deutliches Untergewicht, verzögertes Wachstum und reduzierte körperliche Aktivität.
  • Fortgeschrittene Symptome: Müdigkeit, Infektanfälligkeit, verminderte kognitive und motorische Entwicklung.

Zusammenfassung und klinische Relevanz

Eine Gedeihstörung ist eine ernste Folge einer unausgeglichenen Energieaufnahme, gestörten Nährstoffverwertung oder eines erhöhten Energiebedarfs, die meist bei chronischen Erkrankungen auftritt. Die Ursachen sind vielfältig und reichen von Magen-Darm-Erkrankungen über Organinsuffizienzen bis zu psychischen Faktoren. Eine frühzeitige Erkennung und gezielte Behandlung der zugrunde liegenden Ursachen sind entscheidend, um schwerwiegende Folgen wie Wachstumsverzögerungen und kognitive Beeinträchtigungen zu verhindern.

Ätiologie (Ursachen)

Biographische Ursachen

  • Genetische Belastung durch Eltern, Großeltern (→ Auswirkung in den ersten beiden Jahren: Baby von kleineren Eltern fallen scheinbar aus den Normbereich heraus)
    • Genetische Erkrankungen
      • (Lippen-)(Kiefer-)Gaumenspalte – genetische Erkrankung, die meist sporadisch auftritt
      • Mikrognathie – genetische Erkrankung, die meist sporadisch auftritt; Fehlbildungen des Gesichtsschädels, die durch eine Hypoplasie des Ober- oder Unterkiefers gekennzeichnet sind
      • Mikrozephalus (Kopf, der eine vergleichsweise geringe Größe aufweist; Kopfumfang ist hierbei drei Standardabweichungen geringer als der Mittelwert für einen Menschen gleichen Alters und Geschlecht) – Schädelfehlbildung, die sowohl sporadisch auftritt als auch einen autosomal-rezessiven Erbgang aufweisen kann
      • Prader-Willi-Syndrom (PWS; Synonyme: Prader-Labhard-Willi-Fanconi-Syndrom, Urban-Syndrom und Urban-Rogers-Meyer-Syndrom) – genetische Erkrankung mit autosomal-dominantem Erbgang, die bei ca. 1 : 10.000 bis 1 : 20.000 Geburten auftritt; charakteristisch sind u. a. ein ausgeprägtes Übergewicht bei fehlendem Sättigungsgefühl, Minderwuchs und Intelligenzminderung; im Laufe des Lebens treten bedingt durch das Übergewicht Erkrankungen wie z. B. Diabetes mellitus Typ 2 auf
      • Pylorusstenose (Magenpförtnerverengung) – genetische Erkrankung mit meist autosomal-rezessivem Erbgang
      • Trisomie 21 (Down-Syndrom) – spezielle Genommutation beim Menschen, bei der das gesamte 21. Chromosom oder Teile davon dreifach (Trisomie) vorliegen. Neben für dieses Syndrom als typisch geltenden körperlichen Merkmalen sind in der Regel die kognitiven Fähigkeiten des betroffenen Menschen beeinträchtigt; des Weiteren liegt ein erhöhtes Risiko für eine Leukämie vor.
      • Turner-Syndrom (Synonyme: Ullrich-Turner-Syndrom, UTS) – genetische Erkrankung, die meist sporadisch auftritt; Mädchen/Frauen mit dieser Besonderheit haben lediglich ein funktionsfähiges X-Chromosom statt der üblichen zwei (Monosomie X); u. a. mit Anlagestörung der Aortenklappe (33 % dieser Patienten haben ein Aneurysma/krankhafte Aussackung einer Arterie); sie ist die einzige lebensfähige Monosomie beim Menschen und kommt ungefähr einmal bei 2.500 weiblichen Neugeborenen vor.

Verhaltensbedingte Ursachen

  • Ernährung
    • Mangel an Nährstoffen (inadäquate oder unangemessene Ernährung)
    • Mikronährstoffmangel (Vitalstoffe) 
  • Genussmittelkonsum in der Schwangerschaft
    • Alkohol
    • Tabak (Rauchen)
  • Drogenkonsum während der Schwangerschaft
    • Amphetamine (indirektes Sympathomimetikum)
    • Kokain
  • Körperliche Aktivität
    • Extremer Leistungssport in der Schwangerschaft
  • Psycho-soziale Situation
    • Emotionale Vernachlässigung
    • Körperliche Vernachlässigung
  • Aufnahme von folgenden Substanzen während der Schwangerschaft
    • Medikamente, nicht näher bezeichnet

Krankheitsbedingte Ursachen

Atmungssystem (J00-J99)

  • Schwere Form des Asthma bronchiale

Blut, blutbildende Organe – Immunsystem (D50-D90)

  • Immundefekte, nicht näher bezeichnet

Endokrine, Ernährungs- und Stoffwechselkrankheiten (E00-E90)

