Tinnitus – Ursachen

Pathogenese (Krankheitsentstehung)

Der Tinnitus bezeichnet das Hören von Geräuschen in den Ohren ohne externe Schallquelle. Es wird zwischen subjektivem und objektivem Tinnitus unterschieden:

  • Subjektiver Tinnitus ist weitaus häufiger und tritt bei einer Vielzahl von Erkrankungen auf, ohne dass eine messbare externe Geräuschquelle vorhanden ist.
  • Objektiver Tinnitus ist seltener und wird durch Gefäßveränderungen oder Gefäßmissbildungen verursacht, die messbare Schallgeräusche erzeugen.

Primäre pathophysiologische Mechanismen

  • Neurale Entladungen und Phantomgeräusche: Die genaue Pathogenese des subjektiven Tinnitus ist unklar, es werden verschiedene Modelle diskutiert. Die Störung kann sich demnach in allen Abschnitten der zentralen auditorischen Bahn befinden und führt wahrscheinlich zu neuralen Entladungen, die die Ohrgeräusche produzieren [1]. Diese übermäßige neuronale Aktivität ist vergleichbar mit dem Mechanismus des Phantomschmerzes und wird häufig auf eine Hörminderung oder sensorischen Verlust zurückgeführt. Die verminderte Stimulation der Hörbahn durch externe Reize führt zu einer Übererregbarkeit der zentralen Neuronen, was schließlich als Ohrgeräusch wahrgenommen wird .
  • Fehlregulation in der zentralen Hörbahn: Die zentralen auditorischen Verarbeitungszentren im Gehirn sind möglicherweise ebenfalls an der Entstehung des Tinnitus beteiligt. Eine fehlregulierte Aktivität in diesen Zentren kann zu spontanen Entladungen führen, die als Geräusche wahrgenommen werden. Besonders der dorsale Cochleariskern und die Hörrinde (auditorischer Kortex) sind von gesteigerter Aktivität betroffen. Diese überaktive neuronale Verarbeitung kann mit einer Veränderung der Plastizität der auditorischen Zentren einhergehen, was die chronische Natur des Tinnitus erklärt.
  • Rolle der Hörminderung: Eine Hörminderung wird oft als zentraler Faktor in der Entstehung des Tinnitus angesehen. Der Verlust von sensorischen Inputs durch die geschädigten Haarzellen im Innenohr führt zu einer Fehlanpassung in der zentralen Verarbeitung von Geräuschen. Dies resultiert in der verstärkten Spontanaktivität der auditorischen Neuronen, die der Betroffene als Tinnitus wahrnimmt.

Sekundäre pathophysiologische Mechanismen

  • Somatosensorische Einflüsse: Ein weiterer Mechanismus, der die Entstehung von Tinnitus beeinflussen kann, ist eine abnorme Aktivität in somatosensorischen Afferenzen (Nervenfasern, die sensorische Informationen von Körpergeweben zum Gehirn leiten). Diese somatosensorischen Einflüsse können die Aktivität der zentralen Hörbahn modulieren und zu einer Verstärkung des Tinnitus führen. Diese Beobachtung erklärt, warum craniomandibuläre Dysfunktion (CMD) und Halswirbelsäulen-Beschwerden (HWS-Beschwerden) mit Tinnitus assoziiert sind.
    • Bei einer CMD (Funktionsstörungen des Kiefergelenks) oder HWS-Problemen kann es zu einer Fehlregulation der Nervenimpulse kommen, die auf das zentrale Hörsystem einwirken. Die Interaktion zwischen dem somatosensorischen und dem auditorischen System könnte erklären, warum Tinnitus bei manchen Patienten durch Bewegung der Halswirbelsäule oder Druck auf das Kiefergelenk verstärkt oder verändert wird.
  • Gefäßveränderungen bei objektivem Tinnitus: Beim objektiven Tinnitus liegen meist vaskuläre (Gefäß-) Veränderungen vor. Diese beinhalten Gefäßmissbildungen oder Turbulenzen im Blutfluss (z. B. bei Arteriovenösen Malformationen oder Aneurysmen), die Schallgeräusche erzeugen können, die vom Betroffenen wahrgenommen werden. Diese mechanischen Schallquellen unterscheiden sich vom subjektiven Tinnitus, da sie tatsächlich durch externe Messgeräte nachgewiesen werden können.

