Unterzuckerung (Hypoglykämie) – Ursachen

Pathogenese (Krankheitsentstehung)

Hypoglykämie (Unterzuckerung) ist das Ergebnis einer Störung der Koordination und Regulation des Glucosemetabolismus (Zuckerstoffwechsel), insbesondere zwischen der Glucosefreisetzung aus der Leber und der Glucoseaufnahme durch periphere Organe. Die Homöostase des Blutzuckerspiegels wird durch eine präzise Abstimmung von Insulin und mehreren gegenregulatorischen Hormonen wie Glukagon, Adrenalin, Wachstumshormon und Cortisol gesteuert.

Primäre pathophysiologische Mechanismen

  • Regulation durch Insulin und Glukagon:
    • Insulin: Dieses Hormon wird von den B-Zellen (Beta-Zellen) der Bauchspeicheldrüse ausgeschüttet und fördert die Aufnahme von Glucose in die Körperzellen, insbesondere in Muskel- und Fettgewebe. Außerdem stimuliert Insulin die Umwandlung von Glucose in Glykogen (eine Speicherform von Glucose), die in der Leber und in den Muskeln gelagert wird. Dadurch wird der Glucose-Serumspiegel (Blutzuckerspiegel) gesenkt. Bei ausreichender Nahrungszufuhr sorgt Insulin dafür, dass der Glucose-Serumspiegel innerhalb enger Grenzen (70-110 mg/dl oder 3,9-6,1 mmol/l) bleibt.
    • Glukagon: A-Zellen (Alpha-Zellen) der Bauchspeicheldrüse produzieren Glukagon, das die Umwandlung von Glykogen in Glucose stimuliert (Glykogenolyse) und so den Blutzuckerspiegel erhöht. Glukagon wirkt antagonistisch (entgegengesetzt) zu Insulin, um den Blutzuckerspiegel in Zeiten von Glucosemangel zu erhöhen.
  • Glykogenolyse und Gluconeogenese:
    • In Zeiten niedriger Glucosezufuhr, wie beispielsweise während des Fastens, erfolgt die Aufrechterhaltung des Blutzuckerspiegels durch die Mobilisierung von Glykogen aus den Leberreserven (Glykogenolyse) und durch die Neubildung von Glucose aus nicht-Kohlenhydratquellen (Gluconeogenese), wie glucoplastischen Aminosäuren. Diese Prozesse verhindern einen gefährlich niedrigen Blutzuckerspiegel und halten den Wert auch nach 24-72 Stunden Fasten über 3 mmol/l.
  • Gegenregulatorische Hormone bei Hypoglykämie:
    • Glukagon: Erste Verteidigungslinie, das schnell die Glykogenolyse und Gluconeogenese aktiviert, um die Glucosefreisetzung zu steigern.
    • Adrenalin (Stresshormon): Kommt zum Einsatz, wenn die Glukagonantwort eingeschränkt ist, wie etwa bei Patienten mit langjährigem Diabetes mellitus Typ 1. Es erhöht die Glucoseproduktion in der Leber und hemmt die Glucoseaufnahme in periphere Gewebe, um den Blutzucker zu erhöhen.
    • Wachstumshormon (Somatotropin, STH) und Cortisol (Stresshormon): Diese Hormone wirken bei länger anhaltender Hypoglykämie gegenregulatorisch, indem sie die Gluconeogenese stimulieren und die Glucoseverwertung in den peripheren Geweben hemmen.

Sekundäre pathophysiologische Mechanismen

  • Überdosierung von Diabetes-Medikamenten:
    • Die häufigste Ursache einer Hypoglykämie, insbesondere bei Diabetikern, ist eine Überdosierung von Insulin oder oralen Antidiabetika. Diese Medikamente senken den Blutzuckerspiegel, indem sie entweder die Insulinwirkung verstärken oder die Insulinproduktion erhöhen. Eine Überdosierung kann zu einer gefährlichen Hypoglykämie führen, da die regulierenden Hormone möglicherweise nicht ausreichend gegengesteuert werden.
  • Insulinom (insulinproduzierender Tumor):
    • Ein weiteres Beispiel für eine gestörte Regulation des Blutzuckerspiegels ist das Insulinom, ein seltener Tumor der Bauchspeicheldrüse, der unkontrolliert Insulin produziert und zu wiederkehrenden Hypoglykämien führt.

Klinische Manifestationen

Leitsymptome einer Hypoglykämie:

  • Plötzliches Zittern, Schwitzen, Herzklopfen und Angstgefühle.
  • Müdigkeit, Schwäche, Benommenheit und Konzentrationsstörungen.
  • Bewusstseinsstörungen bis hin zur Hypoglykämie-induzierten Bewusstlosigkeit (Hypoglykämischer Schock).