  • Angeborene Stoffwechselstörungen, nicht näher bezeichnet
  • Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit)
  • Erbrechen (häufig gastroösophagealer Reflux; eher selten: Pylorusstenose/Verengung im Bereich des Magenausganges (Pylorus))
  • Hypogonadismus (Keimdrüsenunterfunktion)
  • Hyperthyreose (Schilddrüsenüberfunktion)
  • Hypothyreose (Schilddrüsenunterfunktion)
  • Insuffizienz des Hypothalamus/der Hypophyse (Hirnanhangsdrüse)
  • Kwashiorkor ‒ Zustand der Mangelernährung bei Kleinkindern, die überwiegend in den Entwicklungsländern vorkommt
  • Lactoseintoleranz (Milchzuckerunverträglichkeit)
  • Marasmus ‒ Form der Mangelernährung
  • Milcheiweißintoleranz
  • Morbus Addison (Nebenniereninsuffizienz)
  • Mukoviszidose (Zystische Fibrose, ZF) ‒ genetische Erkrankung mit autosomal-rezessivem Erbgang, die durch die Produktion von zu zähmen Sekret in verschiedenen Organen gekennzeichnet ist.

Herzkreislaufsystem (I00-I99)

  • Hypotonie ‒ zu niedriger Blutdruck
  • Schwerwiegende Herzerkrankungen, nicht näher bezeichnet

Infektiöse und parasitäre Krankheiten (A00-B99)

  • Chronische Infektionen, nicht näher bezeichnet
  • Häufige Virusinfektionen, nicht näher bezeichnet
  • HIV-Infektion (kongenital)
  • Lambliasis (Durchfallerkrankung, die durch den Parasiten Giardia lamblia ausgelöst wird)
  • Parasiten-Befall, nicht näher bezeichnet
  • Rezidivierende Infektionen, nicht näher bezeichnet (z. B. Harnwegsinfekt (HWI), Gastroenteritis/Magen-Darm-Grippe)
  • Tuberkulose

Leber, Gallenblase und Gallenwege – Pankreas (Bauchspeicheldrüse) (K70-K77; K80-K87)

  • Schwerwiegende Lebererkrankungen, nicht näher bezeichnet

Mund, Ösophagus (Speiseröhre), Magen und Darm (K00-K67; K90-K93)

  • Chronisch-entzündliche Darmerkrankungen (CED) wie Morbus Crohn oder Colitis ulcerosa
  • Gastroösophagealer Reflux (GÖR-Erkrankung) ‒ Rückfluss von Magensaft aus dem Magen in die Speiseröhre
  • Häufige/chronische Gastroenteritis 
  • Malabsorption
  • Mikrognathie ‒ zu kleiner Oberkiefer
  • Transportstörungen des Ösophagus
  • Zöliakie (gluteninduzierte Enteropathie) – chronische Erkrankung der Dünndarmmukosa (Dünndarmschleimhaut), die auf einer Überempfindlichkeit gegen das Getreideeiweiß Gluten beruht

Neubildungen – Tumorerkrankungen (C00-D48)

  • Bösartige Neubildungen, nicht näher bezeichnet
  • Phäochromozytom ‒ meist gutartiger Tumor, der überwiegend von der Nebenniere ausgeht und zu krisenhaften Blutdruckanstiegen führt
  • Tumoren des zentralen Nervensystems, nicht näher bezeichnet 

Psyche – Nervensystem (F00-F99; G00-G99)

  • ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung)
  • Alkoholabhängigkeit (Alkoholabusus)
  • Anorexia nervosa (Magersucht)
  • Bulimia nervosa (Ess-Brech-Sucht)
  • Depression
  • Drogen-Abhängigkeit
  • Dysphagie (Schluckstörungen)
  • Infantile Zerebralparese (Cerebralparese; von lat. cerebrum „Gehirn“ und griech. parese „Lähmung“; cerebrale Bewegungstörung) ‒ neurologische Störung, deren ursächliche Schädigung des zentralen Nervensystems vor, während oder unmittelbar nach der Geburt auftritt
  • Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom ‒ Form des Münchhausen-Syndroms, bei der anstelle des Erwachsenen dessen Kinder unter Vortäuschung von Symptomen häufig ärztlichen Untersuchungen zugeführt werden; typisch sind häufige Arztbesuche und Untersuchungen ohne Ergebnis und das Wechseln der "Symptome".
  • Schizophrenie

Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett (O00-O99)

  • Frühgeburt
  • Infektionen der Mutter während der Schwangerschaft
  • Intrauterine Wachstumsverzögerung

Symptome und abnorme klinische und Laborbefunde, die anderenorts nicht klassifiziert sind (R00-R99)

  • Anorexie (Appetitlosigkeit)
  • Chronische Diarrhoe (Durchfall), u. a. bei Immundefekten
  • Chronisches Erbrechen
  • Dyspnoe (Kurzatmigkeit) aufgrund von Herz- und Lungenerkrankungen

Urogenitalsystem (Nieren, Harnwege – Geschlechtsorgane) (N00-N99)

  • Häufige/chronische Harnwegsinfektionen (HWI)
  • Schwerwiegende Nierenerkrankungen, nicht näher bezeichnet

Weitere Ursachen

  • Kindesmisshandlung
  • Physiologisch ‒ drei Prozent der gesunden Kinder liegen mit ihrem Gewicht/ihrer Größe unterhalb der dritten Perzentile

Medikamente

  • Medikamente, die bei ADHS eingesetzt werden
  • Zytostatika ‒ Medikamente, die bei der Chemotherapie bei bösartigen Neubildungen eingesetzt werden