Diabetes mellitus Typ 2 – Anamnese

Die Anamnese (Krankengeschichte) stellt einen wichtigen Baustein in der Diagnostik des Diabetes mellitus Typ 2 dar.

Familienanamnese

  • Gibt es in Ihrer Familie häufig vorkommende Erkrankungen wie:
    • Übergewicht
    • Bluthochdruck
    • Diabetes mellitus (insbesondere Typ 2)
    • Fettstoffwechselstörungen
    • Herzinfarkt oder Schlaganfall (insbesondere in jungem Alter)
    • Frühe Sterblichkeit
    • Amputationen infolge von Gefäß- oder Stoffwechselerkrankungen?
  • Gibt es in Ihrer Familie Erbkrankheiten?

Soziale Anamnese

  • Welchen Beruf üben Sie aus? Ist dieser mit Bewegungsmangel verbunden?
  • Gibt es Hinweise auf psychosoziale Belastungen wie Stress oder familiäre Konflikte?
  • Wie gestalten Sie Ihre Freizeit?
    • Haben Sie regelmäßige körperliche Aktivität?
    • Wie viel Zeit verbringen Sie sitzend (z. B. Bildschirmzeit)?

Aktuelle Anamnese/Systemanamnese (somatische und psychische Beschwerden)

  • Haben Sie in letzter Zeit vermehrt Durst verspürt? Wie viel trinken Sie täglich?
  • Müssen Sie häufiger Wasserlassen als gewöhnlich? Wenn ja, wie oft auch nachts (Nykturie)?
  • Fühlen Sie sich oft müde oder erschöpft, ohne erkennbaren Grund?
  • Haben Sie ungeklärte Sehstörungen bemerkt, wie verschwommenes Sehen?
  • Sind Ihnen Hautveränderungen aufgefallen, z. B.:
    • Furunkel (Entzündung mehrerer Haarfollikel)?
    • Juckreiz?
    • Verzögerte Wundheilung?
  • Haben Sie an Gewicht verloren oder zugenommen, ohne Änderungen in der Ernährung oder Aktivität?
  • Leiden Sie unter wiederkehrenden Infektionen, z. B.:
    • Harnwegsinfekte?
    • Pilzinfektionen (vaginal oder an der Haut)?
  • Fühlen Sie sich häufiger gereizt oder emotional belastet?
  • Treten Konzentrationsstörungen oder Stimmungsschwankungen auf?
  • Haben Sie Taubheitsgefühle oder Kribbeln in den Händen oder Füßen bemerkt?

Vegetative Anamnese inkl. Ernährungsanamnese

  • Sind Sie übergewichtig? Bitte teilen Sie uns Ihr Körpergewicht (in kg) und Ihre Körpergröße (in cm) mit.
  • Hat sich Ihr Appetit verändert?
  • Ernähren Sie sich ausgewogen?
    • Wie häufig konsumieren Sie zuckerhaltige oder stark verarbeitete Lebensmittel?
    • Essen Sie häufig frittierte oder fettreiche Speisen?
  • Rauchen Sie? Wenn ja, wie viele Zigaretten, Zigarren oder Pfeifen pro Tag?
  • Trinken Sie Alkohol? Wenn ja, welche Getränke und wie oft?
  • Nehmen Sie Drogen? Wenn ja, welche Substanzen und in welcher Häufigkeit?

