Halswirbelsäulen-Syndrom (HWS-Syndrom) – Ursachen

Pathogenese (Krankheitsentstehung)

Das Halswirbelsäulensyndrom (HWS-Syndrom) ist ein Sammelbegriff für Beschwerden, die im Bereich der Halswirbelsäule auftreten und sowohl strukturelle als auch funktionelle Ursachen haben können. Die Ätiologie des HWS-Syndroms ist multifaktoriell und in den meisten Fällen handelt es sich um eine gutartige, nicht bedrohliche Erkrankung. Nur in weniger als einem Prozent der Fälle liegt eine gefährliche Grunderkrankung zugrunde. Typischerweise resultieren die Beschwerden aus einem Zusammenspiel von strukturellen Veränderungen der Wirbelsäule und muskulären Funktionsstörungen.

Primäre pathophysiologische Mechanismen

Initialer Pathomechanismus:

  • Degenerative Veränderungen: Die häufigsten strukturellen Ursachen für das HWS-Syndrom sind degenerative Veränderungen der Halswirbelsäule, wie Bandscheibenverschleiß (Diskopathie), Osteochondrose (Knorpelschädigung) und Spondylose (Abnutzung der Wirbelkörper).
  • Muskuläre Dysbalancen: Fehlhaltungen und chronische Überlastung der Halsmuskulatur führen zu muskulären Verspannungen, Dysbalancen und schmerzhaften Triggerpunkten.

Molekulare und zelluläre Veränderungen:

  • Entzündliche Prozesse: In einigen Fällen können durch Überlastung oder mechanische Reize entzündliche Prozesse in den betroffenen Geweben ausgelöst werden, insbesondere an den Bandscheiben oder an den Wirbelgelenken (Facettengelenke).
  • Veränderung der Schmerzrezeptoren: Durch chronische Belastungen und Reize kommt es zu einer Sensibilisierung der Schmerzrezeptoren im Bereich der Halswirbelsäule, was eine verstärkte Schmerzempfindung zur Folge hat.

Entwicklung struktureller Veränderungen:

  • Verengung des Spinalkanals: Degenerative Veränderungen, wie Osteophytenbildung (Knochenneubildung) oder Bandscheibenprotrusionen, können zu einer Einengung des Spinalkanals führen und Nervenwurzeln oder das Rückenmark komprimieren.

Sekundäre pathophysiologische Veränderungen

Veränderungen in der Gewebsarchitektur:

  • Muskelverspannungen: Durch die anhaltenden muskulären Dysbalancen kommt es zu einer Überbeanspruchung der Nackenmuskulatur, was chronische Verspannungen und schmerzhafte Triggerpunkte verursacht.
  • Gelenkinstabilitäten: In fortgeschrittenen Fällen können Instabilitäten der Halswirbelsäule entstehen, was die mechanische Belastung weiter erhöht und die Symptomatik verstärkt.

Beteiligung des umgebenden Gewebes:

  • Kompression der Nervenwurzeln: Strukturelle Veränderungen wie Bandscheibenvorfälle oder knöcherne Anbauten können die Nervenwurzeln komprimieren und zu ausstrahlenden Schmerzen (Radikulopathie) führen.
  • Beteiligung des vegetativen Nervensystems: Durch die Nähe des sympathischen Nervengeflechts (Halsnervengeflecht) können vegetative Symptome wie Schwindel, Ohrgeräusche (Tinnitus) oder Sehstörungen auftreten.

Klinische Manifestation

Leitsymptome:

  • Nackenschmerzen: Schmerzen im Bereich der Halswirbelsäule, die in den Kopf, die Schultern oder die Arme ausstrahlen können, sind typisch für das HWS-Syndrom.
  • Bewegungseinschränkung: Eine eingeschränkte Beweglichkeit der Halswirbelsäule, insbesondere bei Rotationsbewegungen des Kopfes, ist häufig zu beobachten.

Fortgeschrittene Symptome:

  • Neurologische Symptome: Bei einer Nervenwurzelkompression können ausstrahlende Schmerzen, Kribbeln oder Taubheitsgefühle in den Armen und Händen auftreten.
  • Vegetative Symptome: Begleitend können Schwindel, Tinnitus oder Kopfschmerzen im Rahmen eines zervikalen Kopfschmerzsyndroms auftreten.

Progression und Organbeteiligung

Lokale Gewebeveränderungen:

  • Chronische Muskelverspannungen: Die anhaltende Fehlbelastung und Verspannung der Nackenmuskulatur führen zu einer chronischen Überlastung und verminderten Durchblutung der Muskulatur, was die Schmerzen weiter verstärkt.
  • Facettengelenkarthrose: Durch die mechanische Überbeanspruchung der Wirbelgelenke (Facettengelenke) kommt es zur Ausbildung einer Arthrose, was die Schmerzsymptomatik verstärken kann.