Klinische Manifestation

Leitsymptome

  • Ohrgeräusche (meistens subjektiv): Wahrnehmung von Summen, Brummen, Zischen oder Pfeifen, ohne dass eine externe Geräuschquelle existiert.
  • Veränderung der Intensität: Die Lautstärke des Tinnitus kann durch Bewegungen von Kiefer, Hals oder Nacken beeinflusst werden, insbesondere bei somatosensorischer Beteiligung.
  • Verschlechterung bei Stress oder Müdigkeit: Psychosoziale Faktoren wie Stress, Schlafmangel oder emotionaler Druck können den Tinnitus verstärken.

Fortgeschrittene Symptome

  • Begleitende Hörminderung: Häufig ist der Tinnitus mit einer sensorineuralen Hörminderung verbunden, insbesondere in den hohen Frequenzen.
  • Beeinträchtigung der Lebensqualität: Chronischer Tinnitus kann zu Schlafstörungen, Konzentrationsproblemen und emotionalem Stress führen.
  • Hyperakusis: Überempfindlichkeit gegenüber Alltagsgeräuschen, die oft mit Tinnitus assoziiert ist.

Zusammenfassung und klinische Relevanz

Die Pathogenese des Tinnitus ist multifaktoriell und bislang nicht vollständig verstanden. Die Erkrankung kann durch neuronale Entladungen und eine Fehlregulation der zentralen Hörbahn ausgelöst werden, oft als Folge einer Hörminderung. Somatosensorische Einflüsse, wie CMD oder HWS-Beschwerden, spielen ebenfalls eine bedeutende Rolle, insbesondere bei Patienten, bei denen der Tinnitus durch Bewegung verstärkt wird. Objektiver Tinnitus ist dagegen häufig auf Gefäßveränderungen zurückzuführen. Eine genaue Bestimmung der zugrunde liegenden Mechanismen ist entscheidend für die Therapieansätze, die je nach Ätiologie (Ursache) und Verlauf des Tinnitus variieren.

Ätiologie (Ursachen)

Biographische Ursachen

  • Genetische Belastung – je nach genauer Ursache können auch genetische Veränderungen zugrunde liegen, wie bei der Otosklerose (Verknöcherung der Gehörknöchelchen)
  • Lebensalter – höheres Alter (> 65 Jahre)
  • Berufe – Berufe mit erhöhter Lärmbelastung: z. B. professionelle Musiker haben ein um 57 Prozent erhöhtes Risiko für einen Tinnitus [4]; des Weiteren Berufe im Baugewerbe und in der Landwirtschaft [6].

Verhaltensbedingte Ursachen

  • Genussmittelkonsum
    • Hoher Alkoholkonsum – Kann die Durchblutung im Innenohr beeinträchtigen und Tinnitus-Symptome verstärken.
    • Nikotin (Tabak) – Führt zu einer Verengung der Gefäße im Innenohr und kann die Entstehung oder Verstärkung von Tinnitus begünstigen.
  • Drogenkonsum
    • Stimulanzien wie Amphetamine oder Kokain – Können die zentrale Hörverarbeitung beeinträchtigen und Tinnitus-Symptome hervorrufen.
  • Körperliche Aktivität
    • Bewegungsmangel – Ein sedentärer Lebensstil, d. h. ein Verhalten mit geringem Energieverbrauch, erhöht das Risiko für Gefäßerkrankungen, die eine Rolle bei Tinnitus spielen können.
    • Übermäßige körperliche Belastung – Kann durch vermehrte Druckschwankungen im Innenohr Tinnitus begünstigen.
  • Psycho-soziale Situation
    • Chronischer Stress (Dauerstress) – Langanhaltender Stress ist ein häufig genannter Auslöser für Tinnitus, da er die zentrale Verarbeitung von Geräuschen beeinflussen kann.
    • Psychische Belastungen – Depressionen und Angststörungen können die Wahrnehmung von Tinnitus verstärken.
  • Schlafqualität
    • Schlafmangel oder schlechte Schlafqualität – Verstärkt die Wahrnehmung von Tinnitus durch eine erhöhte Aktivität des Gehirns in Ruhephasen.

Krankheitsbedingte Ursachen

Blut, blutbildende Organe – Immunsystem (D50-D90)

  • Anämie (Blutarmut)

Endokrine, Ernährungs- und Stoffwechselkrankheiten (E00-E90)

  • Thyreotoxikose – Schilddrüsenüberfunktion mit exzessiver Hormonproduktion

Herzkreislaufsystem (I00-I99)

  • Gefäßerkrankungen wie Anomalien der Hirngefäße: Aneurysmen, AV-Shunts etc. (pulssynchroner Tinnitus)
  • Hypertonie (Bluthochdruck) (möglicherweise keine Komorbidität/Begleiterkrankung) [8]
  • Hypotonie (niedriger Blutdruck)

Infektiöse und parasitäre Krankheiten (A00-B99)

