Verzögerte Pubertät (Pubertas tarda) – Ursachen

Pathogenese (Krankheitsentstehung)

Die verzögerte Pubertät oder Pubertas tarda entsteht durch eine Störung der zeitgerechten Aktivierung des hypothalamischen Gonadotropin-Releasing-Hormon-Pulsgenerators (GnRH), was die Ausschüttung der Gonadotropine FSH (follikelstimulierendes Hormon) und LH (luteinisierendes Hormon) beeinträchtigt. Diese Störung kann auf zentraler (hypothalamisch/hypophysärer) oder peripherer (gonadaler) Ebene erfolgen.

Primäre pathophysiologische Mechanismen

  • Zentralbedingte Pubertas tarda (hypogonadotroper Hypogonadismus):
    • Bei dieser Form ist die Ursache der verzögerten Pubertät in einer Störung auf der Ebene des Hypothalamus oder der Hypophyse zu finden. Es kommt zu einer unzureichenden Produktion oder Freisetzung von Gonadotropin-Releasing-Hormon (GnRH), was zu einer unzureichenden Sekretion der Gonadotropine FSH und LH führt.
    • Die Folge ist eine verminderte Stimulation der Gonaden (Eierstöcke bei Mädchen, Hoden bei Jungen) durch die Gonadotropine, was die sexuelle Reifung und Entwicklung verzögert.
    • Ursachen für einen hypogonadotropen Hypogonadismus sind:
      • Kongenitale (angeborene) Störungen wie das Kallmann-Syndrom, das durch GnRH-Mangel und fehlenden Geruchssinn (Anosmie) gekennzeichnet ist.
      • Erworbene Störungen wie Hypophysentumoren, Infektionen oder entzündliche Erkrankungen des Zentralnervensystems, die die hypophysäre Funktion beeinträchtigen.
  • Primäre Pubertas tarda (hypergonadotroper Hypogonadismus):
    • Diese Form der Pubertas tarda resultiert aus einer primären Funktionsstörung der Gonaden selbst, die auf eine unzureichende Reaktion auf Gonadotropine (FSH und LH) zurückzuführen ist, obwohl diese in ausreichender Menge vorhanden sind.
    • Da die Gonaden aufgrund einer genetischen oder strukturellen Schädigung nicht auf die Gonadotropine ansprechen, erhöht der Hypothalamus die Ausschüttung von FSH und LH (Hypergonadotropismus) in einem erfolglosen Versuch, die Gonadenfunktion zu stimulieren.
    • Ursachen für den hypergonadotropen Hypogonadismus sind:
      • Klinefelter-Syndrom bei Jungen: Eine zusätzliche X-Chromosomen-Anomalie (47,XXY) führt zu einer Unterfunktion der Hoden.
      • Turner-Syndrom bei Mädchen: Das Fehlen eines zweiten X-Chromosoms (45,X0) beeinträchtigt die Eierstockfunktion.
      • Gonadendysgenesie (fehlende oder unvollständig entwickelte Gonaden), die durch genetische Anomalien verursacht werden kann.

Sekundäre pathophysiologische Mechanismen

  • Gestörte Sekretion und Wirkung von Sexualhormonen: Die unzureichende Produktion von GnRH und nachfolgendem FSH und LH führt zu einem Mangel an Östrogenen bei Mädchen und Testosteron bei Jungen, was die Ausbildung der sekundären Geschlechtsmerkmale wie Körperbehaarung, Brustentwicklung und Hodenvergrößerung beeinträchtigt.
  • Beeinträchtigung des Knochenwachstums und der Skelettreife: Da Sexualhormone auch eine Rolle im Knochenwachstum und in der Knochenreifung spielen, kann eine verzögerte Pubertät zu einer verzögerten Skelettreifung und einer verminderten Knochendichte führen.

Klinische Manifestation

Leitsymptome

  • Ausbleiben oder Verzögerung der pubertären Entwicklung:
    • Keine Brustentwicklung bei Mädchen bis zum Alter von 13 Jahren.
    • Fehlende Hodenvergrößerung bei Jungen bis zum Alter von 14 Jahren.
  • Keine sekundären Geschlechtsmerkmale wie Scham- und Achselbehaarung.