Eigenanamnese inkl. Medikamentenanamnese

  • Vorerkrankungen:
    • Bestehen bekannte Stoffwechselerkrankungen wie:
      • Fettstoffwechselstörungen
      • Bluthochdruck (Hypertonie)?
    • Haben Sie erektile Dysfunktion (Erektionsstörungen) oder andere sexuelle Funktionsstörungen festgestellt?
    • Besteht eine Herzerkrankung oder eine bekannte Gefäßerkrankung (z. B. Arteriosklerose/Arterienverkalkung))?
    • Leiden Sie unter anderen chronischen Erkrankungen wie:
      • Nierenprobleme (z. B. Mikroalbuminurie/Ausscheidung erhöhter Mengen von Albumin im Urin)?
      • Polyneuropathie (Nervenschäden)?
  • Schwangerschaftsanamnese:
    • Haben Sie in der Vergangenheit Kinder mit einem Geburtsgewicht über 4.000 g zur Welt gebracht?
  • Medikamenteneinnahme:
    • Nehmen Sie Medikamente ein, die den Zuckerstoffwechsel beeinflussen könnten (z. B. Kortikosteroide, Beta-Blocker, Antipsychotika, Thiaziddiuretika)?
    • Gab es in der Vergangenheit Therapien mit Insulin oder oralen Antidiabetika?

Medikamentenanamnese (mit potentiell diabetogener Wirkung)

