Beckenboden-EMG (Beckenboden-Elektromyographie)

Bei der Beckenboden-EMG (Synonym: Beckenboden-Elektromyographie) handelt es sich um diagnostisches Verfahren der Urologie und Proktologie, welches zur Erkennung nervlich oder durch Muskelerkrankungen bedingter Miktionsstörungen dient.

Die Miktion beschreibt den Vorgang der Harnentleerung. Mithilfe der Elektromyographie ist es möglich, die elektrischen Impulse der Beckenbodenmuskulatur zu quantifizieren und anschließend zu beurteilen. In der Regel wird das Beckenboden-EMG als Zusatzverfahren in der Uroflowmetrie (Sammlung verschiedener Verfahren zur Beurteilung der Miktion eines Patienten) eingesetzt. Mithilfe der Beckenboden-EMG ist es möglich, simultan zur Uroflowmetrie eine Erfassung und Beurteilung der Muskelaktionspotentiale (elektrische Ströme ausgelöst durch Muskelaktivität) sowohl der quergestreiften Beckenbodenmuskulatur als auch der Sphinktermuskulatur der Harnblase während der Miktion durch das Elektromyogramm (EMG) durchzuführen. Neben der konventionellen Erkennung von neurologischen oder muskulären Dysfunktionen im Beckenbodenbereich kann das Verfahren durch zusätzliche Ausrüstung mit akustischem Verstärker oder einem Videoschirm zum therapeutischen Biofeedback-Training genutzt werden.

Zielsetzung der Beckenboden-EMG

Die Beckenboden-Elektromyographie (EMG) ist ein diagnostisches Verfahren, das darauf abzielt, die Funktion der Beckenbodenmuskulatur und der damit verbundenen Strukturen zu bewerten. Dieses Verfahren ist besonders wichtig für die Beurteilung und Behandlung von Miktionsstörungen und Beckenboden-Dysfunktionen. Zu den Hauptzielen gehören:

  • Diagnostik und Differenzierung von Miktionsstörungen: Erkennung und Analyse der muskulären und nervlichen Aktivität während der Miktion, um die Ursachen von Funktionsstörungen zu identifizieren.
  • Therapeutisches Biofeedback-Training: Durch die visuelle oder akustische Rückmeldung der Muskelfunktion können Patienten lernen, ihre Beckenbodenmuskulatur gezielt zu kontrollieren und zu stärken.
  • Prä- und postoperative Bewertung: Überprüfung der Funktionsfähigkeit des Beckenbodens vor und nach chirurgischen Eingriffen.

Indikationen (Anwendungsgebiete)

  • Miktionsstörungen – die Durchführung einer Beckenboden-EMG ist wichtig bei der Beurteilung von Miktionsstörungen. Im Gegensatz zu anderen Verfahren ist es nicht notwendig, Kontrastmittel zur Darstellung der Harnwege einzusetzen, sodass so das Komplikationsrisiko sehr gering ist.
  • Belastungsinkontinenz (früher: Stressinkontinenz) – insbesondere bei Frauen stellt die Belastungsinkontinenz ein wichtiges, hauptsächlich psychologisches Problem dar. Mithilfe der Nadel-EMG ist eine sowohl eine qualitative als auch quantitative Beurteilung der Miktion möglich, sodass das Verfahren in der Ursachenforschung bei einer Belastungsinkontinenz eingesetzt werden kann.
  • Neurologische Störungen: Beurteilung der Auswirkungen von neurologischen Erkrankungen auf die Beckenbodenmuskulatur.
  • Anale Inkontinenz – außerhalb der Urologie kommt das Verfahren bei der Beurteilung einer analen Funktionsstörung zum Einsatz.
  • Obstipation (Verstopfung) – neben der analen Inkontinenz wird das Verfahren in der Proktologie auch zur Diagnostik bei einer vorliegenden Obstipation eingesetzt.

Kontraindikationen (Gegenanzeigen)

Für die Durchführung einer Beckenboden-EMG gibt es keine spezifischen Kontraindikationen, jedoch sollte das Verfahren bei akuten Entzündungen oder Infektionen im Beckenbereich mit Vorsicht angewendet werden.

