Hörsturz – Ursachen
Pathogenese (Krankheitsentstehung)
Der Hörsturz ist eine plötzlich auftretende, akute Innenohrschwerhörigkeit, deren genaue Ursache oft unklar bleibt. Aufgrund der ungeklärten Ätiologie wird er auch als idiopathischer Hörsturz bezeichnet. Verschiedene Faktoren und Mechanismen werden jedoch als mögliche Ursachen vermutet, wobei insbesondere rheologische, vaskuläre, ionische und immunologische Störungen im Mittelpunkt der Diskussion stehen.
Primäre pathophysiologische Mechanismen
Rheologische Regulationsstörungen
Rheologische Störungen betreffen die Fließeigenschaften des Blutes. Veränderungen der Viskosität (Zähflüssigkeit) oder des Fließverhaltens des Blutes können zu einer unzureichenden Sauerstoff- und Nährstoffversorgung des Innenohrs führen. Dies könnte die Haarzellen und andere Strukturen des Innenohrs schädigen und zu einer akuten Schwerhörigkeit führen. Beispiele für solche Störungen sind:
- Erhöhte Viskosität des Blutes: Dickflüssigeres Blut hat eine geringere Fließfähigkeit, was die Versorgung des Innenohrs behindern kann.
- Veränderungen in der Blutzirkulation: Störungen der Mikrozirkulation können die Blutversorgung des Innenohrs beeinträchtigen und zu einem Hörsturz führen.
Vaskuläre Regulationsstörungen (Durchblutungsstörungen)
Durchblutungsstörungen im Innenohr gelten als eine der Hauptursachen des Hörsturzes. Diese können durch verschiedene Mechanismen verursacht werden:
- Mikroembolien: Kleinste Blutgerinnsel oder Embolien können die feinen Blutgefäße im Innenohr verschließen, was zu einer Minderdurchblutung und einem Hörverlust führt.
- Venöse Stase: Eine Stauung des venösen Blutes kann die Sauerstoffversorgung des Innenohrs beeinträchtigen, wodurch das empfindliche Gewebe geschädigt wird.
Störung der Ionenkanäle
Ionenkanäle spielen eine entscheidende Rolle bei der Signalübertragung im Innenohr. Eine Störung der Ionenkanäle könnte den normalen Flüssigkeitsaustausch im Innenohr beeinträchtigen und zu einem endolymphatischen Hydrops (Ansammlung von Flüssigkeit im Innenohr) führen. Diese Störung könnte die Reizleitung zwischen den Haarzellen und den Hörnerven beeinflussen und somit zu einem Hörverlust führen.
- Endolymphatischer Hydrops: Eine vermehrte Ansammlung von endolymphatischer Flüssigkeit im Innenohr kann die Haarzellen und den Hörnerv belasten und eine Schwerhörigkeit verursachen.
Immunologische Vorgänge
Es wird auch vermutet, dass immunologische Mechanismen an der Entstehung eines Hörsturzes beteiligt sein könnten. Neurotrope Viren, also Viren, die das Nervensystem angreifen, könnten dabei eine Rolle spielen. Diese Viren könnten das Innenohr und die Hörnerven schädigen und dadurch einen akuten Hörverlust auslösen.
- Viren wie Herpesviren könnten Entzündungen im Innenohr verursachen, die das Hörvermögen beeinträchtigen.
Sekundäre pathophysiologische Mechanismen
- Zellschädigung: Die gestörte Durchblutung und Flüssigkeitsansammlung im Innenohr können die Haarzellen und das Nervengewebe irreversibel schädigen, was zu anhaltenden Hörverlusten führt.
- Entzündungsprozesse: Bei einer Beteiligung immunologischer Mechanismen können entzündliche Reaktionen im Innenohr das Gewebe schädigen und zu einer Funktionsstörung der Hörnerven führen.
Klinische Manifestation
Leitsymptome
- Plötzliche Hörminderung: Betroffene berichten von einem akuten Hörverlust auf einem Ohr.
- Ohrgeräusche (Tinnitus): Häufig begleitet ein Tinnitus den Hörsturz.
- Druckgefühl im Ohr: Ein unangenehmes Druckempfinden im betroffenen Ohr.
- Schwindel: In einigen Fällen kann ein Hörsturz auch von Schwindel begleitet werden.
Fortgeschrittene Symptome
- Dauerhafte Schwerhörigkeit: Bei ausbleibender Behandlung kann die Hörminderung bestehen bleiben.
- Gleichgewichtsstörungen: Insbesondere bei Beteiligung des Gleichgewichtsorgans kann es zu Gleichgewichtsstörungen kommen.
