Harntransportstörung/Harnstau (Obstruktive Uropathie und Refluxuropathie) – Ursachen

Pathogenese (Krankheitsentstehung)

Die Harntransportstörung umfasst zwei Hauptformen: die obstruktive Uropathie, bei der der Abfluss des Harns aus der Niere behindert ist, und die Refluxuropathie, die durch den unphysiologischen Rückfluss von Harn in das Nierenbecken charakterisiert ist. Beide Formen können zu schwerwiegenden Nierenschäden führen, wenn sie unbehandelt bleiben.

Obstruktive Uropathie

Primäre pathophysiologische Mechanismen

Eine obstruktive Uropathie entsteht, wenn der Harnabfluss aus den Nieren, Harnleitern, der Blase oder der Harnröhre behindert ist. Die Ursachen können strukturelle Verengungen, mechanische Blockaden oder funktionelle Störungen sein.

  • Mechanische Obstruktionen: Die häufigsten Ursachen sind Harnsteine, Tumoren, Verletzungen oder angeborene Anomalien wie eine Ureterabgangsstenose (Verengung des Harnleiters an seinem Übergang zum Nierenbecken). Diese Blockaden führen dazu, dass sich der Harn oberhalb der Engstelle sammelt.
  • Dilatation der Harnwege: Durch den Rückstau des Harns kommt es zu einer Dilatation (Erweiterung) der Harnwege oberhalb der Blockade. In der Niere kann sich das Nierenbecken erweitern, was als Hydronephrose bezeichnet wird. Diese Erweiterung erhöht den Druck auf das Nierengewebe und kann die Nierenfunktion beeinträchtigen.
  • Druckschäden: Der anhaltend erhöhte Druck in den Harnwegen führt zu Nierenschäden. Der Druck auf das Nierengewebe reduziert die Durchblutung der Niere, was zu einer Ischämie (verminderter Blutversorgung) und letztendlich zu einer Schädigung der Nephrone (funktionelle Einheiten der Niere) führt.
  • Nierenfunktionsstörung: Ohne Behandlung kommt es zu einer fortschreitenden Verschlechterung der Nierenfunktion. Die Anhäufung von Harn in den Nieren kann die Filtrationsfähigkeit der Niere erheblich beeinträchtigen, was schließlich zu einer Niereninsuffizienz (gestörte Nierenfunktion) führen kann.

Klinische Manifestation der obstruktiven Uropathie

  • Flankenschmerzen: Oft wellenartige Schmerzen, die durch den Harnstau und die Dehnung des Nierenbeckens verursacht werden.
  • Harnverhalt: Der Harn kann nicht oder nur unter Schmerzen abgelassen werden.
  • Hämaturie (Blut im Urin): Kann durch mechanische Schäden an der Harnwegsschleimhaut auftreten.
  • Infektionen: Ein Harnstau begünstigt das Wachstum von Bakterien und kann zu wiederholten Harnwegsinfektionen führen.

Refluxuropathie

Primäre pathophysiologische Mechanismen

Die Refluxuropathie wird durch einen vesikorenalen Reflux (VUR) verursacht, bei dem es zu einem unphysiologischen Rückfluss von Harn aus der Blase in die Harnleiter und das Nierenbecken kommt. Dieser Rückfluss ist das Ergebnis einer Fehlfunktion des Vesikoureteralen Übergangs (Vesikoureteraler Übergang ist die Verbindung zwischen Harnleiter und Blase), der normalerweise den Rückfluss von Harn verhindert.

  • Vesikorenaler Reflux: Der Reflux entsteht, wenn die Klappe am Übergang zwischen Harnleiter und Blase nicht richtig funktioniert. Dies kann angeboren sein oder sich sekundär nach wiederholten Infektionen oder durch eine strukturelle Anomalie entwickeln. Der Harn fließt dadurch bei jedem Wasserlassen nicht nur in Richtung Harnröhre, sondern auch zurück in die Harnleiter und bis in das Nierenbecken.
  • Rückfluss von infektiösem Harn: Da der Harn aus der Blase oft mit Bakterien kontaminiert ist, ermöglicht der Reflux eine bakterielle Aszension (Aufstieg von Bakterien) in die Niere. Dies führt zu rezidivierenden Harnwegsinfektionen und erhöht das Risiko für Pyelonephritis (Nierenbeckenentzündung). Wiederholte Entzündungen und Infektionen können zu einer Nierenvernarbung (Refluxnephropathie) führen.
  • Nierenfunktionsverlust: Der anhaltende Rückfluss und die damit verbundene Entzündungsreaktion führen im Laufe der Zeit zu Nierenvernarbungen, die die Nierenfunktion erheblich beeinträchtigen können. In schweren Fällen kann dies zu einer chronischen Niereninsuffizienz führen.