Fortgeschrittene Symptome

  • Verzögertes Längenwachstum mit möglicher Hochwuchsprognose bei verspätetem Pubertätsbeginn.
  • Verminderte Knochendichte, erhöhtes Risiko für Osteoporose (Knochenschwund) bei lang anhaltendem Hormonmangel.

Risikofaktoren

  • Genetische Erkrankungen wie Klinefelter-Syndrom und Turner-Syndrom.
  • Familiäre Disposition zu hormonellen Entwicklungsstörungen.
  • Hypothalamische oder hypophysäre Anomalien durch erworbene Erkrankungen oder Tumoren.

Zusammenfassung und klinische Relevanz

Die verzögerte Pubertät ist eine komplexe endokrinologische Störung, die auf einer unzureichenden Aktivierung der hypothalamisch-hypophysären Achse oder einer primären Funktionsstörung der Gonaden beruht. Die resultierende Hormoninsuffizienz führt zu einer verzögerten Entwicklung der sekundären Geschlechtsmerkmale und einem beeinträchtigten Knochenwachstum. Die frühzeitige Erkennung und Unterscheidung zwischen zentraler und primärer Ursache ist entscheidend für die Einleitung einer angemessenen Therapie zur Förderung der Pubertätsentwicklung und zur Verbesserung der langfristigen Knochengesundheit und Lebensqualität der Betroffenen.

Ätiologie (Ursachen)

Angeborene Fehlbildungen, Deformitäten und Chromosomenanomalien (Q00-Q99)

  • Dysgenesie (Fehlbildung/Fehlentwicklung)***, nicht näher bezeichnet
  • Gonadendysgenesie*** ‒ Fehlbildung/Fehlentwicklung der Keimdrüsen
  • Klinefelter-Syndrom* – genetische Erkrankung mit meist sporadischem Erbgang: numerische Chromosomenaberration (Aneuploidie) der Geschlechtschromosomen (Gonosomen-Anomalie), die nur bei Jungen bzw. Männern auftritt; in der Mehrzahl der Fälle durch ein überzähliges X-Chromosom (47, XXY) gekennzeichnet; klinisches Bild: Großwuchs und Hodenhypoplasie (kleiner Hoden), bedingt durch einen hypogonadotropen Hypogonadismus (Keimdrüsenunterfunktion); hier meist spontaner Pubertätsbeginn, jedoch schlechter Pubertätsfortschritt 
  • Maldescensus testis* ‒ Lage des Hodens außerhalb des Hodensacks
  • Noonan-Syndrom** – genetische Erkrankung mit autosomal-rezessivem oder autosomal-dominantem Erbgang, die den Symptomen des Turner-Syndroms ähnelt (Minderwuchs, Pulmonalstenose oder andere angeborene Herzfehler; niedrig sitzende oder große Ohren, Ptosis (Herabhängen des oberen Augenlids), Epikanthusfalte ("Mongolenfalte"), Cubitus valgus/abnormale Stellung des Ellenbogens mit vermehrter Radialabweichung des Unterarmes zum Oberarm)
  • Turner-Syndrom (Synonyme: Ullrich-Turner-Syndrom, UTS)** – genetische Erkrankung, die meist sporadisch auftritt; Mädchen/Frauen mit dieser Besonderheit haben lediglich ein funktionsfähiges X-Chromosom statt der üblichen zwei (Monosomie X); u. a. mit Anlagestörung der Aortenklappe (33 % dieser Patienten haben ein Aneurysma/krankhafte Aussackung einer Arterie); sie ist die einzige lebensfähige Monosomie beim Menschen und kommt ungefähr einmal bei 2.500 weiblichen Neugeborenen vor.

