Hyperbare Sauerstofftherapie

Bei der hyperbaren Sauerstofftherapie (Synonyme: HBO-Therapie, hyperbare Oxygenation, HBO2, HBOT, Ganzkörperdruckkammertherapie; engl.: hyperbaric oxygen therapy) handelt es sich um eine kontrollierte Überdruckexposition bei gleichzeitiger Inhalation von reinem Sauerstoff.

Das Grundprinzip des Verfahrens beruht auf der Einatmung von Sauerstoff unter einem höheren Partialdruck als dem normalen Luftdruck höher als (1,4 bar = 140 kPa). Um dies zu erreichen, ist es notwendig, dass sich der Patient in einer speziellen Druckkammer befindet.

Der Einsatz des Verfahrens kann sowohl in der Akuttherapie erfolgen als auch zur Behandlung chronischer Erkrankungen.

Zielsetzung und Wirkungsweise der hyperbaren Sauerstofftherapie

Zielsetzung

  • Verbesserung der Sauerstoffversorgung des Gewebes
  • Unterstützung der Wundheilung
  • Verdrängung von Kohlenmonoxid bei Kohlenmonoxidvergiftung

Wirkungsweise

  • Sauerstofftransport im Blut: Unter normalen Bedingungen wird der aufgenommene Sauerstoff größtenteils an das Hämoglobin im Blut gebunden und zum Gewebe transportiert. Durch die HBO-Therapie wird der Sauerstoff unter einem höheren Druck inhaliert, was zu einer erhöhten Menge an gelöstem Sauerstoff im Blut führt.
  • Verbesserte Sauerstoffversorgung des Gewebes: Durch den erhöhten Sauerstoffpartialdruck können auch Gewebe mit eingeschränkter Durchblutung oder Sauerstoffversorgung besser mit Sauerstoff versorgt werden, was die Heilung unterstützt.
  • Verdrängung von Kohlenmonoxid: Bei einer Kohlenmonoxidvergiftung verdrängt die hohe Sauerstoffkonzentration das Kohlenmonoxid vom Hämoglobin, was die Sauerstoffversorgung des Gewebes verbessert.

Indikationen (Anwendungsgebiete)

Der Evidenzgrad (Nachweis der Wirksamkeit der Behandlung) der Anwendung der hyperbaren Sauerstofftherapie variiert je nach Indikation. Eine alleinige Behandlung mittels hyperbarer Sauerstofftherapie ist jedoch nie indiziert. Die jeweilige Indikation bestimmt den zur Anwendung notwendigen Überdruck, die Dauer und die Gesamtanzahl der Behandlungen.