  • 5-Alpha-Reduktasehemmer (Dutasterid, Finasterid) [7]
  • Alloxan
  • Alphablocker, zentralwirksame
  • Antiarrhythmika
  • Antibiotika
    • Gyrasehemmer (der 1. Generation) – Nalidixinsäure
    • Rifampicin
  • Antidepressiva**
    • trizyklische Antidepressiva [Insulinresistenz ↑, Gewichtszunahme]
  • Antiepileptika
    • Phenytoin
  • Antihypertensiva
    • Imidazoline (Clonidin)
  • Antiprotozoika (Pentamidin*, Pentacarinat) [betazelltoxische Effekte]
  • Antipsychotika (Neuroleptika)** [Insulinresistenz ↑, Gewichtszunahme]
    • Atypische Antipsychotika (Neuroleptika) – Olanzapin, Risperidon [Blutglucose↑]; insb. bei Minderjährigen und jungen Erwachsenen [5]
  • Antiretrovirale Therapeutika
    • Protease-Inhibitoren (Atazanavir, Fosamprenavir, Indinavir, Lopinavir, Nelfinavir, Ritonavir, Saquinavir) → Glukoseintoleranz
  • Arsentrioxid
  • Benzothiadiazin-Derivate (z. B. Diazoxid) und -Analoga** [→ Kaliumverluste → Insulinsekretion ↓; Effekt ist zeitverzögert, meist Wochen bis Monate nach Therapie)
  • Betablocker** [Zunahme der Insulinresistenz als Folge der Gewichtszunahme; Hemmung der Insulinsekretion aus der Betazelle und/oder verringerte Muskeldurchblutung]
    • Nicht selektive Betablocker (z. B. Carvedilol, Propranolol, Soltalol) [Hemmung der Insulinausschüttung; stärker als die selektiven Betablocker]
    • Selektive Betablocker (z. B. Atenolol, Bisoprolol, Metoprolol)
  • Betamimetika (Synonyme: β2-Sympathomimetika, auch β2-Adrenozeptor-Agonisten) – Fenoterol, Formoterol, Hexoprenalin, Indaceterol, Olodaterol, Ritodrin, Salbutamol, Salmeterol, Terbutalin → Hyperglykämie
  • Chemotherapeutika/Immunsuppressiva
    • Cycosporin A
    • Sirolimus (Rapamycin)
    • Tacrolismus
  • Dilantin*
  • Diuretika (Risikoerhöhung ca. 23 %) [1]
    • Furosemid
    • Spironolacton
    • Thiazide (Thiaziddiuretika)* – Benzthiazid, Chlorothiazid, Hydroflumethiazid, Methyclothiazid, Polythiazid und Trichlormethiazid;
      Thiazidanaloga sind: Chlortalidon, Clopamid, Indapamid, Mefrusid, Meteolazon, Xipamid
  • H2-Antihistaminika (H2-Rezeptor-Antagonisten, H2-Antagonisten, Histamin-H2-Rezeptor-Antagonisten) – Cimetidin, Famotidin, Lafutidin, Nizatidin, Ranitidin, Roxatidin
  • Hormone und hormonell wirksame Substanzen
    • ACTH
    • Glukagon
    • Glucocorticoide* – Betamethason, Budesonid, Cortison, Fluticason, Prednisolon [Insulinresistenz ↑; veränderter zellulärer Glucosemetabolismus/Verstärkung der Insulinresistenz in Leber, Muskulatur und Fettgewebe]
    • Katecholamine
    • Prolaktin
    • Schilddrüsenhormone* – Thyroxin
    • Sexualsteroide
    • Tokolytika
    • Wachstumshormon* (WH; Somatropin; engl.: somatrophin) und Analoga
  • HIV-Therapie**
    • Nukleosid-Analogon (Didanosin) [Pankreatitis]
    • Proteasehemmer (Indinavir, Nelfinavir, Ritonavir etc.) [Insulinsekretion ↓, Insulinresistenz ↑; zentripetale Adipositas mit Hypertriglyzeridämie]
  • Indometacin
  • Immuncheckpoint-Inhibitoren (ICI) – fast ausschließlich PD-1- und PD-L1-Inhibitoren (kaum CTLA-4-Hemmer): 15 % erhöhtes Risiko, innerhalb kurzer Zeit an Diabetes mellitus zu erkranken; Männer waren signifikant häufiger betroffen als Frauen [10].
  • Immunsuppressiva** [Insulinsekretion↓]
  • Interferon-α* / Alpha-Interferon [Induktion organospezifischer Autoimmunerkrankung/Typ-1-Diabetes]
  • Lipidsenker (Risikoerhöhung ca. 32 %) [1]; Risikoerhöhung für Frauen in der Menopause (Hazard Ratio [HR] 1,71, 95 % KI, 1,61-1,83) [1]
    • HMG-CoA-Reduktasehemmer (Statine) – Atorvastatin, Cerivastatin, Fluvastatin, Lovastatin, Mevastatin, Pitavastatin, Pravastatin, Rosuvastatin, Simvastatin [3]
    • Weitere Studien belegen dieses: wurde für Alter, Sport, Rauchstatus, Alkoholkonsum, BMI, Hüftumfang, Betablocker- und Diuretikabehandlung sowie Familienanamnese adjustiert, war das Risiko immer noch um 46 % erhöhtes Risiko (HR 1,46 [95%-CI 1,22-1,74 [4]
    • Nach dem Beginn einer Statintherapie kommt es signifikant häufiger als nach Beginn einer Protonenpumpenhemmer-Therapie zur Eskalation einer Diabetes-Therapie und zugleich einer schlechten Diabeteskontrolle [8].
    • Fazit: Statine können die Wirksamkeit des körpereigenen Insulins herabsetzen und den Blutzucker ansteigen lassen, sodass ein Diabetes mellitus unter Statinen schneller voranschreitet.
  • Morphin
  • mTOR-Inhibitoren (Everolimus, Temsirolimus)
  • Nicotinsäure*
  • Protonenpumpenhemmer (Protonenpumpeninhibitoren, PPI; Säureblocker) – bei längerfristiger Einnahme über mehr als zwei Jahre zeigte sich ein signifikant erhöhtes Risiko für Diabetes mellitus Typ 2: 5 Prozent bei PPI-Einnahme bis zu zwei Jahre (HR 1,05) und 26 Prozent für Einnahme über mehr als zwei Jahre (HR 1,26) [12]
  • Psychoaktive Substanzen
    • Haloperidol
    • Imipramin
    • Lithium
    • Phenothiazid und Derivate
  • Streptozotocin [betazelltoxische Effekte]
  • Sympathomimetika
    • α-adrenerge Agonisten
    • β-adrenerge Agonisten
  • Theophyllin
  • Vacor* (Pyrinuron, Pyriminil; Rodentizid) [betazelltoxische Effekte]
  • Vasodilatatoren (Diazoxid)
  • Zytostatika
    • Alkylanzien (Cyclophosphamid)
    • L-Asparaginase

