Schmerzen

Schmerzen – Warnsystem des Körpers mit komplexer neurophysiologischer Integration

Schmerzen sind ein elementares biologisches Warnsystem, das den Organismus vor potenziellen Gewebeschäden schützt. Sie erfüllen eine zentrale Rolle in der Reizverarbeitung, Homöostase und adaptiven Verhaltenssteuerung. Die Schmerzwahrnehmung (Nozizeption) entsteht durch eine komplexe Interaktion peripherer Nozizeptoren, afferenter Nervenbahnen, spinaler Schaltstellen und zentralnervöser Verarbeitungszentren (z. B. Thalamus, somatosensorischer Cortex, limbisches System).

Die moderne Schmerzforschung unterscheidet Schmerzen dabei nicht nur nach Lokalisation und Dauer, sondern insbesondere nach ihrem physiologischen Entstehungsmechanismus und ihrer funktionellen Bedeutung.

Physiologie der Schmerzentstehung

  • Nozizeption (Schmerzleitung)
    • Aktivierung spezialisierter Nozizeptoren durch mechanische, thermische oder chemische Reize.
    • Weiterleitung über A-Delta- und C-Fasern ins Rückenmark (Hinterhorn).
    • Umschaltung auf zweite Neurone mit Aufstieg über den Tractus spinothalamicus zum Thalamus.
    • Zentrale Weiterverarbeitung in somatosensorischen Arealen, limbischem System und präfrontalem Cortex.
  • Endogene Schmerzmodulation
    • Beteiligung inhibitorischer Interneurone (z. B. GABA, Glycin) im Rückenmark.
    • Aktivierung des descendierenden schmerzhemmenden Systems über das Periaquäduktale Grau (PAG) und die Raphe-Kerne mit Serotonin- und Noradrenalinfreisetzung.
    • Beteiligung körpereigener Opioidsysteme (z. B. β-Endorphin, Enkephalin), die die Weiterleitung und Wahrnehmung von Schmerz hemmen.
  • Neuroplastizität bei chronischem Schmerz
    • Langfristige Reorganisation nozizeptiver Netzwerke („pain memory“) bei inadäquater oder fehlender Schmerztherapie.
    • Sensibilisierungsvorgänge (zentrale und periphere Sensitivierung) führen zu Hyperalgesie (verstärkte Schmerzempfindung) und Allodynie (Schmerz durch normalerweise nicht schmerzhafte Reize).

Schmerztypen – Klassifikation nach pathophysiologischen, funktionellen und ätiologischen Gesichtspunkten

1. Klassifikation nach Pathophysiologie

  • Nozizeptiver Schmerz
    • Reaktion auf Gewebeschädigung durch Aktivierung von Nozizeptoren.
    • Somatischer Schmerz
      • Ursprung: Haut, Muskeln, Knochen, Gelenke
      • Charakter: gut lokalisierbar, stechend, ziehend
      • Beispiele: postoperative Schmerzen (ICD-10: R52.0), Arthrose (M15–M19)
    • Viszeraler Schmerz
      • Ursprung: innere Organe
      • Charakter: dumpf, kolikartig, schlecht lokalisierbar
      • Beispiele: Gallenkolik (K80.3), Appendizitis (K35)
  • Neuropathischer Schmerz
    • Folge einer Schädigung oder Reizung peripherer oder zentraler Nerven.
    • Charakter: brennend, einschießend, elektrisierend, mit Parästhesien
    • Beispiele: diabetische Polyneuropathie (G63.2), Trigeminusneuralgie (G50.0), Zosterneuralgie (B02.2)
  • Noziplastischer Schmerz
    • Schmerz durch veränderte zentrale Schmerzverarbeitung ohne klare periphere Läsion.
    • Charakter: diffus, schwer lokalisierbar, oft mit vegetativen und affektiven Symptomen
    • Beispiele: Fibromyalgie (M79.7), Reizdarmsyndrom (K58), Spannungskopfschmerz (G44.2)
  • Psychogener Schmerz
    • Schmerz ohne somatisch fassbare Ursache, psychisch getriggert oder aufrechterhalten.
    • Charakter: wechselnd, schwer zu objektivieren, häufig mit psychischer Komorbidität
    • Beispiel: somatoforme Schmerzstörung (F45.4)