Zusammenfassung und klinische Relevanz

Die Hypoglykämie entsteht durch eine Fehlregulation des Glucose-Stoffwechsels, wobei das Gleichgewicht zwischen Glucosefreisetzung und -aufnahme gestört ist. Insulin und Glukagon sind die Hauptregulatoren, die zusammen mit anderen Hormonen wie Adrenalin, Cortisol und Wachstumshormon den Blutzuckerspiegel stabil halten. Die häufigste Ursache einer Hypoglykämie ist eine Überdosierung von Insulin oder Antidiabetika bei Patienten mit Diabetes mellitus.

Ätiologie (Ursachen)

Biographische Ursachen

  • Ab 60. Lebensjahr (vermehrt schwere Hypoglykämien bei Typ-1-Diabetes und Typ-2-Diabetes)

Verhaltensbedingte Ursachen 

  • Ernährung
    • Malnutrition (Fehlernährung) – führt zu einem verminderten Angebot an Glucose (Kohlenhydrat: Monosaccharid; Einfachzucker) [1, 2]
  • Genussmittelkonsum
    • Kaffee
    • Alkohol – die durch Alkohol ausgelöste Hypoglykämie bei Nahrungskarenz (Verzicht auf Nahrungsaufnahme) ist auf eine Entleerung der Glykogenspeicher (Kohlenhydratspeicher) und einer Hemmung der Gluconeogenese (Zuckerneubildung aus Nicht-Kohlenhydrat-Vorstufen, z. B. Aminosäuren) zurückzuführen [1, 2]. Bei Gesunden kann Alkohol nach Fasten eine Hypoglykämie auslösen, bei Leberkranken schon nach kürzerer Zeit [2].
  • Körperliche Aktivität
    • Erhöhte Muskelarbeit – führt zu einem erhöhten Verbrauch an Glucose [2]

Krankheitsbedingte Ursachen

Bestimmte Zustände, die ihren Ursprung in der Perinatalperiode haben (P00-P96)

  • Kindern von Schwangeren mit einem Gestationsdiabetes in den ersten Lebensstunden [6]

Endokrine, Ernährungs- und Stoffwechselkrankheiten (E00-E90)

  • Ausfall des Hypophysenvorderlappens (HVL) (Vorderlappen der Hypophyse (Hirnanhangsdrüse))
  • Ausfall der Nebennierenrinde
  • Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit) Typ 1 + 2
    • Diabetes mellitus Typ 2; bes. anfällig sind Patienten mit:
      • schweren Hypoglykämien in der Anamnese (Krankengeschichte) (5,6-fach) [11]
      • Sulfonylharnstoffe (6,7-fach) und/oder Insulin (Basalinsulin: 12,5-fach; Blusinsulin: 23,2-fach; beide Insulinarten: 27,7-fach) [11]
      • HbA1c (Langzeitzuckerwert) < 6 % [8]; in einer weiteren Studie
        • sehr niedrige Werte (HbA1c  5,6 Prozent): +45 Prozent [11]
        • extrem hohe Werten (HbA1c  10 Prozent): +24 Prozent [11]
      • steigender Komorbidität (Begleiterkrankungen: COPD, Demenz, Herzinsuffizienz und -infarkt, Leberzirrhose, Niereninsuffizienz (ab Stadium 3), periphere Neuropathie, Tumorerkrankungen (Krebs), Sturzneigung, zerebrovaskuläre Leiden) [8, 11]
  • Diabetes renalis – genetisch bedingte Funktionsstörung der Nieren, die durch eine dauerhafte Glukosurie (vermehrte Ausscheidung von Glucose (Traubenzucker) im Urin) bei normaler Glukosetoleranz und nicht erhöhtem Glucose-Serumspiegel (Blutzuckerwert) gekennzeichnet ist
  • Fructoseintoleranz (Fruchtzuckerunverträglichkeit)
  • Galaktosämie – vermehrtes Vorkommen der Zuckerart Galactose im Blut
  • Glykogenspeicherkrankheiten wie die Glykogenosen vom Typ-1 (von Gierke) und Typ-3 (Cori)
  • Insulinautoimmunsyndrom (IAS), medikamentös induziertes – führt zu rezidivierenden (wiederkehrenden), spontanen Hypoglykämien
  • Kongenitaler Hyperinsulinismus (Vorliegen erhöhter Insulinwerte im Blut als angeborene Erkrankung) – häufig für Hypoglykämien im Neugeborenen- und Kleinkindalter verantwortlich; unkontrollierte Insulinsekretion (Ausschüttung von Insulin); tageszeitunabhängige, stark verkürzte Nüchterntoleranz 
  • Morbus Addison (primäre Nebennierenrindeninsuffizienz)  – Nebennierenunterfunktion, die zu einem Ausfall vor allem der Cortisolproduktion führt
  • Schwere Form der Mangelernährung

