Ganganalyse
Die Ganganalyse ist ein medizinisches Verfahren, das vor allem in der Orthopädie Anwendung findet. Der menschliche Gang entsteht durch ein komplexes Zusammenspiel des Gleichgewichts und der Koordination sowie der Funktion der Muskulatur und der Gelenkbeweglichkeit. Um eventuelle Störungen oder Erkrankungen anhand eines veränderten Gangbildes festzustellen, kann sowohl eine beobachtende Ganganalyse als auch eine apparative Ganganalyse durchgeführt werden.
Zielsetzung der Ganganalyse
Die Ganganalyse ist ein diagnostisches Verfahren, das speziell entwickelt wurde, um umfassende Informationen über das Gangbild einer Person zu gewinnen und darauf basierend therapeutische oder präventive Maßnahmen einzuleiten. Die primären Zielsetzungen der Ganganalyse umfassen:
Diagnosestellung
- Ermöglicht die Identifizierung spezifischer Gangabweichungen, die auf bestimmte muskuloskelettale oder neurologische Störungen hinweisen können.
Therapieplanung
- Dient als Grundlage zur Entwicklung individueller Therapieprogramme, die auf spezifische Defizite oder Dysfunktionen abzielen.
Therapiekontrolle
- Bietet eine objektive Methode zur Überwachung des Fortschritts einer Therapie und zur Anpassung der Behandlung basierend auf quantitativen Daten über das Gangbild.
Prävention
- Durch die frühzeitige Erkennung von Abweichungen im Gangbild können präventive Strategien entwickelt werden, um die Entwicklung von Erkrankungen zu verhindern oder deren Fortschreiten zu verlangsamen.
Funktionsbewertung
- Ermöglicht die Bewertung der Funktionalität des Bewegungsapparates insgesamt und insbesondere die Effektivität von orthopädischen Hilfsmitteln wie Prothesen oder Orthesen.
Indikationen (Anwendungsgebiete)
- Diagnose und Beurteilung des Bewegungs- und Gangverhaltens
- Fehlbelastungen und Haltungsfehler
- Muskelschwächen
- Muskelkontrakturen (dauerhafte Verkürzung eines Muskels)
- Beckenschiefstand (= Beinlängendifferenz < 2 cm) bei Skoliose (seitliche Abweichung der Wirbelsäule)
- Gleichgewichtsstörungen
- Knochen- und Weichteilveränderungen
- Gelenksarthrosen (Gelenkverschleiß)
- Spastiken (Muskelkrämpfe), Paresen (Lähmungen) und Polyneuropathien (Untergang von Nervenbahnen, der zur Gefühllosigkeit und Koordinationsschwäche führt; z. B. bei Diabetes mellitus – Zuckerkrankheit)
- Verletzungen von Muskeln, Sehnen und Bändern
- Präventive Belastungsanalysen – z. B. bei Sportlern
- Orthopädische Schuh- und Einlagenversorgung
- Rehabilitationsplanung
- Beurteilung von Prothesen – z. B. Hüftgelenksprothese
- Operativer Nachsorge
- Therapiedokumentation
- Langzeitmonitoring von MS-Patienten
- Laufschuhtest
Kontraindikationen (Gegenanzeigen)
- Akute Entzündungsprozesse: Patienten mit akuten Entzündungen im Bereich der unteren Extremitäten sollten von einer Ganganalyse ausgeschlossen werden, da die Belastung den Zustand verschlimmern könnte.
- Schwere kardiovaskuläre Erkrankungen: Patienten mit instabilen Herz-Kreislauf-Erkrankungen können durch die Anstrengung der Ganganalyse ein erhöhtes Risiko eingehen.
- Unkooperative Patienten: Bei Patienten, die aus kognitiven oder psychologischen Gründen nicht in der Lage sind, Anweisungen zu folgen, kann die Qualität der Ganganalyse beeinträchtigt sein.
Vor der Untersuchung
- Kleidung und Schuhwerk: Die Patienten sollten bequeme Kleidung und geeignetes Schuhwerk tragen, um eine natürliche Gangart zu ermöglichen.
- Medikamentöse Einstellung: Die aktuelle Medikation sollte überprüft werden, insbesondere Medikamente, die die Muskel- und Nervenfunktion beeinflussen, da diese das Gangbild verändern können.
Das Verfahren
Neben der apparativen, computergestützten Ganganalyse liefert gerade die klinische Gangbeobachtung durch den Arzt oder Physiotherapeuten erste diagnostische Erkenntnisse. Vor der Beobachtung des Gangbildes erfolgt eine Anamnese mit anschließender körperlicher Untersuchung.