2. Klassifikation nach Dauer und Funktion

  • Akuter Schmerz
    • Zeitlich begrenzte, physiologisch sinnvolle Reaktion auf Verletzung oder Erkrankung
    • Funktion: Schutz- und Warnsignal
    • Charakter: gut lokalisierbar, proportional zum auslösenden Reiz
    • Beispiel: akute Prellung, postoperativer Schmerz
    • ICD-10: R52.0 – Akuter Schmerz
  • Chronischer Schmerz
    • Dauer: länger als 3–6 Monate oder über den normalen Heilungsverlauf hinaus
    • Funktion: Verlust der Warnfunktion, häufig Entkopplung vom ursprünglichen Auslöser
    • Charakter: komplex, oft mit affektiven, kognitiven und sozialen Komponenten
    • Eigene Krankheitsentität mit erheblicher Beeinträchtigung der Lebensqualität
    • Subtypen:
      • Chronisch nozizeptiv (z. B. Gonarthrose, ICD-10: M17)
      • Chronisch neuropathisch (z. B. Phantomschmerz, ICD-10: G54.6)
      • Chronisch noziplastisch (z. B. Fibromyalgie, ICD-10: M79.7)
      • Chronisch psychogen (z. B. somatoforme Schmerzstörung, ICD-10: F45.4)
    • ICD-10: R52.2 – Andauernder Schmerz (Chronischer Schmerz)

3. Sonderformen und Mischtypen

  • Tumorschmerz
    • Multikausal durch Tumorinfiltration, Entzündung, Nervenschädigung
    • Häufig opioidpflichtig, palliativmedizinisch relevant
    • ICD-10: C79.5 (ossäre Metastasen)
  • Gemischter Schmerz (Mixed Pain)
    • Überlappung nozizeptiver, neuropathischer und psychogener Anteile
    • Beispiel: chronisches LWS-Syndrom mit radikulärer Beteiligung (M54.5, G54.1)
  • Postoperativer Schmerz
    • In der Regel akut, bei inadäquater Behandlung mit Chronifizierungsrisiko
    • ICD-10: T81.8 (postoperative Komplikationen)
  • Medikamenteninduzierter Schmerz
    • z. B. Opioid-induzierte Hyperalgesie
    • ICD-10: Y45.0 (Nebenwirkungen von Opioiden)

4. Häufige Schmerzformen im Alltag

  • Rückenschmerzen – oft gemischter Schmerztyp, häufig chronifizierend (M54.5)
  • Kopfschmerzen (Cephalgie) – Spannungskopfschmerz (G44.2), Migräne (G43), Cluster-Kopfschmerz (G44.0)
  • Gelenkschmerzen (Arthralgie) – degenerativ (Arthrose, M15–M19), entzündlich (Rheumatoide Arthritis, M05)
  • Bauchschmerzen (Abdominalschmerzen) – viszeraler Schmerz bei funktionellen oder organischen Ursachen (K59, K35)
  • Phantomschmerz – klassisch neuropathisch, nach Amputationen (G54.6)

Die wichtigsten verhaltensbedingten Risikofaktoren für Schmerzsyndrome

Ernährung

  • Chronisch entzündungsfördernde Ernährung
    • Eine westliche Ernährungsweise mit hohem Anteil an stark verarbeiteten Lebensmitteln, gesättigten Fettsäuren, Transfetten, raffiniertem Zucker und einem unausgeglichenen Verhältnis von Omega-6- zu Omega-3-Fettsäuren fördert systemische Inflammationsprozesse.
    • Diese low-grade-Inflammation begünstigt Sensitivierungsmechanismen im nozizeptiven System und steht im Zusammenhang mit chronischen Schmerzsyndromen wie Fibromyalgie, Migräne und chronischem Rückenschmerz.
  • Mikronährstoffmangel
    • Magnesium – Ein Mangel an Magnesium kann die neuromuskuläre Erregbarkeit erhöhen, was mit Spannungskopfschmerz, Migräne und myofaszialen Schmerzsyndromen assoziiert ist.
    • Vitamin D – Niedrige Vitamin-D-Spiegel werden mit erhöhtem Schmerzempfinden, chronischer Myalgie und muskuloskelettalen Schmerzen in Verbindung gebracht; mögliche Mechanismen sind inflammatorisch, neuromuskulär und neuroimmunologisch vermittelt.
    • B-Vitamine (insbesondere B1, B6, B12) – B-Vitamin-Defizite, insbesondere bei älteren Menschen oder unter Einnahme bestimmter Medikamente (z. B. Metformin, Protonenpumpenhemmer), können periphere Neuropathien begünstigen und die nozizeptive Reizverarbeitung stören [4].
    • Omega-3-Fettsäuren (Docosahexaensäure, Eicosapentaensäure) – Eine unzureichende Zufuhr reduziert die Bildung entzündungsmodulierender Eicosanoide und Resolvine, was die Chronifizierung von Schmerzen über neuroinflammatorische Mechanismen fördern kann.