Hoher Evidenzgrad

  • Akuter idiopathischer sensorineuraler Hörverlust (Hörsturz)
  • Arterielle Insuffizienzen (arterielle Durchblutungsstörungen)
    • Verschluss der zentralen Netzhautarterie
    • Ausgewählte Problemwunden
  • Clostridiale Myositis (Muskelentzündung) und Myonekrose (Absterben von Muskulatur) − das Bakterium Clostridium perfringens kann einen Gasbrand (Synonyme: Gasgangrän, Gasödem, Gasphlegmone, Clostridium-Myositis und -zellulitis, clostridiale Myonekrose, malignes Ödem) verursachen, der neben einer Myositis und einer Myonekrose zu einer lebensgefährlichen systemischen Reaktion führen kann. Die hyperbare Sauerstofftherapie stellt neben der radikalen Amputation der Gliedmaßen einen entscheidenden Faktor in der Behandlung dar.
  • Crush-Syndrom und andere traumatische Ischämien (Minderdurchblutungen)
  • Dekompressionserkrankung − eine Dekompressionserkrankung entsteht in der Regel durch Einwirkung von Überdruck oder durch zu schnelle Druckentlastungen. Da das Krankheitsbild am häufigsten beim Tauchen auftritt, wird es auch als Taucherkrankheit (Synonym: Caissonkrankheit) bezeichnet. [Primäre Behandlungsmethode!]
  • Verzögerte Strahlenschäden (Weichteil- und Knochennekrose)
  • Entzündliche Darmerkrankungen (CED; engl.: inflammatory bowel disease, IBD) − bei Morbus Crohn und Colitis ulcerosa, die mit schweren Komplikationen einhergehen können, kann die Anwendung des Verfahrens sinnvoll sein.
  • Intrakranieller Abszess (ausgebildeter Eiterhöhle im Gehirn)
  • Kohlenmonoxidvergiftung, schwere − eine Kohlenmonoxidvergiftung stellt eine gesicherte Indikation für die Anwendung der hyperbaren Sauerstofftherapie dar. Die Behandlung ist insbesondere dann notwendig, wenn zusätzlich eine Zyanidvergiftung vorliegt.
  • Kompartmentsyndrom − durch einen erhöhten postoperativen oder posttraumatischen Druck in einer Gewebeloge kann insbesondere am Unterschenkel ein Kompartmentsyndrom auftreten.
  • Komprimierte Transplantate und Lappen
  • Kritische Hautgrafts und Myokutanlappen − in der plastischen Hand- und Wiederherstellungschirurgie wird das Verfahren insbesondere bei Haut- und Muskellappen eingesetzt, bei denen die Heilungschance reduziert ist.
  • Luft- oder Gasembolie − sowohl die iatrogenen (durch medizinische Maßnahmen verursacht) als auch traumatisch bedingte Gasembolien lassen sich durch die hyperbare Sauerstofftherapie behandeln.
  • Nekrotisierende Weichteilinfektionen
  • Osteomyelitis (Knochenmarkentzündung) − beim Vorliegen einer therapierefraktären Osteomyelitis ist die Anwendung der hyperbaren Sauerstofftherapie möglich.
  • Otitis externa necroticans (sive maligna) (Synonyme: Otitis externa maligna; Schädelbasisosteomyelitis; nekrotisierende Otitis externa/nekrotisierende Entzündung des äußeren Gehörgangs, die auf den Knochen und Hirnnerven übergreift)
  • Posttraumatisches Reperfusionssyndrom − durch die Anreicherung von sauerstoffarmem und sehr saurem Blut kommt es zu einer Schädigung des Gewebes. Eine Behandlung mittels hyperbarer Sauerstofftherapie ist möglich.
  • Schwere Anämien (außergewöhnliche Blutarmut) − durch die hyperbare Sauerstofftherapie soll die reduzierte Sauerstoffversorgung des Gewebes verbessert werden.
  • Verbrennungen − der Einsatz der hyperbaren Sauerstofftherapie bei Verbrennungen stellt eine gesicherte Indikation dar.
  • Verzögerte Strahlenschäden (Weichteil- und Knochennekrose)

Niedriger Evidenzgrad

  • Akuter Tinnitus (Ohrgeräusche)
  • Diabetischer Fuß (diabetisches Fußsyndrom) – bei Patienten mit diabetischen Fußulzera (Fußgeschwüre) verbessert die hyperbare Sauerstofftherapie die Ulzera (Geschwüre) kurzfristig, aber nicht langfristig [Das Verfahren ist 2017 als ergänzende Methode in der vertragsärztlichen Versorgung zugelassen]
  • Durchblutungsstörungen der Retina (Netzhaut)
  • Aseptische Knochennekrosen (Synonyme: aseptische Osteonekrose; Abkürzung: AON, AKN; engl.: aseptic osteonecrosis oder aseptic bone necrosis) – Sammelbezeichnung für einen Knocheninfarkt durch unterschiedliche Ursachen ohne Vorhandensein einer Infektion (aseptisch)

Kontraindikationen (Gegenanzeigen)

Relative Kontraindikationen

  • Anamnese eines Spontanpneumothorax (Ansammeln von Luft neben der Lunge)
  • Asthmaanfall (vorübergehende Kontraindikation)
  • Kürzliche Ohroperationen oder -verletzungen
  • Fieberinfekt
  • Anfallsleiden
  • Höhergradige Herzinsuffizienz (Herzschwäche)
  • Hyperthyreose
  • Chronisch-obstruktive Lungenerkrankung (COPD), schwere
  • Klaustrophobie, schwere
  • Mangelnde Mittelohr-/Nasennebenhöhlen-Ventilation (Belüftung)
  • Schwangerschaft