Endokrine, Ernährungs- und Stoffwechselkrankheiten (E00-E90)

  • Adrenogenitales Syndrom (AGS)*** ‒ autosomal-rezessiv vererbbare Stoffwechselkrankheit, die durch Störungen der Hormonsynthese in der Nebennierenrinde gekennzeichnet sind
  • Diabetes mellitus*** (Zuckerkrankheit)
  • Hyperprolaktinämie*** ‒ zu hoher Prolaktinspiegel im Blut
  • Hypothyreose*** (Schilddrüsenunterfunktion) bei autoimmuner Genese
  • Hyperthyreose (Schilddrüsenüberfunktion)
  • Kallmann-Syndrom (Synonym: olfaktogenitales Syndrom)*** – genetische Erkrankung, die sowohl sporadisch auftreten, als auch autosomal-dominant, autosomal-rezessiv und X-chromosomal-rezessiv vererbt werden kann; Symptomkomplex aus Hypo- bzw. Anosmie (verminderter bis fehlender Geruchssinn) in Verbindung mit Hoden- bzw. Ovarialhypoplasie (mangelhafte Entwicklung des Hodens bzw. der Eierstöcke); Prävalenz (Krankheitshäufigkeit) bei Männern 1 : 10.000 und bei Frauen 1 : 50.000
  • Mangel an Wachstumshormon (Synonyme: Somatotropes Hormon (STH), Growth Hormone Abkürzungen: STH, GH, HGH; engl.: growth hormone, human growth hormone)***, nicht näher bezeichnet
  • Morbus Cushing*** – Gruppe von Erkrankungen, die zum Hyperkortisolismus (Hypercortisolismus; Überangebot von Cortisol) führen
  • Mukoviszidose (Zystische Fibrose, ZF)*** ‒ genetische Erkrankung mit autosomal-rezessivem Erbgang, die durch die Produktion von zu zähmen Sekret in verschiedenen Organen gekennzeichnet ist. ‒ genetische Erkrankung mit autosomal-rezessivem Erbgang, die zu einer Erhöhung der Viskosität von Körpersekreten führt; durch den zähflüssigen Schleim in den Bronchien kommt es zu chronischem Husten, Bronchiektasien, häufig rezidivierenden (wiederkehrenden) Lungeninfekten und schweren Pneumonien (Lungenentzündungen)

Infektiöse und parasitäre Krankheiten (A00-B99)

  • Infektionen***, nicht näher bezeichnet

Mund, Ösophagus (Speiseröhre), Magen und Darm (K00-K67; K90-K93)

  • Zöliakie*** (gluteninduzierte Enteropathie) – chronische Erkrankung der Dünndarmmukosa (Dünndarmschleimhaut), die auf einer Überempfindlichkeit gegen das Getreideeiweiß Gluten beruht

Muskel-Skelett-System und Bindegewebe (M00-M99)

  • Autoimmunerkrankungen***, nicht näher bezeichnet

Psyche – Nervensystem (F00-F99; G00-G99)

  • Anorexia nervosa (Magersucht)
  • Hypothalamische/hypophysäre Granulome*** ‒ knötchenartige Veränderungen im Bereich von Hypothalamus bzw. Hypophyse (Hirnanhangsdrüse)

Urogenitalsystem (Nieren, Harnwege – Geschlechtsorgane) (N00-N99)

  • Mumps-Oophoritis** (Eierstockentzündung durch Mumps)
  • Mumps-Orchitis* (Hodenentzündung durch Mumps)
  • Nierenversagen, nicht näher bezeichnet***

Verletzungen, Vergiftungen und andere Folgen äußerer Ursachen (S00-T98)

  • Verletzungen, nicht näher bezeichnet***

Weitere Ursachen

  • Chronische Erkrankungen, nicht näher bezeichnet*** (z. B. Morbus Crohn)
  • Konstitutionelle Pubertas tarda*** (konstitutionelle Verzögerung von Wachstum und Pubertät (KVWP)) – verzögerte Pubertätsentwicklung ist eine Normvariante: perzentilenparalleles Wachstum (häufig auf einer Perzentile unterhalb der errechneten Zielgröße), familiäre Neigung zu späten Pubertätsbeginn, retardiertes Knochenalter 
    • bis zu 50 % der Fälle bei Jungen
    • circa 16 % der Fälle bei Mädchen
  • Radiatio (Strahlentherapie)***

Medikamente

  • Androgene**
  • Anabole Steroide**
  • Chemotherapeutika***
  • Thyroxin (Schilddrüsenhormon)***

*Jungen
**Mädchen

***Beide Geschlechter