Genussmittelkonsum

  • Rauchen
    • Nikotin verschlechtert die Durchblutung und hemmt Heilungsprozesse, was chronische Schmerzverläufe begünstigt.
  • Alkoholkonsum
    • Chronischer Alkoholkonsum kann neuropathische Schmerzen (z. B. Polyneuropathien) verstärken.

Drogenkonsum

  • Cannabinoide und Opioide

    • Langfristiger Konsum verändert die Schmerzverarbeitung zentral und kann paradoxe Hyperalgesien hervorrufen.

Körperliche Aktivität

  • Bewegungsmangel
    • Führt zu muskulären Dysbalancen, myofaszialen Triggerpunkten und erhöhter Schmerzempfindlichkeit.
  • Einseitige Belastung oder Überlastung
    • Fehlhaltungen, falsches Training oder repetitive Bewegungen fördern muskuloskelettale Schmerzsyndrome.

Psycho-soziale Situation

  • Chronischer Stress
    • Verstärkt die zentrale Schmerzverarbeitung (z. B. durch HPA-Achsen-Aktivierung) und begünstigt die Entwicklung eines Schmerzgedächtnisses.
  • Depressionen und Angststörungen
    • Häufig komorbid mit chronischen Schmerzen, insbesondere bei somatoformen Störungen.

Schlafqualität

  • Nicht-erholsamer Schlaf
    • Reduziert die Schmerztoleranz und kann bestehende Schmerzen verstärken.
  • Schlafstörungen
    • Häufig mit chronischen Schmerzsyndromen vergesellschaftet (z. B. Fibromyalgie, Kopfschmerzsyndrome).

Übergewicht (BMI ≥ 25; Adipositas)

  • Adipositas
    • Erhöht mechanische Belastungen auf Gelenke und Wirbelsäule und ist ein Risikofaktor für degenerative Schmerzsyndrome.
  • Viszerale Fettverteilung
    • Führt zur Ausschüttung proinflammatorischer Zytokine, die Schmerzprozesse beeinflussen können.

Die häufigsten Schmerzarten

Die wichtigsten diagnostischen Maßnahmen bei Schmerzsyndromen

1. Schmerzbezogene Anamnese und standardisierte Erhebungsskalen

Die systematische Schmerzanamnese bildet die Grundlage jeder Diagnostik und sollte multidimensional erfolgen:

  • Schmerzlokalisation – segmentale und projektive Zuordnung der Schmerzareale
  • Qualität und Charakter – z. B. brennend, stechend, dumpf, elektrisierend (Hinweis auf neuropathische Komponente)
  • Schmerzintensität
    • Visuelle Analogskala (VAS)
    • Numerische Rating-Skala (NRS)
    • Gesichtsskalen (v. a. bei Kindern und geriatrischen Patienten)
  • Zeitliches Muster – akut vs. chronisch, tageszeitliche Variation, Belastungsabhängigkeit
  • Verlauf und Einflussfaktoren – Linderung/Verschlechterung durch Bewegung, Ernährung, Stimmung etc.
  • Verlaufskontrolle – mittels Schmerztagebuch, Brief Pain Inventory (BPI) oder Pain Detect®-Fragebogen bei Verdacht auf neuropathische Komponenten
Bewertung: Die standardisierte Schmerzanamnese ist unverzichtbar für die erste Differenzierung nozizeptiv vs. neuropathisch vs. noziplastisch und zur Verlaufskontrolle

2. Körperliche und neurologische Untersuchung

  • Inspektion und Palpation – Detektion von Schwellungen, Muskelhartspann, Triggerpunkten oder Hyperalgesiearealen
  • Neurologische Untersuchung
    • Sensibilität – z. B. Prüfung von Berührung, Temperatur, Vibration
    • Motorik – Kraftprüfung, Reflexstatus, Koordination
    • Vegetative Funktionen – z. B. Hauttemperatur, Schweißverteilung
Bewertung: Wichtig zur objektiven Befundung bei (poly)neuropathischen oder muskuloskelettalen Schmerzursachen.

3. Medizingerätediagnostik (bildgebende Verfahren)

Je nach Lokalisation, Dauer und Verdachtsdiagnose:

  • Röntgenuntersuchung 
    • Indiziert bei akuten Traumata, degenerativen Gelenkerkrankungen
    • Vorteil: breiter Einsatz, kostengünstig
    • Nachteil: eingeschränkte Weichteildarstellung
  • Magnetresonanztomographie (MRT) 
    • Indikation: Bandscheibenvorfälle, Tumoren, Osteomyelitis (Knochenmarkentzündung), Nervenirritationen, entzündliche Gelenkerkrankungen
    • Vorteile: hohe Weichteilauflösung, keine Strahlenbelastung
    • Nachteil: höhere Kosten, begrenzte Verfügbarkeit
  • Computertomographie (CT) 
    • Indikation: komplexe knöcherne Läsionen, Frakturen, Tumorbeurteilung
    • Vorteil: schnelle Durchführung, gute Knochenauflösung
    • Nachteil: Strahlenexposition
  • Sonographie 
    • Indikation: Gelenkergüsse, Muskel-/Sehnenverletzungen, Nervenkompressionssyndrome (z. B. Karpaltunnel)
    • Vorteil: dynamisch einsetzbar, keine Strahlenbelastung
Bewertung: Die Wahl des Verfahrens richtet sich strikt nach der klinischen Fragestellung. Bildgebung ist nicht primär zur Erklärung chronischer Schmerzen geeignet.

