Diabetische Polyneuropathie – Ursachen
Pathogenese (Krankheitsentstehung)
Die Pathophysiologie der diabetischen Polyneuropathie (DPN), einer häufigen Komplikation des Diabetes mellitus, ist komplex und noch nicht vollständig geklärt. Es gibt jedoch eine Vielzahl von Mechanismen, die als bewiesen gelten und zur Schädigung der Nerven führen. Zu den Hauptursachen zählen metabolische und vaskuläre Veränderungen, die durch den chronisch erhöhten Blutzuckerspiegel (Hyperglykämie) bedingt sind.
Mikroangiopathie und metabolische Schädigung
Eine Mikroangiopathie der Vasa nervorum, der kleinen Blutgefäße, die die Nerven versorgen, führt zu einer verminderten Blutversorgung und damit zu einem Sauerstoffmangel (Hypoxie) im Nervengewebe. Dies beeinträchtigt die Funktion und Regeneration der Nerven. Ferner entstehen beim gestörten Glucose-Stoffwechsel toxische Nebenprodukte wie Sorbit und Fructose, die in den Nerven akkumulieren und eine direkte toxische Wirkung auf die Neuronen haben. Diese Stoffwechselprodukte sowie reaktive Sauerstoffspezies (Sauerstoffradikale) führen zu einer oxidativen Schädigung der Nerven [1].
Inflammatorische Prozesse und AGE
Zusätzlich spielen entzündliche Prozesse eine zentrale Rolle bei der Pathogenese der diabetischen Neuropathie. Chronische Hyperglykämie führt zur Bildung von advanced glycation end-products (AGE), die durch oxidative Mechanismen Gewebe- und Nervenschäden verursachen. Dies induziert einen oxidativen Stress, der DNA-Schäden, Zellnekrosen (Zelltod) und eine Störung der Mitochondrienfunktion hervorruft. AGE tragen zur Progression der Nervenfunktionsstörung bei und sind in den Nervenzellen toxisch.
Dysfunktion der Schwann-Zellen
Die Schwann-Zellen, die die Myelinscheide der peripheren Nerven bilden und für deren Regeneration verantwortlich sind, zeigen ebenfalls eine dysfunktionale Interaktion. Die Schädigung der Schwann-Zellen führt zu einer Demyelinisierung (Entmarkung) der Nervenfasern und zu einem Verlust der Nervenleitungsgeschwindigkeit. Dies führt zu den typischen Symptomen der diabetischen Polyneuropathie, wie sensorische Defizite und motorische Einschränkungen.
Typen der diabetischen Polyneuropathie
- Periphere sensomotorische diabetische Polyneuropathie (DSPN): Dies ist die häufigste Form der diabetischen Neuropathie. Sie manifestiert sich distal und symmetrisch, betrifft also vor allem Hände und Füße (distal-symmetrische Polyneuropathie). Typische Symptome sind Parästhesien (Missempfindungen), neurogene Schmerzen sowie eine Verminderung des Berührungs-, Schmerz- und Temperaturempfindens. Reflexe, wie der Achillessehnenreflex (ASR), sind oft abgeschwächt oder fehlen. Im Spätstadium kann es zu Lähmungen kommen.
- Autonome diabetische Neuropathie (ADN): Diese Form betrifft das autonome Nervensystem und manifestiert sich in verschiedenen Organen:
- Kardiovaskuläre autonome diabetische Neuropathie (KADN): Symptome umfassen Tachykardie (beschleunigter Puls auf über 100 Schläge pro Minute), orthostatische Hypotonie (exzessiver Blutdruckabfall, wenn eine aufrechte Körperhaltung eingenommen wird) und eine fehlende respiratorische Variabilität der Herzfrequenz.
- Gastrointestinale autonome Neuropathie: Manifestiert sich in Gastroparese (verzögerte Magenentleerung) und diabetischer Diarrhoe (Durchfall).
- Urogenitale autonome Neuropathie: Symptome sind Blasenatonie (Blasenlähmung), Miktionsstörungen (Störungen des Wasserlassens) und erektile Dysfunktion (ED).
- Neuroendokrine Dysfunktion: Es kommt zu einer gestörten Katecholaminausschüttung und einer fehlenden Gegenregulation bei Hypoglykämie.
- Gestörte Pupillenreflexe und eine Abnahme der Schweißsekretion führen zu trockenen Füßen.
- Fokale Neuropathie: Diese Form umfasst Ausfälle einzelner peripherer und radikulärer Nerven, die meist durch Infarkte der Vasa nervorum verursacht werden. Dies führt zu Hirnnervenparesen/Hirnnervenlähmungen (meistens III, IV und VII), zur diabetischen Amyotrophie (lumbosakrale Plexopathie) und zu Mononeuritis multiplex (sensorische und motorische Defizite in mehreren peripheren Nerven).