*Direkt diabetogen
**Indirekt diabetogen

Umweltanamnese

  • Waren Sie in der Vergangenheit Chemikalien oder Umweltgiften ausgesetzt, wie:
    • Bisphenol A (BPA), Bisphenol S (BPS) und Bisphenol F (BPF)?
    • Luftschadstoffe:
      • Feinstaub: Langfristige Feinstaubbelastung bei Kindern (pro 10,6 µg/m³ zusätzlichem Luftgehalt an Stickstoffdioxid (NO2) stieg die Häufigkeit der Insulinresistenz um 17 %. Für Feinstaub in der Luft (bis zu einem Durchmesser von 10 µm) kam es zu einem Anstieg der Insulinresistenz um 19 % pro 6 µg/m³.) [11]
    • Organische Phosphate in Insektiziden (z. B. Chlorpyrifos, Dichlorvos (DDVP)), Fenthion, Phoxim, Parathion (E 605) und seine Ethyl- und Methyl-Derivate sowie Bladan [6]?
    • Pestizide und andere chemische Schadstoffe?
  • Haben Sie wiederholt Lebensmittel konsumiert, die mit Pestiziden belastet sein könnten?

Unsere Empfehlung: Drucken Sie die Anamnese aus, markieren Sie alle mit „Ja“ beantworteten Fragen und nehmen Sie das Dokument mit zu Ihrem behandelnden Arzt.

Literatur

  1. Shen L et al.: Role of diuretics, betablockers, and statins in increasing the risk of diabetes in patients with impaired glucose tolerance: reanalysis of data from the NAVIGATOR study. BMJ. 2013 Dec 9;347:f6745. doi: 10.1136/bmj.f6745.
  2. Culver AL et al.: Statin Use and Risk of Diabetes Mellitus in Postmenopausal Women in the Women's Health Initiative. Arch Intern Med. 2012 Jan 23;172(2):144-52. doi: 10.1001/archinternmed.2011.625
  3. Swerdlow DI et al.: HMG-coenzyme A reductase inhibition, type 2 diabetes, and bodyweight: evidence from genetic analysis and randomised trials. Lancet. 2015 Jan 24;385(9965):351-61. doi:10.1016/S0140-6736(14)61183-1
  4. Cederberg H et al.: Increased risk of diabetes with statin treatment is associated with impaired insulin sensitivity and insulin secretion: a 6 year follow-up study of the METSIM cohort. Diabetologia. 2015 May;58(5):1109-17. doi: 10.1007/s00125-015-3528-5
  5. Galling B et al.: Type 2 Diabetes Mellitus in Youth Exposed to Antipsychotics. A Systematic Review and Meta-analysis. JAMA Psychiatry. 2016 Mar;73(3):247-59. doi:10.1001/jamapsychiatry.2015.2923
  6. Velmurugan G et al.: Gut microbial degradation of organophosphate insecticides-induces glucose intolerance via gluconeogenesis. Genome Biol. 2017 Jan 24;18(1):8. doi: 10.1186/s13059-016-1134-6
  7. Wei L et al.: Incidence of type 2 diabetes mellitus in men receiving steroid 5-α-reductase inhibitors: population based cohort study. BMJ 2019365 doi: https://doi.org/10.1136/bmj.l1204 (Published 10 April 2019)
  8. Mansi IA et al.: Association of Statin Therapy Initiation With Diabetes Progression A Retrospective Matched-Cohort Study. JAMA Intern Med. Published online October 4, 2021. doi:10.1001/jamainternmed.2021.5714
  9. Yuan J et al.: Regular use of proton pump inhibitors and risk of type 2 diabetes: results from three prospective cohort studies. Gut 2021;70:1070-1077
  10. Chan JSK et al.: Risk of diabetes mellitus among users of immune checkpoint inhibitors: A population-based cohort study. Cancer Medicine; https://doi.org/10.1002/cam4.5616
  11. Thiering E et al.: Long-term exposure to traffic-related air pollution and insulin resistance in children. Results from the GINIplus and LISAplus birth cohorts. Diabetologia. 2013 Aug;56(8):1696-704. doi: 10.1007/s00125-013-2925-x
  12. Yuan J et al.: Regular use of proton pump inhibitors and risk of type 2 diabetes: results from three prospective cohort studies. Gut 2021;70:1070-1077