Vor der Untersuchung

Vor einer Beckenboden-Elektromyographie sind spezifische Vorbereitungen notwendig, um die Untersuchung effektiv und sicher durchführen zu können:

  • Aufklärungsgespräch
    • Der Patient wird ausführlich über den Zweck, den Ablauf und mögliche Unannehmlichkeiten oder Risiken der Untersuchung informiert. Besonders wichtig ist es, den Patienten über die Notwendigkeit der Entspannung während der Untersuchung zu instruieren, um präzise Messergebnisse zu gewährleisten.
  • Medizinische Vorgeschichte
    • Eine detaillierte Erhebung der medizinischen Vorgeschichte des Patienten ist essentiell, um alle relevanten Vorerkrankungen, insbesondere neurologische Störungen oder vorherige Operationen im Beckenbereich, zu erfassen.
  • Physikalische Vorbereitung
    • Der Patient sollte angehalten werden, vor der Untersuchung die Blase zu entleeren, um Unannehmlichkeiten während der EMG zu vermeiden.
    • Die betroffenen Areale (typischerweise um den Anus und ggf. die Vagina) müssen sauber und trocken sein. Dies erleichtert die korrekte Anbringung der Elektroden und minimiert das Risiko von Infektionen.

Das Verfahren

Für die Beurteilung von Miktionsstörungen ist die funktionelle Flow-EMG die wichtigste Screening-Untersuchung, die bei jedem Kind mit Miktionsstörungen durchgeführt werden sollte. Allerdings muss bei der Auswertung der Ergebnisse beachtet werden, dass sich die Harnflussrate sowohl alters- als auch geschlechtsabhängig verändert und somit keine nicht angepassten Vergleiche möglich sind. Zur adäquaten Beurteilung der Beckenbodenfunktion sollte ein minimales Miktionsvolumen von 150 Millilitern angestrebt werden.

Ablauf der Beckenboden-EMG

  • Um eine optimale Beurteilung der Beckenbodenmuskulatur zu erreichen, muss zur EMG-Ableitung auf eine präzise Positionierung der Klebeelektroden geachtet werden. Für die Ableitung müssen zwei Klebeelektroden im Anusareal (im Bereich des Afters) und eine weitere als Indifferenzelektrode (Erdungselektrode) am Oberschenkel positioniert werden. Bei der Nadel-Beckenboden-EMG werden anstatt der Klebeelektroden Nadelelektroden ins Gewebe appliziert.
  • Die Aufzeichnungen der EMG erfolgen unter Verwendung eines 2-Kanal-Schreibers. Während der Miktionsphase kann nun die Aufzeichnung der Harnflusskurve und der Aktivität der Beckenbodenmuskulatur gemessen und anschließend beurteilt werden.

Unterscheidung verschiedener Methoden der Elektromyographie zur Beurteilung des Beckenbodens

  • Mithilfe der Beckenboden-EMG lässt sich die gesamte quergestreifte Muskulatur des Beckenbodens evaluieren. Allerdings lassen sich bei der Beckenboden-EMG zwei verschiedene Methoden unterscheiden.
  • Es besteht sowohl die Möglichkeit, ein unspezifisches und einfaches Oberflächen-EMG zu erstellen als auch ein exaktes, jedoch sehr aufwändiges Beckenboden-EMG mithilfe von Nadelelektronen durchzuführen. Das Oberflächen-EMG ist in der Regel für die Mehrzahl der Fragestellungen ausreichend.
  • Obwohl die Nadel-Beckenboden-EMG signifikant präzisere Ergebnisse erstellt, wird das Verfahren jedoch seltener angewendet, da es weitaus schmerzhafter als das Oberflächen-EMG ist. Dennoch lässt sich auf das Nadel-EMG keineswegs verzichten, da mit diesem Verfahren die Spontanaktivität jedes einzelnen Muskels determinierbar wird. Aufgrund dessen ist es möglich, ein sogenanntes „Mapping“ von neurologischer Dysfunktion oder auch Narben im Bereich des Beckenbodens durchzuführen.
  • Trotz dieser präzisen Beurteilung der Gewebestrukturen lässt sich in klinischen Studien feststellen, dass die Untersuchungsergebnisse beider Methoden sehr stark variieren und des Weiteren untersucherabhängig sind. Dies beruht insbesondere darauf, dass das Verfahren einiger Erfahrung benötigt. Als Resultat lässt sich festhalten, dass insbesondere die Nadel-EMG ganz speziellen Fragestellungen vorbehalten bleibt. Als Folge der schweren Vergleichbarkeit der Ergebnisse stellt das Verfahren keine optimale Routinemethode dar, kann jedoch für den Einzelnen herausragend in der Beurteilung proktologischer und urologischer pathologischer Prozesse sein.
  • Als Besonderheit des Verfahrens ist zu nennen, dass mithilfe der Beckenboden-EMG sowohl eine akustische als auch grafische Beurteilung der elektrischen Signale möglich ist, sodass neurologische oder muskelbedingte Störungen schneller aufgedeckt werden können.