  • Borreliose

Muskel-Skelett-System und Bindegewebe (M00-M99)

  • Zervikalsyndrom – Syndrom der Halswirbelsäule mit Nervenkompression/-schädigung

Neubildungen – Tumorerkrankungen (C00-D48)

  • Akustikusneurinom (AKN) – benigner (gutartiger) Tumor, der von den Schwanńschen Zellen des vestibulären Anteils des VIII. Hirnnerven, dem Hör- und Gleichgewichtsnerven (Nervus vestibulocochlearis), ausgeht und im Kleinhirnbrückenwinkel oder im inneren Gehörgang gelegen ist. Das Akustikusneurinom ist der häufigste Kleinhirnbrückenwinkeltumor. Mehr als 95 % aller AKN sind einseitig. Bei Vorliegen von Neurofibromatose Typ 2 tritt das Akustikusneurinom hingegen typischerweise beidseitig auf.

Ohren – Warzenfortsatz (H60-H95)

  • Chronische Lärmschwerhörigkeit
  • Gehörgangsverschluss durch Cerumen obturans (Cerumen; Ohrenschmalz) oder Fremdkörper (→ Hörminderung)
  • Hörsturz – akute Hörminderung
  • Hörverlust – mit unspezifischem und sensorineuralem Hörverlust (Erhöhung um 94 % bzw. um 268 % erhöht) [8]
  • Knalltrauma
  • Morbus Menière – Innenohrerkrankung mit Schwindel
  • Myoklonien (Zuckungen) der Mittelohrmuskulatur
  • Offene Tuba auditiva – Verbindung zwischen Ohr und Nase, die normalerweise durch Schleimhaut verschlossen ist
  • Otitis media (Mittelohrentzündung) – hier insbesondere die eitrige und seröse Otitis media nach chronischen Infektionen (Risikoerhöhung 63 %) [8]
  • Otosklerose – zunehmende Schwerhörigkeit durch Knochenumbauprozesse
  • pulssynchrone Ohrgeräusche (pulssynchroner Tinnitus)
    • arterielle Ursachen (Atherosklerose/Arteriosklerose, Dissektion, fibromuskuläre Dysplasie)
    • arteriovenöse Fisteln und gefäßreiche Tumoren an der Schädelbasis
    • venöse Ursachen (intrakranielle Hypertension und anatomische Normvarianten basaler Venen und Sinus)
  • Presbyakusis (Altersschwerhörigkeit)
  • Trommelfellperforation – Riss im Trommelfell

Psyche – Nervensystem (F00-F99; G00-G99)

  • Depression
  • Psychosomatische Erkrankungen

Symptome und abnorme klinische und Laborbefunde, die anderenorts nicht klassifiziert sind (R00-R99)

  • Chronische Schmerzen – Chancenverhältnis für länger als fünf Minuten dauernden Tinnitus für Patienten mit chronischen Schmerzen +64 % höher; bei wöchentlich hochgradig quälenden Tinnitus stieg das Verhältnis sogar um +144 % [7]

Verletzungen, Vergiftungen und andere Folgen äußerer Ursachen (S00-T98)

  • Schädel-Hirn-Trauma (SHT) – Schädel-Hirn-Verletzungen

Medikamente [2, 3]