Klinische Manifestation der Refluxuropathie

  • Wiederkehrende Harnwegsinfektionen: Häufige Infektionen der Harnwege, insbesondere bei Kindern, sind ein typisches Zeichen des vesikorenalen Refluxes.
  • Fieberhafte Pyelonephritis: Die bakterielle Aszension in die Niere führt zu hochfieberhaften Nierenbeckenentzündungen, die eine dringende Behandlung erfordern.
  • Bauch- oder Flankenschmerzen: Schmerzen durch die Infektion oder durch den Rückfluss von Harn in das Nierenbecken.
  • Narbenbildung in den Nieren: Im Verlauf der Erkrankung kommt es zu Schädigungen des Nierengewebes, die im Ultraschall oder in bildgebenden Verfahren sichtbar werden.

Zusammenfassung und klinische Relevanz

Die obstruktive Uropathie und die Refluxuropathie sind zwei häufige Ursachen für Harntransportstörungen, die ohne Behandlung zu schwerwiegenden Nierenschäden führen können. Eine obstruktive Uropathie entsteht durch eine Blockade des Harnabflusses, die den Harnstau und den Druck auf das Nierengewebe verursacht. Dies führt zu Hydronephrose (Erweiterung des Nierenhohlsystems), Niereninsuffizienz und in schweren Fällen zu irreversiblen Nierenschäden. Bei der Refluxuropathie fließt Harn unphysiologisch aus der Blase in die Nieren zurück, was häufig zu Infektionen und Nierenvernarbungen führt. Eine frühzeitige Erkennung und Behandlung sind entscheidend, um dauerhafte Schäden an den Nieren zu verhindern.

Ätiologie (Ursachen)

Biographische Ursachen 

  • Genetische Belastung
    • Genetische Erkrankungen
      • Spina bifida ‒ Spaltbildung in der Wirbelsäule, die während der Embroynalentwicklung auftritt (sporadisches, selten auch familiäres Auftreten)
  • Fehlbildungen
    • kongenitale (angeborene) Ureter- und Urethra-Verengungen/Harnleiter- und Harnröhren-Verengungen (Stenosen bzw. Strikturen) → obstruktive Uropathie 
    • kongenitaler Reflux basierend auf einer Fehlanlage der Ureteröffnung in der Blasenwand → vesikorenaler Reflux 

Krankheitsbedingte Ursachen

Angeborene Fehlbildungen, Deformitäten und Chromosomenanomalien (Q00-Q99)

  • Fehlbildungen des Urogenitalsystems, nicht näher bezeichnet
  • Kongenitale Ureterabgangsenge
  • Megaureter – meist angeborene Erweiterung eines oder beider Harnleiter (>10 mm)
  • Spina bifida (s. u. "Biographische Ursachen")

Blutbildende Organe – Immunsystem (D50-D90)

  • Sarkoidose – granulomatöse Entzündung; gilt als entzündliche Multisystemerkrankung

Endokrine, Ernährungs- und Stoffwechselkrankheiten (E00-E90)

  • Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit) – kann zu Blasenfunktionsstörungen führen
  • Pelvine Lipomatose – Auftreten von mehreren gutartigen Fettgewebstumoren im Becken

Herzkreislaufsystem (I00-I99)

  • Aneurysma (Wandaussackungen) der Beckengefäße
  • Aortenaneurysma – Aussackung der Wand der Hauptschlagader
  • Ovarialvenenthrombophlebitis/Entzündung der Eierstockvene (seltene Wochenbettkomplikation)

Infektiöse und parasitäre Krankheiten (A00-B99)

  • Bilharziose (Schistosomiasis) – durch Trematoden (Saugwürmer) der Gattung Schistosoma (Pärchenegel) verursachte Wurmkrankheit (tropische Infektionskrankheit) (Infektion der Harnblase mit Schistosoma haematobium, einem Parasiten)
  • Tabes dorsalis – Spätstadium der Syphilis, die durch neurologische Symptome charakterisiert ist
  • Tuberkulose (Schwindsucht)

Neubildungen – Tumorerkrankungen (C00-D48)