Systemische Auswirkungen bei chronischen Verläufen:

  • Beeinträchtigung der Lebensqualität: Chronische Schmerzen und Bewegungseinschränkungen können zu einer erheblichen Einschränkung der Lebensqualität führen, da alltägliche Aktivitäten beeinträchtigt werden.

Funktionelle Auswirkungen und strukturelle Schäden

Beeinträchtigung der mechanischen Eigenschaften:

  • Verlust der Beweglichkeit: Die zunehmende Degeneration der Bandscheiben und der Wirbelgelenke führt zu einer weiteren Einschränkung der Beweglichkeit und zu chronischen Schmerzen.

Reduzierte Funktionalität:

  • Schmerzhafte Schonhaltung: Patienten nehmen häufig Schonhaltungen ein, um den Schmerz zu lindern, was jedoch langfristig zu muskulären Dysbalancen und zusätzlichen Funktionsstörungen führt.
  • Ausstrahlende Schmerzen: Die Kompression von Nervenwurzeln kann zu ausstrahlenden Schmerzen und Sensibilitätsstörungen in den Armen führen, was die Funktionalität der oberen Extremitäten beeinträchtigt.

Regenerative und kompensatorische Prozesse

Versuche der Geweberegeneration:

  • Muskuläre Kompensation: Der Körper versucht, durch Muskelverspannungen die Instabilität der Halswirbelsäule zu kompensieren, was jedoch langfristig zu chronischen Schmerzen führt.

Kompensatorische Mechanismen:

  • Schonhaltungen: Patienten entwickeln häufig Schonhaltungen, um die Schmerzen zu lindern, was jedoch zu weiteren Fehlhaltungen und muskulären Dysbalancen führt.

Zusammenfassung

Das HWS-Syndrom ist eine multifaktoriell bedingte Erkrankung, die durch strukturelle Veränderungen der Halswirbelsäule und muskuläre Funktionsstörungen verursacht wird. Degenerative Prozesse in den Bandscheiben und Wirbelgelenken sowie muskuläre Dysbalancen führen zu einer Vielzahl von Symptomen, darunter Nackenschmerzen, Bewegungseinschränkungen und neurologische Ausfälle. Nur in seltenen Fällen liegt eine gefährliche Grunderkrankung vor, die für die Beschwerden verantwortlich ist.

Ätiologie (Ursachen)

Biographische Ursachen

  • Berufe –  Berufe, die mit einer überdurchschnittlichen Belastung der Halswirbelsäule einhergehen (z. B. langjähriges Tragen schwerer Gegenstände auf der Schulter)
  • Sozioökonomische Faktoren – niedriger sozioökonomischer Status

Verhaltensbedingte Ursachen

  • Genussmittelkonsum
    • Ehemalige Raucher – Rauchen ist ein Risikofaktor für Nackenschmerzen, auch bei ehemaligen Rauchern bleibt das Risiko erhöht.
  • Körperliche Aktivität
    • Schwere körperliche Arbeit – Erhöht die mechanische Belastung der Halswirbelsäule und führt zu Muskelverspannungen.
  • Psycho-soziale Situation
    • Hohe berufliche Anforderungen/chronischer Stress (Dauerstress) – Führt zu muskulären Verspannungen und kann chronische Nackenschmerzen begünstigen.
    • Geringe soziale Bindungen – Vermindern die psychische Resilienz gegen stressbedingte Schmerzen.
  • Einseitige Belastungen
    • Einseitige Bewegungsabläufe wie an Computerarbeitsplätzen – Monotone Bewegungsmuster belasten die Nackenmuskulatur ungleichmäßig.
    • Falsche Arbeitshaltung – Fördert eine unnatürliche Belastung der Halswirbelsäule.
  • Subjektive Gesundheitseinstellung
    • Negative Einstellungen gegenüber der eigenen Gesundheit erhöhen das Risiko für chronische Beschwerden.
  • Adipositas (Übergewicht)
    • Führt zu einer erhöhten mechanischen Belastung der gesamten Wirbelsäule und kann Verspannungen begünstigen.