  • Antiarrhythmika
    • Klasse Ib-Antiarrhythmika (Chinidin, Lidocain, Mexiletin (1-10 %))
    • Klasse Ic-Antiarrhythmika (Flecainid, Propafenon)
    • Nicht klassifizierte (Adenosin)
  • Antibiotika
    • Aminoglykoside (Gentamycin (Gentamicin), Streptomycin)
    • Cephalosporine (Cefepim, Cefpodoxim)
    • Gyrasehemmer
    • Fluorchinolone (Ciprofloxacin, Moxifloxacin)
    • Makrolidantibiotika/Makrolide (Roxithromycin)
    • Monobactame (Aztreonam)
  • Antidepressiva
    • Noradrenalin- und Dopamin-Wiederaufnahmehemmer (NDRI) – Bupropion
    • Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) – Citalopram, Paroxetin, Sertralin (1-10 %)
    • tetrazyklische Antidepressiva (Maprotilin)
    • Trizyklische Antidepressiva (Amitriptylin, Clomipramin, Imipramin)
  • Antihistaminika (Cetirizin, Loratadin)
  • Antihypertensiva
    • ACE-Hemmer (Captopril, Enalapril, Quinapril, Ramipril)
    • AT1-Antagonisten (Valsartan)
    • Calciumantagonisten (Amlodipin, Verapamil)
  • Antimalariamittel (Artesunat, Chloroquin, Chinin)
  • Antimykotikum (Posaconazol, Voriconazol)
  • Antikoagulantien
    • Thrombozytenaggregationshemmer (Ticlopidin)
  • Antirheumatika, nichtsteroidale (NSAR) – Acetylsalicylsäure (ASS), Ibuprofen, Indometacin (> 10 %), Meloxicam, Piroxicam (1-10 %)
  • Antidementiva (Galantamin)
  • Antiepileptika
    • Funktionalisierte Aminosäure (Lacosamid)
    • Gabapentin
    • Klassische Antiepileptika (Valproinsäure)
  • Anxiolytika (Buspiron, 1-10 %)
  • Betablocker
    Betablocker, systemische
    • Nicht selektive Betablocker (z. B. Carvedilol, Pindolol, Propranolol, Soltalol)
    • Selektive Betablocker (z. B. Atenolol, Acebutolol, Betaxolol, Bisoprolol, Celiprolol, Nebivolol, Metoprolol)
  • Bisphosphonate – Risedronsäure
  • Codein
  • COX-Hemmer – Celecoxib, Naproxen (1-10 %)
  • Diuretika
    • Schleifendiuretika (Furosemid, Etakrinsäure)
  • HCV-Proteaseinhibitoren – Boceprevir
  • Hormone
    • Corticosteroide (Loteprednoletabonat)
    • GnRH-Analoga (Buserelin, Triptorelin)
    • orale Kontrazeptiva
    • Prostaglandin E1 (Misoprostol)
  • Immunsuppressiva (Tacrolimus)
  • Interferone (Interferon alfa 2b, Peginterferon alfa-2b)
  • Intestinaler Entzündungshemmer (Sulfasalazin (INN))
  • Kontrastmittel (Gadobensäure)
  • Lipidsenker
    • Statine (Atorvastatin
  • Lokalanästhetika (Articain, Lidocain)
  • Monoklonale Antikörper (Adalimumab, Alemtuzumab)
  • Parasympatholytika (Oxybutynin)
  • Parkinsonmittel (Budipin)
  • Proteaseinhibitoren (Lopinavir)
  • Protonenpumpenhemmer
  • Sympathomimetika 
  • Triptane (Frovatriptan)
  • Virostatika (Imiquimod)
  • Zytostatika (Anagrelid, Bortezomib, Cisplatin (Risikoerhöhung 181 %) [8], Imatinib, Temozolomid (1-10 %))

Umweltbelastungen  – Intoxikationen (Vergiftungen)

  • Lärmbelastung am Arbeitsplatz (Risikoerhöhung um 70 %) [8]

Weiteres

  • Craniomandibuläre Dysfunktion (CMD) – wie beispielsweise angeborene Zahnfehlstellung, Bruxismus (Zähneknirschen), einseitiges Kauen; Myoarthropathie des Kiefergelenkes
  • Chronische Lärmbelastung inkl. Freizeitlärm, z. B. tragbare Musik-Player  (→ Hörminderung)
  • Verminderte Lärmintoleranz in jungen Jahren [5]

Literatur

  1. A Vogel, A Gschnait: Aktuelle Aspekte in der Diagnostik und Therapie des Tinnitus. Der Mediziner 10/2008. http://www.mediziner.at/content/publikationen/1225353391_2_8.pdf
  2. Biesinger, E.: Tinnitus – Endlich Ruhe im Ohr. Trias, Stuttgart (2007)
  3. Hesse, G.: Tinnitus. Thieme, Stuttgart (2008)
  4. Schink T et al.: Incidence and relative risk of hearing disorders in professional musicians. Occupational & Environmental Medicine (doi:10.1136/oemed-2014-102172)
  5. Sanchez TG et al.: Tinnitus is associated with reduced sound level tolerance in adolescents with normal audiograms and otoacoustic emissions. Sci Rep 2016, online 6. Juni; doi: 10.1038/srep27109
  6. Couth, S, Mazlan, N, Moore, D, Munro, K & Dawes, P 2019, 'Hearing difficulties and tinnitus in construction, agricultural, music and finance industries: contributions of demographic, health and lifestyle factors', Trends in Hearing (Online) November 20, 2019; https://journals.sagepub.com/doi/full/10.1177/2331216519885571
  7. Ausland JHL et al.: Tinnitus and associations with chronic pain: The population-based Tromsø Study (2015–2016). PLoS ONE 16(3): e0247880; https://doi.org/10.1371/journal.pone.0247880
  8. Biswas R et al.: Low Evidence for Tinnitus Risk Factors: A Systematic Review and Meta‑analysis. J Assoc Res Otolaryngol 2023;24(1):81-94; https://doi.org/10.1007/s10162-022-00874-y