Elektroneurographie (ENG)

Die Elektroneurographie (ENG; ENG-Diagnostik) ist ein diagnostisches Verfahren, das der Messung der Nervenleitungsgeschwindigkeit (NLG) von motorischen und sensiblen Nervenbahnen peripherer Nerven (Nervenbahnen der Nervenzellen, die für die Bewegung der Muskulatur und die Sensibilität der Haut verantwortlich sind) dient. Dabei handelt es sich um eine elektrophysiologische Messmethode mithilfe von Oberflächen- oder Nadelelektroden. Das Verfahren dient der Ortsbestimmung von Nervenläsionen (Verletzungen von Nervenbahnen, die z. B. durch Quetschung entstehen) und der Charakterisierung von Neuropathien (Nervenerkrankungen). Die Elektroneurographie ist in erster Linie Teil der Diagnostik in der Neurologie (Lehre der Nervenheilkunde) und stellt ein wichtiges Element der Routine-Untersuchung dar.

Der folgende Artikel gibt einen Überblick über die Durchführung der Untersuchung und deren theoretischen Hintergründe.

Zielsetzung der Elektroneurographie

Die Elektroneurographie (ENG) ist ein diagnostisches Verfahren, das zur Messung der Nervenleitungsgeschwindigkeit (NLG) von motorischen und sensiblen Nervenbahnen peripherer Nerven dient. Ziel dieser Untersuchung ist es, Nervenläsionen zu lokalisieren, die Art der Läsion zu differenzieren, den Verlauf bei Therapie einer Nervenläsion zu kontrollieren und verschiedene Neuropathien zu charakterisieren.

Indikationen (Anwendungsgebiete)

  • Ortsbestimmung einer Nervenläsion – Wo befindet sich die Schädigung?
  • Differenzierung der Art der Nervenläsion – Handelt es sich um eine axonale oder eine demyelinisierende Schädigung?
  • Verlaufskontrolle bei Therapie einer Nervenläsion
  • Differenzierung von Polyneuropathien (Oberbegriff für bestimmte Erkrankungen des peripheren Nervensystems, die mehrere Nerven betreffen) – generalisierte Erkrankung des peripheren Nervensystems, z. B. diabetische Polyneuropathie

Kontraindikationen (Gegenanzeigen)

Die Elektroneurographie ist in der Regel sicher und hat nur wenige Kontraindikationen. Zu den Kontraindikationen gehören schwere Hautinfektionen oder Hauterkrankungen an den Stellen, an denen die Elektroden angebracht werden sollen. Auch akute Verletzungen in den Bereichen, die untersucht werden sollen, können eine Kontraindikation darstellen.

Vor der Untersuchung

Vor der Elektroneurographie sollten Patienten darüber informiert werden, dass das Verfahren unangenehm sein kann, da elektrische Reize auf die Nerven gegeben werden. Es ist wichtig, dem Arzt alle relevanten medizinischen Informationen mitzuteilen, einschließlich bekannter Allergien oder Blutgerinnungsstörungen.

Das Verfahren

Das primäre Ziel der Elektroneurographie ist die Messung der sogenannten Nervenleitungsgeschwindigkeit. Dabei handelt es sich um einen physiologischen Wert, der Auskunft über den Zustand der peripheren Axone und ihrer Myelinscheiden (Nervenleitungen und ihre Nervenmäntel an Armen und Beinen) gibt. Um diesen Wert aufzeichnen zu können, ist eine elektrische Ableitung durch Elektroden nötig. Die Messung erfolgt an einer Stelle der Extremitäten, von der aus der zu untersuchende Nerv gut zugänglich ist (d. h. sehr nahe der Hautoberfläche liegt). Die folgenden Nerven sind der Elektroneurographie zugänglich und werden in der Regel untersucht:

  • Nervus radialis – der sogenannte Speichennerv gehört zum Plexus brachialis (Armnervengeflecht) und kann am Oberarm, Unterarm und an der Hand (M. extensor indicis) untersucht werden
  • Nervus medianus – der Mittelarmnerv gehört ebenfalls zum Plexus brachialis und ist ebenfalls am Ober- und Unterarm sowie an der Hand (M abducis pollicis brevis) auffindbar
  • Nervus ulnaris – der sogenannte Ellennerv gehört auch zum Plexus brachialis und liegt neben Oberarm, Unterarm und Hand (M. abductor digiti minimi) vor allem im Bereich des Ellenbogens dicht unter der Hautoberfläche
  • Nervus ischiadicus – der sogenannte Ischias-Nerv oder auch Sitzbeinnerv gehört zum Plexus lumbosacralis (Lenden-Kreuzbein-Geflecht) und ist am Oberschenkel auffindbar
  • Nervus tibialis – der Schienbeinnerv ist ein Hauptast des N. ischiadicus und liegt im Bereich des Unterschenkels und des Fußes (M. abductor hallucis) für eine Messung dicht genug unter der Hautoberfläche
  • Nervus peroneus communis – der gemeinsame Wadenbeinnerv ist ebenfalls ein Hauptast des N. ischiadicus und teilt sich im Verlauf in den N. peroneus superficialis und profundus; die Messung erfolgt im Unterschenkelbereich sowie am Fuß (M. extensor digitorum brevis)
  • Nervus suralis – dieser Nerv ist rein sensibel und für die Untersuchung an Unterschenkel und Fuß zugänglich

