Neurogene Blase – Ursachen

Pathogenese (Krankheitsentstehung)

Die neurogene Blasenfunktionsstörung ist auf eine Beeinträchtigung des koordinierten Zusammenspiels zwischen afferenten sensorischen und efferenten motorischen Nervenimpulsen zurückzuführen. Diese Störung kann auch durch eine fehlerhafte Verarbeitung der Informationen im zentralen Nervensystem (ZNS) bedingt sein.

Formen der neurogenen Blasenfunktionsstörung

Im Rahmen der Pathogenese können verschiedene Formen der neurogenen Dysfunktion der Harnblase unterschieden werden, basierend auf der Klassifikation der International Continence Society (ICS). Die Blasenfunktion wird dabei in Bezug auf Detrusoraktivität (Harnblasenmuskel), Sphincter externus (äußerer Schließmuskel) und Sensibilität klassifiziert.

Im Sinne der Pathogenese kann man die folgenden Formen der neurogenen Dysfunktion der Harnblase unterscheiden (Klassifikation der ICS – International Continence Society) 

Detrusoraktivität (Harnblasenmuskel) Normal Hyperreflexie Hyporeflexie
Sphincter externus (äußerer Schließmuskel) Normal Hyperreflexie Hyporeflexie
Sensibilität Normal Hypersensitivität Hyposensitivität

Diese Tabelle zeigt, dass eine Vielzahl von Kombinationen von Funktionsstörungen der Harnblase entstehen kann, was unterschiedliche klinische Erscheinungsbilder verursacht.

Typische Konstellationen der Blasenfunktionsstörungen

Detrusorüberaktivität

  • Bei einer Detrusorüberaktivität handelt es sich um eine Überaktivität des Harnblasenmuskels (detrusor overactivity). Diese Störung tritt häufig als Folge von Schädigungen des Nervensystems auf, die durch Erkrankungen, Unfälle oder angeborene Fehlbildungen verursacht werden. Beispiele hierfür sind:
    • Zentrale degenerative Erkrankungen wie Morbus Parkinson oder Multiple Sklerose.
    • Dementielle Syndrome, die das Nervensystem beeinflussen.

Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie (DSD)

  • Die Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie ist eine Störung, bei der das Zusammenwirken der bei der Blasenentleerung beteiligten anatomischen Strukturen gestört ist. Klassischerweise tritt diese Störung auf bei:
    • Rückenmarksverletzungen.
    • Patienten mit Multisystematrophie oder Multiple Sklerose (MS).

Hypokontraktiler Detrusor

  • Ein hypokontraktiler Detrusor liegt vor, wenn der Harnblasenmuskel nicht mehr ausreichend kontrahieren kann. Dies kann auf verschiedene Ursachen zurückzuführen sein, darunter:
    • Polyneuropathie (20-40 % der Fälle).
    • Bandscheibenprolaps (5-18 % der Fälle).
    • Multiple Sklerose (MS), die in bis zu 20 % der Fälle eine Beeinträchtigung der Blasenkontraktion verursacht.
    • Iatrogene Schädigungen nach Operationen, wie z. B. nach einer Hysterektomie (Entfernung der Gebärmutter) oder einer Rektumresektion (operative Teilentfernung des Mastdarms unter Belassung des Schließmuskelapparates).

Hypoaktiver Sphinkter

  • Ein hypoaktiver Sphinkter tritt auf, wenn der äußere Schließmuskel der Harnblase nicht mehr reflektorisch kontrahiert, wenn der abdominelle Druck ansteigt. Dies führt zu einem unkontrollierten Harnverlust. Mögliche Ursachen sind:
    • Periphere Läsionen, die den Sphinktermuskel betreffen und seine normale Funktion beeinträchtigen.
Zusammenfassung und klinische Relevanz

Die neurogene Blasenfunktionsstörung ist eine komplexe Störung, die durch eine Vielzahl von Mechanismen verursacht werden kann, darunter Schädigungen des zentralen und peripheren Nervensystems. Die Kombinationen aus hyperreflektorischer, hyporeflektorischer und sensorischer Dysfunktion führen zu unterschiedlichen Formen der Blasenfunktionsstörung, die spezifische Behandlungsansätze erfordern. Detrusorüberaktivität, Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie, hypokontraktiler Detrusor und hypoaktiver Sphinkter stellen typische Konstellationen dieser Störungen dar, die zu Harninkontinenz, Harnverhalt oder anderen Funktionsstörungen der Blase führen können.

