Hirnstammaudiometrie (BERA)
Bei der Hirnstammaudiometrie (Synonym: brainstem evoked response audiometry, BERA) handelt es sich um ein diagnostisches Verfahren der Neurologie und Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, welches zur elektrophysiologischen Beurteilung der objektiven Hörfähigkeit eingesetzt werden kann.
Durch die BERA ist es möglich, die akustisch evozierte (lat. evocare, „herbeirufen“, „hervorrufen“) Hirnstammpotentiale (AEHP) zu messen. Mithilfe des Verfahrens kann somit unabhängig von der subjektiven Wahrnehmung der Patienten und deren Beschreibung dieser Wahrnehmungen eine Aussage zur Hörfähigkeit getroffen werden. Die AEHP weisen den Vorteil auf, dass sie bereits nach 18 Lebensmonaten voll ausgereift und von Mitarbeit und Wachheitsgrad fast vollständig unabhängig sind, sodass die Anwendung auch bei Kleinkindern und Säuglingen möglich ist. AEHP stellen Potentiale dar, deren Ursprung in der Hörbahn zwischen Hörschnecke, dem Hörnerven bis zu einer Vielzahl von Kerngebieten im Bereich des Hirnstamms zu finden ist.
Zielsetzung der Hirnstammaudiometrie
Die Zielsetzung der Hirnstammaudiometrie (BERA) besteht darin, die objektive Hörfähigkeit elektrophysiologisch zu beurteilen, indem akustisch evozierte Hirnstammpotentiale gemessen werden. Dies ermöglicht eine präzise Beurteilung der Hörleistung unabhängig von der subjektiven Wahrnehmung des Patienten. Durch die Analyse der Hirnstammpotentiale können verschiedene Aspekte der Hörbahn zwischen der Hörschnecke (Cochlea) und dem Mittelhirn bewertet werden, was die BERA zu einem wichtigen diagnostischen Instrument in der Neurologie und Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde macht.
Indikationen (Anwendungsgebiete)
- Neugeborenen-Screening − Zur Erkennung von Hörstörungen bei Neugeborenen können verschiedene Verfahren eingesetzt werden. Sowohl die Messung der otoakustischen Emissionen (akustische Aussendungen) als auch die Anwendung der BERA sind hierzu aufgrund einer Sensitivität (Prozentsatz erkrankter Neugeborener, bei denen die Krankheit durch die Anwendung des Tests erkannt wird, d. h. ein positives Testresultat auftritt) von nahezu 100 % geeignet. Allerdings liegt bei der BERA eine signifikant höhere Spezifität (Wahrscheinlichkeit, dass tatsächlich Gesunde, die nicht an der betreffenden Erkrankung leiden, durch das Verfahren auch als gesund erkannt werden) vor, sodass die BERA den otoakustischen Emissionen als Screeningverfahren überlegen ist.
Das Neugeborenen-Screening mittels BERA ist indiziert bei Neugeborenen mit:
- familiäre Hörstörung,
- nachgewiesenen kongenitalen Infektion wie zum Beispiel einer Röteln-Infektion,
- Geburtsgewicht unter 1.500 g
- einer ototoxischen Medikation (hörschädigende Medikamente) beispielsweise mit Aminoglykosiden (Antibiotika),
- einer bakteriellen Meningitis (Hirnhautentzündung) oder Sepsis (Blutvergiftung),
- einem niedrigen APGAR-Score (Punkteschema, mit dem sich der klinische Zustand von Neugeborenen standardisiert beurteilen lässt),
- einer mehrtägigen maschinellen Beatmung oder dem Vorliegen von Syndromen mit einer Hörstörung
- familiäre Hörstörung,
- Hörschwellenbestimmung − Bei Untersuchungen in der Pädaudiologie (Wissenschaft von Hörstörungen (des Hörens) und der Auditiven Wahrnehmung im Kindesalter), aber auch bei unkooperativen Patienten ist das Verfahren indiziert. Zusätzlich lässt sich auch die Hörschwelle in Sedierung (Dämmerschlaf) oder Vollnarkose ableiten. Eine frequenzspezifische Hörschwellenbestimmung lässt sich durch den Einsatz von Reizfilterverfahren erreichen.
- Akustikusneurinom (Tumor des Hörnervs) – In verschiedenen Studien wird die Hirnstammaudiometrie als adäquates Verfahren zur Untersuchung angeführt, da eine Sensitivität zur Entdeckung von Akustikusneurinomen unabhängig ihrer Größe zwischen 95 und 100 % vorliegt. Auf Grund dessen wird die BERA routinemäßig eingesetzt bei:
- Verdacht auf ein Akustikusneurinom
- Hörsturz
- Tinnitus (Ohrgeräusche) oder Vertigo (Schwindel)
- Verdacht auf ein Akustikusneurinom
Kontraindikationen (Gegenanzeigen)
Da es sich bei der Hirnstammmessung um ein nicht-invasives diagnostisches Verfahren handelt, liegen bei gegebener Indikation keine Kontraindikationen vor.