  • Metastasen (Tochtergeschwülste) verschiedener solider Tumoren
  • Tumoren des Beckens (Cervix, Blase, Kolon, Prostata, Hoden, Ovar, Lymphome, Sarkome)
  • Tumoren des Urogenitaltraktes wie das Prostatakarzinom (Prostatakrebs), Urothelkarzinom (Blasenkrebs)
  • Uterusmyome – gutartige Neubildung in der Gebärmutter

Psyche – Nervensystem (F00-F99; G00-G99)

  • Multiple Sklerose (MS) – neurologische Erkrankung, die bis zu Lähmungen führen kann
  • Paraplegie (Querlähmung) – Lähmung beider Arme bzw. beider Beine

Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett (O00-O99)

  • Extrauteringravidität – Schwangerschaft außerhalb der Gebärmutter; bei ca. 1 bis 2 % aller Schwangerschaften liegt eine Extrauteringravidität vor: Tubargravidität (Eileiterschwangerschaft), Ovarialgravidität (Schwangerschaft im Eierstock), Peritonealgravidität oder Abdominalgravidität (Bauchhöhlenschwangerschaft), Cervixgravidität (Schwangerschaft im Gebärmutterhals)
  • Puerperale Ovarialvenenthrombophlebitis (POVT) – dadurch vor allem rechtsseitig auftretende Hydronephrose (während einer Schwangerschaft)

Urogenitalsystem (Nieren, Harnwege – Geschlechtsorgane) (N00-N99)

  • Beckenbodensenkung
  • Blutkoagel bei Hämaturie (Blut im Urin)
  • Endometriose – gutartige, aber schmerzhafte Wucherung von Gebärmutterschleimhaut (Endometrium) außerhalb der Gebärmutterhöhle
  • Harnleiterstriktur (Harnleiterverengung)
  • Megaureter – meist angeborene Erweiterung eines oder beider Harnleiter (>10 mm)
  • Narbenstrikturen (hochgradige Einengung) der ableitenden Harnwege
  • Nierenstein
  • Ovarialabszess – Eiteransammlung im Eierstock
  • Prostatahyperplasie (BPH) – gutartige Prostatavergrößerung
  • Retroperitonealfibrose (Synonyme: retroperitoneale Fibrose; Morbus Ormond; Ormond-Syndrom; im angloamerikanischen Schrifttum: Albarran-Ormond Syndrome, „Gerota’s fascitis“ oder „Gerota’s syndrome“) – langsam zunehmende Bindegewebsvermehrung zwischen dem hinteren Peritoneum (Bauchfell) und der Wirbelsäule mit Ummauerung der Gefäße, Nerven und der Ureteren (Harnleiter)
  • Ureterozele – Vorwölbung der Schleimhaut des intramuralen Harnleiterabschnitts in das Blasenlumen
  • Ureterpolyp
  • Ureterstein (Harnleiterstein)
  • Urolithiasis (Harnsteinleiden), nicht näher bezeichnet

Verletzungen, Vergiftungen und andere Folgen äußerer Ursachen (S00-T98)

  • Fremdkörper, nicht näher bezeichnet

Weitere Ursachen

  • Schwangerschaft
  • Blasenfunktionsstörungen durch Kälte, Alkohol
  • Verletzungen bei Operationen
  • Abdominelle Adhäsionen (Verwachsungen im Bauchraum) nach Operationen
  • Zustand nach Radiatio (Strahlentherapie) des Abdomens (Bauchraums)

Medikamente

Antidepressiva, Antiparkinsonmittel, Antipsychotika (Neuroleptika) und Substanzgruppen mit tertiären und quaternären Aminen, haben aufgrund ihrer anticholinergen Komponente (siehe auch unter "Anticholinerge Wirkungen von Medikamenten") unerwünschte Effekte wie Harnretention:

  • Analgetika
    Opioid-Analgetika (Tramadol)
  • Antidepressiva
    • tetrazyklische Antidepressiva – Mirtazapin
    • trizyklische Antidepressiva – Amitriptylin-Typ (z. B. Amitriptylin, Doxepin, Trimipramin) Imipramin-Typ (z. B. Imipramin, Clomipramin); Desipramin-Typ (z. B. Desipramin)
  • Antiparkinsonmittel (Amantadin, Biperiden)
  • Antipsychotika (Neuroleptika) – Clozapin, Melperon, Risperidon
  • Muskelrelaxanantien
    • Benzodiapezine – Terazepam