Ätiologie (Ursachen)

Biographische Ursachen

  • Genetische Belastung
    • Genetische Erkrankungen
      • Spina bifida ‒ Spaltbildung in der Wirbelsäule, die während der Embroynalentwicklung auftritt (sporadisches, selten auch familiäres Auftreten)
  • Lebensalter – zunehmendes Alter: bei Frauen signifikant ab 44 Jahren und bei Männern signifikant ab 64 Jahren 

Krankheitsbedingte Ursachen [EAU Guidelines]

Angeborene Fehlbildungen, Deformitäten und Chromosomenanomalien (Q00-Q99)

  • Fehlbildungen wie:
    • Spina bifida (s. u. "Biographische Ursachen") → Inkontinenz (Blasenschwäche) bei > 50 %; urodynamisch auffällige Befunde bei 96 % 
    • Spinale Dysraphien, offen – Myelomeningozele, geschlossen (okkult) [Ursachen einer neurogenen Harnblasenfunktionsstörung bei Kindern: Prävalenz (Krankheitshäufigkeit): 85 %] [1]
    • Tethered-Cord-Syndrom – Fehlbildung, bei der die Ausläufer des Rückenmarks, das Filum terminale, oft durch einen fibrösen Strang mit der Rückenmarkshülle verwachsen, sodass der Conus medullaris ungewöhnlich tief verlagert wird (der sog. Konustiefstand); infolgedessen können neurologische Störungen auftreten; sporadisches Auftreten

Endokrine, Ernährungs- und Stoffwechselkrankheiten (E00-E90)

  • Diabetes mellitus mit Polyneuropathie (Erkrankungen, bei denen mehrere oder viele periphere Nerven geschädigt sind)
  • Funikuläre Myelose (Synonym: funikuläre Spinalerkrankung) – Entmarkungskrankheit (Degeneration des Hinterstranges, des Seitenstranges und eine Polyneuropathie), die durch einen Vitamin-B12-Mangel ausgelöst wird; Symptomatik: Ausfälle der Motorik und Sensibilität, die sich bis zu einer Querschnittslähmung verschlimmern können; Enzephalopathie (Gehirnerkrankung) unterschiedlichen Ausmaßes

Infektiöse und parasitäre Krankheiten (A00-B99)

  • Tabes dorsalis – Krankheitsbild, das sich im Quartärstadium der Syphilis (​Lues) entwickeln kann und durch eine Demyelinisierung der Hinterstränge gekennzeichnet ist (z. B. Gangstörungen, Sehstörungen bis hin zur Erblindung)

Muskel-Skelett-System und Bindegewebe (M00-M99)

  • Bandscheibenprolaps (BSP; Bandscheibenvorfall) → hypokontraktiler Detrusor

Neubildungen – Tumorerkrankungen (C00-D48)

  • Tumoren im Bereich des Zentralnervensystems/Rückenmarks → Inkontinenz vor allem bei frontalen Läsionen

Psyche – Nervensystem (F00-F99; G00-G99)