Zusammenfassung und klinische Relevanz
Die Pathogenese des Hörsturzes ist nicht vollständig geklärt, doch scheinen verschiedene Mechanismen wie rheologische, vaskuläre, ionische und immunologische Störungen eine Rolle zu spielen. Durch Störungen der Durchblutung, Flüssigkeitsansammlungen und möglicherweise Entzündungen wird das Innenohr geschädigt, was zu einer plötzlichen Schwerhörigkeit führen kann. Eine frühzeitige Behandlung ist entscheidend, um dauerhafte Schäden zu vermeiden.
Ätiologie (Ursachen)
Verhaltensbedingte Ursachen
- Genussmittelkonsum
- Tabak (Rauchen)
- Psycho-soziale Situation
- Psychische Belastungen
- Stress
Krankheitsbedingte Ursachen
- Akustikusneurinom (AKN) ‒ gutartiger Tumor, der von den Schwann'schen Zellen des vestibulären Anteils des VIII. Hirnnerven, dem Hör- und Gleichgewichtsnerven (Nervus vestibulocochlearis), ausgeht und im Kleinhirnbrückenwinkel oder im inneren Gehörgang gelegen ist. Das Akustikusneurinom ist der häufigste Kleinhirnbrückenwinkeltumor. Mehr als 95 % aller AKN sind einseitig. Bei Vorliegen von Neurofibromatose Typ 2 tritt das Akustikusneurinom hingegen typischerweise beidseitig auf.
- Arteria-vertebralis-Insuffizienz – Unvermögen der Wirbelsäulenarterie, genügend Blut ans Ohr zu pumpen
- Borreliose – bakterielle Infektion, die durch Zecken übertragen wird
- Cholesteatom (Synonym: Perlgeschwulst) des Ohres – Einwucherung von mehrschichtig verhornendem Plattenepithel in das Mittelohr mit nachfolgender chronisch-eitriger Entzündung des Mittelohrs
- Diabetes mellitus
- Einblutungen – beispielsweise bei Therapie mit Antikoagulantien (gerinnungshemmende Medikamente wie Phenprocoumon)
- Herpes zoster (Gürtelrose)
- Herzerkrankungen, die zu eingeschränkter Leistungsfähigkeit führen, wie beispielsweise Herzinsuffizienz (Herzschwäche)
- HWS-Gefügestörungen – Veränderungen an der Halswirbelsäule
- Innenohrembolie – Verschluss einer das Innenohr versorgenden Arterie mit resultierender Minderversorgung
- Perilymphfistel – durch Verletzung der Grenze zwischen Innen- und Mittelohr auftretende Verlagerung der Innenohrflüssigkeit ins Mittelohr
- Paraneoplastische Ursachen (in ca. 2 % der Fälle)
- Plötzliche Blutdruckabsenkung
- Schädelbasisfraktur
- Sludge-Phänomen – Verklumpung des Blutes aufgrund von Blutviskositätsstörungen
- Vasomotorische Störungen – Störungen in der Regulation der Gefäßweite
- Virusinfektionen (in ca. 13 % der Fälle) wie beispielsweise Meningitis, Syphilis (Lues), HIV
Labordiagnosen – Laborparameter, die als unabhängige Risikofaktoren gelten
- Hyperlipidämie (Fettstoffwechselstörung) – Gesamtcholesterin; Hypertriglyzeridämie (Fettstoffwechselstörung, mit Erhöhung der Triacylglyceride (Triglyceride) im Blut): 54 % mehr Fälle von plötzlichen sensorineuralen Hörverlusts (SSNHL) [2]
- Hyperurikämie (Erhöhung des Harnsäurespiegels im Blut)
Medikamente
- Trizyklische Antidepressiva (TZA) und Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRI) – Im Vergleich zu Personen ohne Antidepressivum war das Risiko für einen Hörsturz unter einem SNRI um fast 80 % größer, unter einem Selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) um 36 % und unter einem TZA um 55 % [1].
Einschränkung: Kohortenstudie, Kausalzusammenhang nicht belegt
Umweltbelastung – Intoxikationen (Vergiftungen)
- Explosionstrauma, Knalltrauma
In ca. 70 % der Fälle liegt ein idiopathischer Hörsturz vor!
Literatur
- Zhong PX et al.: Antidepressants and risk of sudden sensorineural hearing loss: a population-based cohort study. Int J Epidemiol 2021; https://doi.org/10.1093/ije/dyab023
- Simões JFCPM et al.: Cardiovascular Risk and Sudden Sensorineural Hearing Loss: A Systematic Review and Meta-Analysis. Laryngoscope 2022; https://doi.org/10.1002/lary.30141