Absolute Kontraindikationen

  • Unbehandelter Pneumothorax (Ansammeln von Luft neben der Lunge)
  • Nicht druckkammertaugliche Herzschrittmacher (HSM) (Pacemaker (PM; engl.: „Schrittmacher“)
  • Medikamente:
    • Adriamycin (Doxorubicin)
    • Cisplatin

Vor der hyperbaren Sauerstofftherapie

  • Medizinische Bewertung: Eine gründliche medizinische Untersuchung und Bewertung der Eignung für die HBOT.
  • Klärung von Kontraindikationen: Überprüfen auf mögliche Kontraindikationen wie unbehandelte Pneumothorax oder bestimmte Arten von Lungenkrankheiten.
  • Aufklärungsgespräch: Detaillierte Informationen über den Ablauf, mögliche Risiken und Nutzen der Therapie.
  • Instruktionen für Kleidung und persönliche Gegenstände: Tragen von 100 % baumwollener Kleidung und Vermeidung von brennbaren Materialien und elektronischen Geräten in der Druckkammer.
  • Ernährungs- und Flüssigkeitsempfehlungen: Leichte Mahlzeit vor der Therapie und ausreichende Flüssigkeitszufuhr.
  • Berücksichtigung aktueller Medikamente: Informieren des Behandlungsteams über alle eingenommenen Medikamente.
  • Hygienehinweise: Duschen oder Baden vor der Therapie, um Körperöle und Kosmetika zu entfernen.
  • Klärung von Ohrendruck-Problemen: Besprechen von Techniken zur Druckausgleichung im Ohr während der Kompression und Dekompression.

Das Verfahren

Bei einem Luftdruck unter Normalbedingungen wird bei der Einatmung von Luft ein Großteil des Anteils des vom Körper aufgenommenen Sauerstoffs an das Hämoglobin gebunden. In dieser gebundenen Form kann der Sauerstoff von der Lunge in den systemischen Kreislauf transportiert werden. Zur Verbesserung der Sauerstoffversorgung des Gewebes wird die hyperbare Sauerstofftherapie genutzt, bei der unter den Bedingungen einer hyperbaren Oxygenation ein Anstieg des Sauerstoff-Partialdrucks erfolgen kann. Durch diese Erhöhung des Sauerstoff-Partialdrucks kann erreicht werden, dass der an das Hämoglobin gebundene Anteil des Sauerstoffs nicht verbraucht wird und auch auf der venösen Seite eine Sauerstoffsättigung (SpO2des Hämoglobins von 100 % vorliegt.

Der Einsatz der hyperbaren Sauerstofftherapie zur Verbesserung der Wundheilung beruht auf der Erhöhung des Sauerstoffangebots im Wundheilungsareal. Ein erhöhtes Sauerstoffangebot im Wundrand und im Wundgrund ist notwendig für die Proliferation und der Freisetzung von Wachstumsfaktoren und Zytokinen (Mediatoren).

Bei einer vorliegenden Kohlenmonoxidvergiftung wird der Sauerstoff vom Hämoglobin verdrängt, da das Kohlenmonoxid eine höhere Bindungsaffinität zum Hämoglobin hat als Sauerstoff. Unter normobaren Bedingungen erfolgt aufgrund dessen eine kompetitive (konkurrierende) Verdrängung des Sauerstoffs vom Hämoglobin. Somit kann nicht ausreichend Sauerstoff zu den Zellen gelangen. Allerdings kann durch die hyperbare Sauerstofftherapie das Kohlenmonoxid über diesen kompetitiven Mechanismus vom Sauerstoff verdrängt werden. 

Eine Therapiesitzung beim diabetischen Fußsyndrom beispielsweise dauert zwischen 45 und 120 Minuten und wird täglich über einen Zeitraum von mehreren Wochen durchgeführt.