Vor der Untersuchung
Bevor die Untersuchung erfolgen kann, muss ein ausführliches Aufklärungsgespräch mit Verhaltensanleitung durchgeführt werden. Zur Durchführung sollte der Patient entspannt liegen, sodass eine geringe Muskelaktivität vorliegt. Eine präzise Instruktion kann die Messergebnisse deutlich verbessern.
Das Verfahren
Das Grundprinzip des Verfahrens beruht auf der Abbildung elektrischer Potentiale in Wellenform bei erfolgreicher Verarbeitung eines akustischen Reizes. Die dargestellten Potentiale zeigen die Aktivität der Hörbahn zwischen Hörnerv und Mittelhirn auf. Die Potentiale werden durch die auf die Elektroenzephalographie (EEG) basierenden Ableitungen gemessen. Somit wird bei der Hirnstammaudiometrie das EEG bei akustischer Stimulation ausgewertet.
Bei der Durchführung des Verfahrens leitet eine Elektrode am Vertex (Scheitel) und eine Elektrode leitet am Mastoid (Teil des Schläfenbeins, umgangssprachlich auch "Warzenfortsatz" genannt) ab. Eine dritte Elektrode, die zentral auf der Stirn platziert wird, wird als Referenzelektrode genutzt. Bei der Hirnstammmessung lassen sich die über EEG ermittelten Potentiale in frühe, mittlere, späte und sehr späte Potentiale aufteilen. Diese Unterteilung beruht auf der Reaktionszeit des EEG auf akustische Stimulation.
Mögliche Befunde
- Normales Befundmuster
- Die akustisch evozierten Hirnstammpotentiale (AEHP) zeigen eine normale Latenz und Amplitude.
- Die Reaktionszeit des EEG auf akustische Stimulation entspricht den erwarteten Werten.
- Die Reizantworten sind symmetrisch zwischen den beiden Ohren.
- Abnormales Befundmuster
- Verzögerte Latenz: Eine Verlängerung der Latenzzeiten der Hirnstammpotentiale kann auf eine Verlangsamung der Nervenleitungsgeschwindigkeit hinweisen, was häufig mit Schädigungen der Hörbahn verbunden ist.
- Reduzierte Amplitude: Eine verminderte Amplitude der Hirnstammpotentiale kann auf eine Dysfunktion der Hörbahn oder eine Hörstörung hinweisen.
- Asymmetrische Reizantworten: Unterschiede in den Reaktionszeiten oder Amplituden zwischen den beiden Ohren können auf eine einseitige Hörstörung oder eine Läsion in der Hörbahn hinweisen.
- Fehlende Reizantworten: Das Fehlen von akustisch evozierten Hirnstammpotentialen kann auf eine schwerwiegende Hörstörung oder eine signifikante Schädigung der Hörbahn hindeuten.
- Abnorme Reizantwortmuster: Ungewöhnliche Muster oder Formen der Hirnstammpotentiale können auf spezifische Störungen oder Pathologien in der Hörbahn hinweisen, die weitere Untersuchungen erfordern.
- Interpretation und klinische Bedeutung
- Die Befundinterpretation sollte immer im Kontext der klinischen Symptome und Befunde des Patienten erfolgen.
- Abnormale Befunde können auf verschiedene Erkrankungen oder Zustände hinweisen, einschließlich Hörstörungen, neurologischen Störungen oder Tumoren im Bereich der Hörbahn.
- Weitere diagnostische Tests oder bildgebende Verfahren können erforderlich sein, um die Ursache abnormer Befunde zu bestätigen und eine geeignete Behandlung zu planen.
Nach der Untersuchung
Im Anschluss an die Untersuchung sind keine besonderen Maßnahmen zu treffen. In Abhängigkeit vom Untersuchungsergebnis werden ggf. weitere diagnostische oder therapeutische Verfahren eingesetzt.
Mögliche Komplikationen
Es sind keine Komplikationen zu erwarten.
Literatur
- Hoth S: Objektive Audiometrie mit BERA, AMFR und CERA. Hören und Gleichgewicht. 2010. Part1. 243-251. doi: 10.1007/978-3-211-99270-8_25
- Ascherl L: Untersuchung zum Hörscreening bei Neugeborenen mittels BERA-Verfahren. Dissertation. 2007, Marburg
- Nadja Diebel: Akustisch evozierte Hirnstammpotentiale (AEHP) bei Frühgeborenen: „Zeitgang-BERA“ und konventionelle AEHP. Dissertation 2003 Würzburg
- Gosepath K, Maurer J, Mann W: Diagnostik intrameatal gelegener Akustikusneurinome − Die Rolle akustisch evozierter Hirnstammpotentiale und anderer otoneurologischer Untersuchungsverfahren. Laryngo-Rhino-Otol. 1995. 74:728-732
- Thee S: Die Entwicklung der auditorischen Hirnstammbahnen bei Kindern bis zum 2. Lebensjahr und deren Einfluss auf den späteren Spracherwerb.
Dissertation. 2008 Charité Berlin