Krankheitsbedingte Ursachen

Endokrine, Ernährungs- und Stoffwechselkrankheiten (E00-E90)

  • Adipositas (Übergewicht) 

Herzkreislaufsystem (I00-I99)

  • Aneurysma der Arteria vertebralis/Arteria carotis interna ‒ Wandaussackung der Wirbelsäulenarterie/der Halsschlagader
  • Dissektion der Arteria vertebralis/Arteria carotis interna ‒ Aufspaltung der Wandschichten der Wirbelsäulenarterie/der Halsschlafader
  • Epidurale Blutung ‒ Blutung in den Raum zwischen den Hirnhäuten

Infektiöse und parasitäre Krankheiten (A00-B99)

  • Infektionen des zentralen Nervensystems (ZNS), nicht näher bezeichnet

Muskel-Skelett-System und Bindegewebe (M00-M99)

  • Atlanto-axiale Subluxation (AASL) – unvollständige Ausrenkung (Subluxation) des Gelenks zwischen erstem und zweiten Halswirbel (Atlantoaxialgelenk)
  • Arthritis (Pseudogicht) des lateralen Atlantoaxialgelenks (ältere Patienten)
  • Degenerative Veränderungen der Halswirbelsäule wie Arthrose, Spondylose, Osteophyten (Knochenanbauten)
  • Facettensyndrom ‒ Schmerz, der durch die Reizung der Facettengelenke (Zygapophysealgelenke; Zwischenwirbelgelenke: kleine, paarige Gelenke, die zwischen den Gelenkfortsätzen (Processus articularis) benachbarter Wirbel bestehen und die Beweglichkeit der Wirbelsäule sichern) entsteht
  • Osteochondrose ‒ degenerative Veränderungen von Knochen und Knorpel in Gelenken
  • Schulter-Arm-Syndrom (Nacken-Schulter-Arm-Syndrom; Cervicobrachialgie) – multifaktorieller Symptomkomplex; häufigste Ursachen sind myofasziale ( "die Muskeln und die Faszien betreffend") Beschwerden, zum Beispiel durch Myogelosen (Muskelverhärtung) oder Muskeldysbalance der Halswirbelsäule; weitere Ursachen sind degenerative Erscheinungen der Halswirbelsäule (Osteochondrose, Spondylarthrose), Schultererkrankungen (Impingement-Syndrom, Frozen Shoulder, Omarthrose, ACG-Arthrose, Rotatorenmanschettenläsion) und internistische Erkrankungen (Lungenerkrankungen, Erkrankung der Gallenblase, Leber und Milz sowie rheumatologische Erkrankungen). 
    Beachte: Anhaltende Beschwerden, vor allem mit neurologischen Ausfällen, sollten auch an eine Spinal-bzw. Neuroforamenstenose (Einengung des 
    Spinalkanals/Kanal entlang der Wirbelsäule) bzw. einen Bandscheibenprolaps (Bandscheibenvorfall) denken lassen.
  • Segmentale Dysfunktionen (Blockade)
  • Verspannung der Nackenmuskulatur, nicht näher bezeichnet
  • Zervikaler Bandscheibenvorfall (Prolaps) ‒ Bandscheibenvorfall im Bereich der Halswirbelsäule

Neubildungen – Tumorerkrankungen (C00-D48)

  • Pancoast-Tumor (Synonym: apikaler Sulkustumor) – rasch fortschreitendes peripheres Bronchialkarzinom im Bereich der Lungenspitze (Apex pulmonis); rasch übergreifend auf Rippen, Halsweichteile, Armgeflecht (ventralen Ästen der Spinalnerven der letzten vier Hals- und des ersten Brustsegments (C5–Th1)) und Wirbel der Hals- und Brustwirbelsäule (HWS, BWS)); Krankheit äußert sich häufig mit einem charakteristischen Pancoast-Syndrom: Schulter- bzw. Arm-Schmerz, Rippenschmerz, Parästhesie (Empfindungsstörungen) am Unterarm, Paresen (Lähmungen), Handmuskelatrophie, obere Einflussstauung durch Einengung der Halsvenen, Horner-Syndrom (Trias einhergehend mit Miosis (Pupillenverengung), Ptosis (Herunterhängen des oberen Augenlids) und Pseudoenophthalmus (scheinbar eingesunkener Augapfel))
  • Neubildungen im Bereich der Halswirbelsäule, nicht näher bezeichnet
  • Metastasen (Tochtergeschwülste)

Psyche – Nervensystem (F00-F99; G00-G99)

  • Ängstlichkeit
  • Depressivität
  • Myelopathie – Schädigung des Rückenmarks
  • Radikulopathie ‒ Veränderung der Spinalnervenwurzel, die durch Entzündung oder Irritation bedingt ist

Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett (O00-O99)

  • Schwangerschaft, nicht näher bezeichnet

Verletzungen, Vergiftungen und andere Folgen äußerer Ursachen (S00-T98)

  • Epidurale Blutung ‒ Blutung in den Raum zwischen den Hirnhäuten
  • HWS-Distorsion (Schleudertrauma)

Weitere Ursachen

  • Handynacken; Lesen eines E-Books etc.
  • Zustand nach Operationen an der Halswirbelsäule