4. Labordiagnostik

Die Labordiagnostik dient v. a. dem Ausschluss entzündlicher, metabolischer oder autoimmunologischer Ursachen chronischer Schmerzsyndrome:

  • Entzündungsparameter – CRP, BSG, Leukozytenzahl
  • Vitamin-D-Spiegel (25-OH-Vitamin D) – bei generalisierten Muskelschmerzen oder Verdacht auf osteomalaziebedingte Beschwerden
  • Blutzucker und HbA1c – zum Ausschluss diabetischer Polyneuropathie (Nervenschädigung, die durch langjährigen, schlecht eingestellten Diabetes mellitus verursacht wird)
  • Harnsäure – bei Gichtverdacht
  • CK (Kreatinkinase) – bei muskulären Beschwerden oder Verdacht auf Myopathien (Muskelerkrankungen)
  • Leber- und Nierenwerte – bei Medikamentenmetabolisierung, z. B. unter NSAR oder Opioiden
  • Autoantikörper – ANA, Rheumafaktor, CCP-Ak, HLA-B27 je nach Verdacht auf Kollagenosen, Rheuma, Spondyloarthritis (Gruppe chronisch entzündlicher rheumatologischer Erkrankungen, die die Wirbelsäule und andere Gelenke betreffen können)
Bewertung: Laboruntersuchungen sind gezielt zur Abklärung chronischer oder systemischer Schmerzursachen sinnvoll. Evidenz hoch, v. a. bei rheumatologischen und metabolischen Differenzialdiagnosen.

5. Funktionelle Diagnostik und Bewegungsanalyse

  • Ganganalyse, Haltungsbeurteilung, Muskelkrafttests, Dynamometrie
  • Einsatz bei chronischen Rücken-, Gelenk- und muskuloskelettalen Schmerzen zur Identifikation funktioneller Dysbalancen oder Fehlhaltungen
Bewertung: Sinnvoll zur individualisierten Therapieplanung (z. B. Physiotherapie, orthopädietechnische Maßnahmen). Evidenz moderat.

6. Psychometrische Verfahren

Erfassung von psychischen und psychosozialen Einflussfaktoren auf das Schmerzgeschehen:

  • Beck-Depressions-Inventar (BDI)
  • Hospital Anxiety and Depression Scale (HADS)
  • Pain Catastrophizing Scale (PCS)
  • Skalen zur Lebensqualität (z. B. SF-36)
Bewertung: Bei chronischen Schmerzen essenziell zur Erkennung komorbider affektiver Störungen und zur Einleitung multimodaler Schmerztherapie. Evidenz hoch.

Welcher Arzt hilft Ihnen?

  • Hausarzt/Internist – Erste Anlaufstelle bei akuten oder unspezifischen Schmerzen zur Basisdiagnostik und Therapieeinleitung.
  • Schmerztherapeut – Fachärztlich weitergebildet in spezieller Schmerztherapie bei komplexen oder chronischen Schmerzsyndromen.
  • Neurologe – Abklärung von neuropathischen Schmerzen, zentralen Schmerzsyndromen oder neurogener Ursache.
  • Orthopäde/Unfallchirurg – Behandlung muskuloskelettaler Schmerzursachen, inklusive Interventionen und OP-Indikationsstellung.
  • Rheumatologe – Diagnostik und Therapie chronisch-entzündlicher Schmerzsyndrome (z. B. rheumatoide Arthritis, Kollagenosen).
  • Psychotherapeut/Psychiater – Behandlung chronischer Schmerzen mit psychogenen Ursachen oder psychosomatischer Mitbeteiligung.
  • Anästhesist (mit Zusatzbezeichnung Schmerztherapie) – Durchführung invasiver Verfahren wie Nervenblockaden, Infiltrationen oder PRT (periradikuläre Therapie).

Gesundheitscheck

Eine individuelle Therapie erfordert stets die Kenntnis Ihrer individuellen Gesundheitsrisiken und der mit verursachenden Faktoren Ihrer Erkrankung.

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