Infektiöse und parasitäre Krankheiten (A00-B99)

  • Sepsis (Blutvergiftung)

Mund, Ösophagus (Speiseröhre), Magen und Darm (K00-K67; K90-K93)

  • Magenentleerungsstörung bei Diabetes mellitus
  • Zustand nach Magenresektion (Magenentfernung) mit Dumping-Spätsyndrom – Zustand nach der Entfernung des Magens, der durch schnelle Kohlenhydratresorption ein bis drei Stunden nach der Nahrungsaufnahme zur Hypoglykämie führt

Neubildungen – Tumorerkrankungen (C00-D48)

  • IGF-2-produzierende mesenschymale Tumoren (Insulin-like growth factor 2 (IGF-2), auch Somatomedin A (SM-A) genannt, ist ein Wachstumsfaktor)
  • Insulinom – meist benigner (gutartiger) Tumor des Pankreas (Bauchspeicheldrüse), der vermehrt Insulin produziert und zu rezidivierenden (wiederkehrenden) Hypoglykämien führt; jedes zehnte Insulinom ist als Inselzellkarzinom maligne und neigt relativ früh zu ausgeprägter Metastasierung (vor allem in die Leber)
  • Lebertumoren, nicht näher bezeichnet
  • Leberzirrhose – bindegewebiger Umbau der Leber, der zu einer Funktionseinschränkung führt
  • Nesiodioblastose (Synonyme: Inselzell-Hyperplasie; persistierende hyperinsulinämische Hypoglykämie der Kleinkinder; PHHI von persistent hyperinsulinemic hypoglycemia of infancy) – es handelt sich um eine genetisch handelt bedingte Inselzell-Hyperplasie (Vergrößerung) des Pankreas (Bauchspeicheldrüse), die bereits bei Neugeborenen zu schweren Hypoglykämien (Unterzuckerung) führt
  • Schwere Lebererkrankungen, nicht näher bezeichnet
  • Pankreastumoren (Bauchspeicheldrüsentumoren), nicht näher bezeichnet
  • Paraneoplastische Sekretion insulinähnlicher Peptide

Psyche – Nervensystem (F00-F99; G00-G99)

  • Anorexia nervosa (Magensucht)

Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett (O00-O99)

  • Neugeborenenhypoglykämie bei Mutter mit Diabetes mellitus

Symptome und abnorme klinische und Laborbefunde, die anderenorts nicht klassifiziert sind (R00-R99)

  • Kachexie (krankhafte, sehr starke Abmagerung)
  • Urämie (Auftreten harnpflichtiger Substanzen im Blut oberhalb der Normwerte)

Urogenitalsystem (Nieren, Harnwege – Geschlechtsorgane) (N00-N99)

  • Schwere Nierenerkrankungen, nicht näher bezeichnet

Verletzungen, Vergiftungen und andere Folgen äußerer Ursachen (S00-T98)

  • Hypoglykämia factitia – absichtlich herbeigeführte Unterzuckerung durch heimliche Injektion von Insulin

Weitere Ursachen

  • Autoimmunerkrankungen wie Insulinautoantikörper, Insulinrezeptorantikörper
  • Starke körperliche Belastung bei Diabetes mellitus
  • Vegetative Labilität

Labordiagnosen  Laborparameter, die als unabhängige Risikofaktoren gelten

  • HbA1c < 6,5 Prozent (48 mmol/mol) bei Diabetikern → erhöhtes Risiko für schwere Hypoglykämien [10]