Die Nervenleitungsgeschwindigkeit wird nicht direkt gemessen, sondern errechnet. Dazu wird der zu untersuchende Nervenstamm an einer der gut zugänglichen Stellen durch einen elektrischen Reiz stimuliert (Dauer: ca. 0,1-1 Sekunde; Frequenz: ca. 0,1-1,0/Sekunde). Die Aktionspotenziale (elektrische Erregungswellen des Nervs) werden unter Berücksichtigung der Zeit und der Amplitudengröße am entsprechenden Muskel abgeleitet (Zeitintervall von der Reizung des Nervs bis zum Eintreffen der Erregung am Muskel und Stärke der Erregung, die den Muskel erreicht). Bei der Ableitung der Muskelerregung (Muskelaktionspotenzial) wird die Zeit der Übertragung der Erregung auf die Muskulatur ebenfalls gemessen. Um die reine Nervenleitungsgeschwindigkeit zu ermitteln, muss der Nerv an zwei Stellen stimuliert werden und die Zeitspannen voneinander abgezogen werden.

Es gibt zwei verschieden Nervenleitungsgeschwindigkeiten, die sensible NLG (Leitungsgeschwindigkeit einer sensiblen Nervenbahn) und die motorische NLG (Leitungsgeschwindigkeit einer motorischen Nervenbahn). Die motorische NLG wird wie oben beschrieben ermittelt, d. h. der Nerv wird proximal gereizt (z. B. am Unterarm) und die Erregung distal abgeleitet (z. B. an der Hand). Die Richtung der Erregung ist orthodrom, also in physiologischer Richtung entlang der Extremität vom Rumpf weg. Bei der sensiblen NLG erfolgt die Reizung sowohl orthodrom als auch antidrom (die Reizung erfolgt umgekehrt von distal (Hand) nach proximal (Unterarm). Die sensible NLG ist ein empfindlicherer Messparameter als die motorische NLG.

Die gesamte Messung besteht aus mehreren Schritten:

  1. Erfassung der Spontanaktivität – Nach Anbringung der Elektroden wird die Erregung in Ruhe (ohne Stimulation) gemessen. Ungewöhnliche Erregungen, sogenannte Fibrillationen und Faszikulationen, sowie positive scharfe Wellen oder pseudomyotone Entladungen (krankhafte Erregungen) geben Hinweise auf eine frische Läsion des Nervenstamms.
  2. Erfassung der Muskelaktionspotenziale – durch Reizung, wie oben beschrieben.

Die Nervenleitungsgeschwindigkeit wird in Metern/Sekunde angegeben und beträgt beim gesunden Erwachsenen ca. 45-65 Meter/Sekunde. Ein pathologischer (krankhafter) Befund ist die Verlangsamung der NLG durch eine primäre Schädigung des Nervenmantels sowie eine Verringerung der Amplitudengröße durch eine primäre Schädigung des Axons. 

Eine weitere Untersuchungsmöglichkeit der Elektroneurographie ist die elektrodiagnostische Reflexuntersuchung des Orbicularis-oculi-Reflexes (Blinkreflex). Dabei wird der sogenannte Nervus supraorbitalis an seiner Austrittsstelle gereizt und die Muskelaktionspotenziale des M. orbicularis oculi (Augenschließmuskel) abgeleitet. Diese Untersuchung wird z. B. bei der Fazialisparese angewendet (Lähmung des motorischen Gesichtsnervs).

Mögliche Befunde 

Bei der Elektroneurographie können verschiedene Befunde auftreten, die auf unterschiedliche Nervenerkrankungen hinweisen:

  • Neurapraxie
    • Blockierung der Erregungsleitung bei erhaltener Kontinuität der Myelinscheide (Nervenmantel).
    • Kann durch Kompression des Nervs verursacht werden.
  • Axonotmesis
    • Blockierung der Erregungsleitung bei Zerstörung des Axons, aber erhaltener Kontinuität der Myelinscheide.
  • Neurotmesis
    • Komplette Nervendurchtrennung.

Nach der Untersuchung

Nach der Elektroneurographie können leichte Beschwerden an den Stellen auftreten, an denen die Elektroden angebracht wurden. Diese Beschwerden sollten in der Regel innerhalb weniger Stunden abklingen. Es ist wichtig, den Bereich um die Elektroden sauber zu halten und mögliche Anzeichen von Infektionen zu überwachen, wie Rötung, Schwellung oder vermehrte Schmerzen.

Mögliche Komplikationen

Komplikationen bei der Elektroneurographie sind selten und können in seltenen Fällen eine Infektion an den Einstichstellen oder eine allergische Reaktion auf die Elektroden umfassen. Es besteht auch ein geringes Risiko von Blutungen oder Hämatomen an den Stellen, an denen die Nadeln eingeführt werden.

Literatur

  1. Delank HW, Gehlen W: Neurologie. Georg Thieme Verlag 2006
  2. Berlit P: Basiswissen Neurologie. Springer Verlag 2007
  3. Heisel J: Neurologische Differentialdiagnostik – Praxiswissen Halte- und Bewegungsorgane. Georg Thieme Verlag 2007