Untersuchungsbefunde bei einer Beckenboden-EMG

Physiologische Untersuchungsbefunde

  • Betrachtet man die physiologische Harnblasenfunktion, so lässt sich eine Steigerung der motorischen Aktivität der Beckenbodenmuskulatur simultan zur Harnblasenfüllung feststellen. Hierbei wird ein Aktivitätsmaximum kurz vor Beginn der Miktion erreicht.
  • Da zu Beginn des Miktionsvorganges eine Relaxation des Sphinktermechanismus erfolgt, lässt sich in der EMG eine deutliche Verminderung der Aktionspotentiale feststellen, die im optimalen Fall eine komplette Aktivitätsstille hervorruft. Durch das Husten kann beispielsweise die Aktivität im Elektromyogramm deutlich gesteigert werden, sodass bei der Interpretation auf solche Störungen geachtet werden muss. 

Pathologische Untersuchungsbefunde

  • Gleichbleibende oder verstärkte Aktivität während der Miktionsphase ist als pathologisch zu bewerten. Das Vorliegen von kontinuierlichen oder alternierenden Aktivitätssteigerungen weist auf eine Fehlfunktion der an der Miktion beteiligten Muskeln hin.
  • Eine unphysiologische Verminderung der Aktivität kann jedoch auf eine Denervierung (fehlende Versorgung des Gewebes mit elektrischen Steuerungsreizen) hinweisen. Um die Diagnose absichern zu können, müssen zuvor mögliche Artefakte (fehlerhafte Messungen) ausgeschlossen werden. Außerdem muss der Befund in verschiedenen Potentialen nachgewiesen werden.

Mögliche Befunde

Normalbefunde

  • Adäquate Aktivität während der Füllungsphase der Blase: Steigerung der motorischen Aktivität der Beckenbodenmuskulatur im Einklang mit zunehmender Blasenfüllung.
  • Entspannung während der Miktionsphase: Eine deutliche Reduzierung der EMG-Aktivität zeigt die normale Relaxation des Sphinktermechanismus zu Beginn der Miktion an.

Pathologische Befunde

  • Hyperaktivität des Beckenbodens: Anhaltende oder erhöhte Muskelaktivität während der Miktion, die auf eine Dyskoordination (Fehlkoordination) der Muskulatur hindeutet. Diese kann mit Symptomen wie Harnverhalt oder schmerzhaftem Wasserlassen einhergehen.
  • Hypotonie oder schwache Beckenbodenmuskulatur: Reduzierte Muskelaktivität, die zu Problemen wie Belastungsinkontinenz führen kann, wo der Beckenboden den erhöhten Druck bei Aktivitäten wie Husten oder Niesen nicht ausreichend kompensieren kann.
  • Denervierungszeichen: Zeichen für eine Nervenschädigung können sich als fehlende oder stark reduzierte Muskelantworten manifestieren. Dies könnte auf vorangegangene chirurgische Eingriffe, Geburtstraumata oder neurologische Erkrankungen zurückzuführen sein.
  • Reinnervationszeichen: Nach einer Nervenschädigung zeigen sich möglicherweise Reinnervationsmuster, wo neue Nervenverbindungen entstehen, die zu einer veränderten oder unregelmäßigen Muskelaktivität führen.
  • Koordinationsstörungen: Unregelmäßige und asynchrone Muskelaktivität, die auf eine Koordinationsstörung der Muskulatur hindeutet, oft verbunden mit Dysfunktionen wie der Überaktiven Blase (OAB).

Interferenzmuster

  • Vollständiges Interferenzmuster: Gesunde, willkürliche Aktivität, die bei Anspannung der Muskulatur ein dichtes Muster von motorischen Einheiten zeigt.
  • Vermindertes Interferenzmuster: Kann auf eine partielle Denervierung oder eine ineffiziente muskuläre Aktivierung hindeuten.

Artefakte

  • Bewegungsartefakte: Können die Ergebnisse verfälschen und müssen bei der Analyse berücksichtigt werden.
  • Technische Artefakte: Durch Probleme mit den Elektroden oder dem EMG-Gerät können fehlerhafte Daten entstehen, die fälschlicherweise als pathologisch oder abnormal interpretiert werden könnten.

Mögliche Komplikationen

Bei der Oberflächen-EMG sind keinerlei Komplikationen zu erwarten. Lediglich durch die Elektroden kann es zu Hautirrtationen kommen. Die Nadel-EMG hingegen ist mit einem höheren Komplikationsrisiko behaftet, welches dennoch als sehr niedrig zu beurteilen ist. Durch den Einsatz der Nadelelektroden kann es zur Verletzung von Nerven und Blutgefäßen kommen. Eine Verletzung von Nerven kann zu einer meist temporären Beeinflussung des Empfindens führen, ist jedoch in der Regel nicht festzustellen.

Literatur 

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