Medikamente

  • Analgetika (Schmerzmittel)
    • Opioide: Propoxyphen (bei Niereninsuffizienz/Nierenschwäche), Tramadol [3]
  • Antiarrhythmika
    • Chinidin
    • Disopyramid 
  • Antibiotika
    • Chinolone/Fluorchinolone/Gyrasehemmer (Ciprofloxacin, Moxifloxacin, Nalidixinsäure, Norfloxacin, Lomefloxacin, Levofloxacin, Ofloxacin): US-Arzneibehörde FDA warnt vor mentalen Störungen und hypoglykämischem Koma [9]
    • Ciprofloxacin, Clarithromycin, Levofloxacin, Trimethoprim/Sulfamethazol (in Kombination mit Sulfonylharnstoffen) [4]
    • Trimethoprim/Sulfamethazol bei Niereninsuffizienz (Nierenschwäche)
  • Antidiabetika
    • Glinide (Nateglinid, Repaglinid)
    • Überdosierung von Insulin (insb. höhere Hypoglykämieneigung bei Frauen) [5]
    • Überdosierung von Sulfonylharnstoffen (SH) – Glibenclamid, Gliclazid, Glimepirid, Glipizid, Gliquidon, Tolbutamid
    • SH (Glipizid bzw. Glimepirid) in Kombination mit einem Vitamin-K-Antagonisten (VKA; hier Warfarin) [7]:
      • 22 % erhöhtes Hypoglykämie-Risiko (Odds Ratio [OR] 1,22); im Alter von 65-74 Jahren (OR 1,54) und in Quartalen mit erstmaliger Warfarineinnahme (OR 2,47).
      • 47 % erhöhtes Risiko für sturzbedingte Frakturen (Knochenbrüche), die die Patienten in die Notaufnahme brachten bzw. zur stationären Behandlung führten (OR 1,47)
      • 22 % erhöhtes Risiko für kognitive Störungen (Minderungen der geistigen Leistungsfähigkeit) (OR 1,22)
  • Chinin (eine natürlich in der Chinarinde vorkommende chemische Verbindung aus der Gruppe der Alkaloide)
  • Clopidogrel (Thrombozytenaggregationshemmer) → medikamentös induziertes Insulinautoimmunsyndrom (IAS)
  • Haloperidol (Neuroleptikum/Nervendämpfungsmittel aus der Gruppe der Butyrophenone)
  • Kombination von mehreren Antidiabetika
  • Pentamidin (Wirkstoff aus der Gruppe der Antiparasitika)
  • Salicylate (Salze der Salicylsäure)

Umweltbelastungen – Intoxikationen (Vergiftungen)

  • Alkoholexzess, vor allem bei Vorliegen schwerer Begleiterkrankungen
  • Alkohol bei Diabetes mellitus
  • Pilztoxine
  • Ackee-Frucht

Literatur

  1. Brabant G, Schöfl C, Mühlen A von zur: Hypoglykämien beim Erwachsenen: Nicht Diabetes-assoziierte Formen. Dtsch Arztebl 1998; 95(17): A-1022 / B-870 / C-818
  2. Baenkler HW: Innere Medizin. Stuttgart : Thieme, 2001
  3. Fournier JP et al.: Tramadol Use and the Risk of Hospitalization for Hypoglycemia in Patients With Noncancer Pain. JAMA Intern Med. Published online December 08, 2014. doi:10.1001/jamainternmed.2014.6512
  4. Parekh TM et al.: Hypoglycemia After Antimicrobial Drug Prescription for Older Patients Using Sulfonylureas. JAMA Intern Med. 2014;174(10):1605-1612. doi:10.1001/jamainternmed.2014.3293.
  5. Kautzky-Willer A et al.: Gender-based differences in glycaemic control and hypoglycaemia prevalence in patients with type 2 diabetes: results from patient-level pooled data of six randomized controlled trials. Diabetes, Obesity and Metabolism, online 20. März 2015; doi:10.1111/dom.12449
  6. McKinlay JD et al.: Neonatal Glycemia and Neurodevelopmental Outcomes at 2 Years. N Engl J Med 2015; 373:1507-1518October 15, 2015. doi: 10.1056/NEJMoa1504909
  7. Romley JA et al.: Association between use of warfarin with common sulfonylureas and serious hypoglycemic events: retrospective cohort analysis. BMJ 2015;351:h6223
  8. Misra-Hebert AD et al.: Patient Characteristics Associated With Severe Hypoglycemia in a Type 2 Diabetes Cohort in a Large, Integrated Health Care System From 2006 to 2015. Diabetes Care 2018 Mar; dc171834. https://doi.org/10.2337/dc17-1834
  9. FDA Drug Safety Communication: FDA reinforces safety information about serious low blood sugar levels and mental health side effects with fluoroquinolone antibiotics; requires label changes. U.S. FOOD & Drug (FDA) Posted 07/10/2018
  10. Lind M et al.: HbA1c level as a risk factor for retinopathy and nephropathy in children and adults with type 1 diabetes: Swedish population based cohort study BMJ 2019; 366 doi: https://doi.org/10.1136/bmj.l4894
  11. McCoy RG et al.: Association of Cumulative Multimorbidity, Glycemic Control, and Medication Use With Hypoglycemia-Related Emergency Department Visits and Hospitalizations Among Adults With Diabetes. JAMA Netw Open. 2020;3(1):e1919099. doi:10.1001/jamanetworkopen.2019.19099