Die folgenden Beobachtungskriterien dienen der Erfassung des Gangmusters:
- Stellung der Körperlängsachse – diese sollte nahezu vertikal im Raum liegen
- Kopfhaltung – der Kopf sollte in die Körperachse eingeordnet sein
- Beweglichkeit
- räumliche Bewegung und Haltung des Brustkorbes
- Gangtempo – normal sind ca.110/120 Schritte/Min
- Gangrhythmus und Gangökonomie – der Gang sollte flüssig und harmonisch sein
- Schrittlänge – ca. 2-3 Fußlängen; sie sollte sowohl dem Tempo angemessen als auch seitengleich sein
- Spurbreite
- Gehbewegung des Beckens – Beckenrotation und phasenabhängige Seitenneigung
- Gehbewegung der Beine – Beinachsen, Spielbein- und Standbeinphase
- Füße – Aufsatz, Stellung und Abrollvorgang
- Stellung des Schultergürtels
- Aktivität der Arme
Die apparative Ganganalyse ermöglicht eine Auswertung dynamischer Komponenten des Gangbildes und eine Erfassung nicht sichtbarer Funktionen wie z. B. das Drehmoment der Gelenke. Sie dient vor allem der Dokumentation von Therapiefortschritten und der Überprüfung von technisch-orthopädischen Versorgungen. Durch Videoaufzeichnungen erleichtert die Analyse vor allem das Verständnis für den Patienten. Dieser bewältigt eine ca. 8 m lange Gehstrecke, während er gefilmt wird.
Die apparative Ganganalyse beinhaltet folgende Elemente:
- Filmaufnahmen in mehreren Ebenen (2- und 3-dimensional)
- Fotografien
- Lichtspuraufnahmen – an definierten Punkten des Körpers werden reflektierende Markierungen angebracht, die eine fortlaufende Registrierung der Körperbewegungen ermöglichen
- Messung des Bodenkontakts während des Ganges
- Messung der auf den Boden einwirkenden Kräfte
- Registrierung der Gelenkstellung, der Beschleunigung und Gelenkstellung des Körpers
- Messung der Muskelaktivität über eine Elektromyographie (EMG), die die elektrische Erregung der Muskulatur aufzeichnet
Ergänzend wird eine Sauerstoffverbrauchsmessung durchgeführt, um die Belastung des Patienten durch die Analyse zu erfassen. Die apparative Ganganalyse liefert genaue, reproduzierbare, diagnostische Information über den Bewegungsapparat des Patienten.
Mögliche Befunde
Die Ganganalyse kann eine Vielzahl von Befunden ergeben, die wichtige diagnostische Hinweise auf unterschiedliche pathologische Zustände liefern:
Normales Gangbild
- Harmonisches und symmetrisches Gangmuster
- Ausgewogene Schrittlänge und Spurbreite
- Angemessene Ganggeschwindigkeit und -rhythmus
Pathologische Befunde
- Unregelmäßigkeiten in der Schrittlänge: Kann auf Muskelasymmetrien, Gelenkprobleme oder neurologische Störungen hinweisen.
- Veränderte Spurbreite: Eine zu breite oder zu enge Spurbreite kann auf Gleichgewichtsprobleme oder spezifische muskuläre Dysfunktionen deuten.
- Asymmetrische Beckenbewegung: Ein Hinweis auf Beinlängendifferenz, Beckenschiefstand oder Hüftgelenkspathologien.
- Abnormale Fußpositionierung beim Aufsatz und Abrollen: Könnte auf Fußfehlstellungen, degenerative Veränderungen oder falsche Schuhwerk hinweisen.
- Veränderte Körperlängsachse und Kopfhaltung: Zeichen von Haltungsschäden oder neurologischen Erkrankungen.
- Reduzierte Schwungphase im Spielbein: Oft ein Zeichen von spastischen Lähmungen oder Gelenkblockaden.
Spezifische pathologische Befunde
- Gelenksarthrose: Veränderte Bewegungsmuster in den betroffenen Gelenken, oft begleitet von Schmerzen und eingeschränkter Beweglichkeit.
- Polyneuropathien: Unsicheres Gangbild, häufig mit schlechter Koordination und einem erhöhten Risiko von Stürzen.
- Muskelkontrakturen: Einschränkung der normalen Bewegungsfreiheit, die sich in verkürzten Schrittphasen äußern kann.
- Spastiken und Paresen: Unwillkürliche Muskelkontraktionen oder partielle Lähmungen, die das Gangbild erheblich beeinträchtigen können.
Befunde bei Verletzungen
- Auffälligkeiten in der Bewegung, die direkt auf die Verletzungsstelle hinweisen, wie Schonhaltungen oder veränderte Lastverteilung.
Die Interpretation dieser Befunde erfordert eine umfassende Analyse durch Fachpersonal, um korrekte Diagnosen zu stellen und entsprechende therapeutische Maßnahmen einzuleiten. Die Ganganalyse liefert nicht nur wertvolle diagnostische Daten, sondern auch wichtige Informationen für die Therapieplanung und -überwachung.
Nach der Untersuchung
- Auswertung der Daten: Die erhobenen Daten müssen von Fachpersonal ausgewertet werden, um eine präzise Diagnose zu stellen und den Therapieverlauf zu planen.
- Besprechung der Ergebnisse: Die Ergebnisse sollten dem Patienten in einer verständlichen Form erklärt werden, um das Verständnis und die Kooperation bei der folgenden Behandlung zu fördern.
Ihr Nutzen
Sowohl die Gangbeobachtung als auch die apparative Ganganalyse stellen sehr komplexe und aussagekräftige Verfahren dar. Die Beurteilung des Gangbildes ermöglicht die funktionelle Diagnostik des Bewegungsapparates und trägt unter anderem zur Therapieplanung und Therapiekontrolle bei.