ZNS-Beteiligung und strukturelle Veränderungen
Es konnte nachgewiesen werden, dass die diabetische Polyneuropathie nicht nur die peripheren Nerven betrifft, sondern auch das zentrale Nervensystem (ZNS). Bildgebende Verfahren zeigen umschriebene Atrophien (Gewebeschwund) im Rückenmark, und mittels MR-Spektroskopie wurden neuronale Dysfunktionen im Thalamus nachgewiesen [2]. Diese zentralnervösen Veränderungen tragen möglicherweise zur Schmerzsymptomatik und zu weiteren neurokognitiven Einschränkungen bei.
Zusammenfassung
Die Pathogenese der diabetischen Polyneuropathie ist vielschichtig und beinhaltet mikrovaskuläre Schäden, metabolische Toxizität, oxidativen Stress und entzündliche Prozesse. Diese führen zu einer Schädigung der Nerven durch Demyelinisierung und Degeneration. Die Erkrankung manifestiert sich als distal-symmetrische Polyneuropathie, autonome Neuropathie oder fokale Neuropathie. Neuere Untersuchungen belegen, dass auch das ZNS durch strukturelle und funktionelle Veränderungen betroffen sein kann, was das klinische Bild der diabetischen Neuropathie weiter verschärft.
Ätiologie (Ursachen)
Biographische Ursachen
- Lebensalter – mit zunehmendem Alter
Verhaltensbedingte Ursachen
- Ernährung
- Mikronährstoffmangel (Vitalstoffe) – siehe Prävention mit Mikronährstoffen
- Genussmittelkonsum
- Alkohol
- Tabak (Rauchen); mäßig ausgeprägte Assoziation zwischen Rauchen und einer diabetischen peripheren Neuropathie (DPN) [3]
- Körperliche Aktivität
- Mangelnde körperliche Aktivität
- Androide Körperfettverteilung, das heißt abdominales/viszerales, stammbetontes, zentrales Körperfett (Apfeltyp) – es liegt ein hoher Taillenumfang bzw. ein erhöhter Taille-Hüft-Quotient (THQ; englisch: waist-to-hip-ratio (WHR)) vor; vermehrtes Bauchfett wirkt stark atherogen und fördert inflammatorische Prozesse ("Entzündungsprozesse")
Bei der Messung des Taillenumfangs gemäß der Richtlinie der International Diabetes Federation (IDF, 2005) gelten folgende Normwerte:
- Männer < 94 cm
- Frauen < 80 cm
Krankheitsbedingte Ursachen, inkl. Risikofaktoren und Komorbiditäten (Begleiterkrankungen) für die Entwicklung einer diabetischen Polyneuropathie [mod. nach 4]
- Diabetes mellitus (lange Dauer, schlechte Einstellung (Hyperglykämie/Unterzuckerung); ggf. schon Vorliegen einer Retino- und Nephropathie)
- Arterielle Hypertonie (Bluthochdruck)
- Depression
- Dyslipidämie/Hyperlipidämie (Fettstoffwechselstörung)
- Mediasklerose (von Mönckeberg) oder Mediakalzinose (Verkalkung der mittleren Wandschicht (Tunica media) der Extremitätenarterien)
- Periphere arterielle Verschlusskrankheit (pAVK; fortschreitende Stenosierung (Verengung) bzw. Okklusion (Verschluss) der die Arme/ (häufiger) Beine versorgenden Arterien, meist aufgrund einer Atherosklerose (Arteriosklerose, Arterienverkalkung))
Labordiagnosen – Laborparameter, die als unabhängige Risikofaktoren gelten
- Hyperglykämie (Überzuckerung wg. schlechter Einstellung des Glucose-Serumspiegels (Blutzuckerwerte))
Weiteres
- Therapieinduzierte Neuropathie durch übermäßig rasche Korrektur des HbA1c-Wertes/Blutzuckerlangzeitwert (d. h. um > 2 % während dreier Monate); dadurch können vermehrt neuropathische Schmerzen sowie Symptome einer autonome Neuropathie auftreten [5].
Literatur
- Hilz MJ, Martho H, Neundörfer B: Diabetische somatische Polyneuropathie. Pathogenese, klinische Manifestationsformen und Therapie-Konzepte. Fortschr Neurol Psychiatr 2000; 68(6): 278-288. doi: 10.1055/s-2000-11535
- Selvarajah D et al.: Magnetic Resonance Neuroimaging Study of Brain Structural Differences in Diabetic Peripheral Neuropathy. Diabetes Care. 2014 Jun;37(6):1681-8. doi: 10.2337/dc13-2610
- Clair C et al.: The Effect of Cigarette Smoking on Diabetic Peripheral Neuropathy: A Systematic Review and Meta-Analysis. J Gen Intern Med, online 7. Mai 2015; doi: 10.1007/s11606-015-3354-y
- Papanas N, Ziegler D: Risk factors and comorbidities in diabetic neuropathy: an update 2015 Spring-Summer;12(1-2):48-62. doi: 10.1900/RDS.2015.12.48. Epub 2015 Aug 10.
- Stainforth-Dubois M et al.: Treatment-induced neuropathy of diabetes related to abrupt glycemic control. CMAJ 2021;193:E1085-88. https://doi.org/10.1503/cmaj.202091