  • Apoplex (Schlaganfall) und andere zerebrovaskuläre Ereignisse (20-50 %) → Detrusorüberaktivität ( 71-80 % spontane Befundnormalisierung)
  • Arteria spinalis anterior-Syndrom (Synonym: Spinalis-anterior Syndrom) – neurologische Störungen, die durch Durchblutungsstörungen der Arteria spinalis anterior bedingt sind
  • Dementielle Syndrome (am häufigsten in Form der Alzheimer-Krankheit (Demenz vom Alzheimer-Typ, DAT)) → Detrusorüberaktivität
  • Diabetische Polyneuropathie → Drangbeschwerden, Dranginkontinenz, im weiteren Verlauf hyposensible Blase, hypo-/akontraktile Blase
  • Infantile Zerebralsklerose – neurologische Störung, deren ursächliche Schädigung des zentralen Nervensystems vor, während oder unmittelbar nach der Geburt auftritt
  • Funikuläre Myelose (Synonym: funikuläre Spinalerkrankung) – Entmarkungskrankheit (Degeneration des Hinterstranges, des Seitenstranges und eine Polyneuropathie/Erkrankungen des peripheren Nervensystems, die mehrere Nerven betreffen), die durch einen Vitamin-B12-Mangel ausgelöst wird; Symptomatik: Ausfälle der Motorik und Sensibilität, die sich bis zu einer Querschnittlähmung verschlimmern können; Enzephalopathie (krankhafte Zustände des Gehirns) unterschiedlichen Ausmaßes
  • Hydrocephalus ("Wasserkopf") → Urininkontinenz
  • Morbus Alzheimer
  • Morbus Parkinson (25-70 % der Patienten, in Abhängigkeit vom Krankheitsstadium) → Detrusorüberaktivität
  • Multiple Sklerose (MS) (50-90 % nach längerem Krankheitsverlauf) → 10 % haben bei Erkrankungsbeginn Miktionsstörungen (Störungen der Blasenentleerung), Detrusorüberaktivität (86 % im weiteren Verlauf) und/oder Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie oder hypokontraktiler Detrusor
  • Multisystematrophie (-50 %) → Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie
  • Myelitis, nicht näher bezeichnet
  • Periphere Läsionen → hypoaktiver Sphinkter
  • Periphere Neuropathien (z. B. nach Alkoholabusus) → Drangbeschwerden, Dranginkontinenz, im weiteren Verlauf hyposensible Blase, hypo-/akontraktile Blase
  • Polyneuropathie  (Oberbegriff für Erkrankungen des peripheren Nervensystems, die mit chronischen Störungen der peripheren Nerven oder Anteilen von Nerven einhergehen) → hypokontraktiler Detrusor
  • Syringomyelie – neurologische Erkrankung, die meist im mittleren Lebensalter beginnt und zu Höhlenbildung in der grauen Substanz des Rückenmarks führt
  • Zerebralsklerose → Detrusorüberaktivität

Verletzungen, Vergiftungen und andere Folgen äußerer Ursachen (S00-T98)

  • Rückenmarksschädigung, nicht näher bezeichnet → Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie; Detrusorüberaktivität; hypokontraktiler Detrusor
    • Läsionen im Bereich der Lendenwirbelsäule (degenerativ, Bandscheibenvorfälle, Lumbalkanalstenosen) → Miktionsbeschwerden bei 26 %, hypo-/ akontraktiler Detrusor, Blasenempfindungsstörungen, intrinsische Sphinkterinsuffizienz, Detrusorüberaktivität, Belastungsinkontinenz
  • Iatrogene Läsionen (Verletzungen die durch einen ärztlichen Eingriff entstanden sind) der Nerven im kleinen Becken → Miktionsstörungen mit Harnverhalt in bis zu 50 % der Fälle
  • Schädel-Hirn-Traumata (SHT), nicht näher bezeichnet → 60 % urodynamische auffällige Befunde; 44 % Speicherstörungen; 38 % Miktionbeschwerden

Weitere Ursachen

  • Operationen an der Wirbelsäule, im kleinen Becken (Rektumresektion/Mastdarmentfernung und Hysterektomie/Gebärmutterentfernung) → hypokontraktiler Detrusor
  • Sportunfälle
  • Strahlentherapie (Radiotherapie, Radiatio)

Literatur

  1. Adzick NS et al.: A randomized trial of prenatal versus postnatal repair of myelomeningocele. N Engl J Med 2011;364(11):993-1004

Leitlinien

  1. EAU Guidelines: Neuro-Urology. https://​uroweb.​org/​wp-content/​uploads/​EAU-Guidelines-on-Neuro-Urology-2020.​pdf