Nach der hyperbaren Sauerstofftherapie

  • Nachbeobachtung: Kurze Ruhephase nach der Therapie zur Stabilisierung.
  • Flüssigkeitszufuhr: Ausreichend Wasser trinken, um eventuelle Dehydrierung auszugleichen.
  • Symptome beobachten: Achten auf mögliche Nebenwirkungen wie Müdigkeit, Ohrendruck oder Sinusbeschwerden und diese dem medizinischen Personal melden.
  • Vermeidung von Alkohol und Rauchen: Diese können die Wirksamkeit der Therapie beeinträchtigen.
  • Folgetermine einhalten: Regelmäßige Sitzungen gemäß dem Therapieplan.
  • Dokumentation von Veränderungen: Aufzeichnen von Verbesserungen oder Änderungen im Gesundheitszustand und diese mit dem Arzt besprechen.
  • Erholung: Gewährleisten von ausreichender Ruhe und Erholung nach der Therapie.

Mögliche Komplikationen

  • Barotrauma – Gewebeschädigung, die entsteht, wenn sich durch eine Veränderung des Umgebungsdrucks das in verschiedenen Körperhöhlen enthaltene Gas verdichtet oder ausdehnt –
    • des Mittelohrs – mit einer Häufigkeit von 2-3:100 stellen diese die häufigsten Komplikationen dar.
    • der Nasennebenhöhlen
    • des Trommelfells – Insgesamt tritt diese Komplikation relativ häufig auf. In der Regel heilen die Trommelfellschädigungen auch ohne Therapie innerhalb von wenigen Tagen ab.
  • Herzinsuffizienzverschlechterung
  • Lungenschädigung 
    • Schädigung der Lunge durch Sauerstoff in Form einer akuten Lungenschädigung (Acute Lung Injury, ALI) oder eines acute respiratory distress syndroms (ARDS) kann Folge einer hyperbaren Sauerstofftherapie sein. Somit ähnelt das Schädigungsbild einem Barotrauma (Drucktrauma) bei einer maschinellen Beatmung.
    • Lungenödem (Wassereinlagerung in der Lunge)
  • Kataraktreifung (grauer Star), beschleunigte
  • Zerebraler Krampfanfall − als Komplikation der hyperbaren Sauerstofftherapie kann ein zerebraler Krampfanfall (Krampfanfall des Gehirns) auftreten. Diese sehr seltene Komplikation stellt eine Folge der Einwirkung einer hohen „Dosis“ von Sauerstoff dar.
  • Myopie, temporäre − eine Kurzsichtigkeit kann durch Einwirkung von Sauerstoff erfolgen. Auch diese Komplikation ist Folge der erhöhten Sauerstoffkonzentration. Bei der Komplikation handelt es sich jedoch um eine temporäre Erscheinung, die vollständig reversibel ist. 
  • Netzhautveränderungen
  • Übelkeit und Erbrechen
  • Zerebraler Krampfanfall − als Komplikation der hyperbaren Sauerstofftherapie kann ein zerebraler Krampfanfall (Krampfanfall des Gehirns) auftreten. Diese sehr seltene Komplikation stellt eine Folge der Einwirkung einer hohen „Dosis“ von Sauerstoff dar.

Literatur

  1. Mutschler W, Muth CM: Hyperbare Sauerstofftherapie in der Unfallchirurgie. Unfallchirurg. 2001. 104:102-114
  2. Wiese S, Beckers S, Siekmann U, Baltus T, Rossaint R, Schröder S: Hyperbare Sauerstofftherapie. Anästhesist. 2006. 55:693-705
  3. Weaver LK et al.: Hyperbaric oxygen for acute carbon monoxide poisoning. N Engl J Med. 2002. 347:1057-1067
  4. Jamil MU, Eckhardt A, Franko W: Hyperbare Sauerstofftherapie Klinische Anwendung in der Behandlung von Osteomyelitis, Osteoradionekrose und der Wiederherstellungschirurgie des vorbestrahlten Unterkiefers. Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie. 2000. 4:320-323
  5. Tisch M, Lorenz KJ, Harm M, Lampl L, Maier H: Otitis externa necroticans. HNO. 2003. 51:315-320