Atemnotsyndrom des Erwachsenen (ARDS) – Ursachen

Pathogenese (Krankheitsentstehung)

Das Akute Respiratorische Distress-Syndrom (ARDS) beschreibt eine schwere Form des akuten Lungenversagens bei einem vorher lungengesunden Menschen. Es ist durch eine akute Schädigung der Alveolar-Kapillar-Barriere (Barriere zwischen Lungenbläschen und den sie umgebenden Kapillaren) charakterisiert, die zu einem Austritt von Flüssigkeit und Entzündungszellen ins Lungengewebe führt. Diese Schädigung beeinträchtigt den Gasaustausch und führt zu einer Hypoxämie (Sauerstoffmangel im Blut) und einer Ateminsuffizienz.

Primäre pathophysiologische Mechanismen

Schädigung der Alveolar-Kapillar-Barriere

Die zentrale pathophysiologische Veränderung beim ARDS ist eine Erhöhung der Kapillarpermeabilität (Durchlässigkeit der Kapillaren). Dies führt zum Übertritt von Protein-reichem Flüssigkeit aus den Kapillaren in das Lungengewebe und die Alveolen (Lungenbläschen).

  • Inflammatorische Reaktion: Die Schädigung der Barriere wird durch eine massive Entzündungsreaktion vermittelt. Leukozyten (weiße Blutkörperchen), insbesondere neutrophile Granulozyten, wandern ins Lungengewebe ein und setzen entzündliche Mediatoren frei, wie Zytokine (z. B. IL-1, IL-6, TNF-α), die die Entzündung weiter verstärken.

Freisetzung von Mediatoren

  • Zytokine und Chemokine: Diese Botenstoffe fördern die Rekrutierung von Immunzellen und steigern die Permeabilität der Kapillaren, was die Ansammlung von Flüssigkeit im Lungengewebe weiter verstärkt.
  • Proteasen und reaktive Sauerstoffspezies: Diese von Immunzellen freigesetzten Enzyme und Sauerstoffradikale verursachen direkt Gewebeschäden an den Alveolarzellen und Kapillaren.

Stadien des ARDS

1. Exsudative (inflammatorische) Phase – Akute Phase

In der akuten, inflammatorischen Phase wird die Kapillarpermeabilität stark erhöht, was zu einem interstitiellen Lungenödem führt. Dabei wird Flüssigkeit im Interstitium (Zellzwischenräumen und Bindegewebsstrukturen der Lunge) eingelagert. Weitere pathophysiologische Merkmale:

  • Austritt von Protein-reicher Flüssigkeit ins Lungengewebe
  • Bildung von hyalinen Membranen an den Alveolarwänden, was den Gasaustausch behindert
  • Atemnot und Hypoxämie, die trotz Sauerstoffgabe bestehen bleibt

2. Proliferative (subakute) Phase

In dieser Phase kommt es zum alveolären Lungenödem, wobei sich Flüssigkeit in den Alveolen ansammelt, was durch den Untergang von Pneumozyten (Alveolarepithelzellen) verursacht wird. Merkmale:

  • Zellproliferation (Zellvermehrung) in der Lunge zur Reparatur des geschädigten Gewebes
  • Absterben von Pneumozyten Typ I, die für den Gasaustausch verantwortlich sind
  • Vermehrung der Pneumozyten Typ II, die Surfactant produzieren, was zur Wiederherstellung der alveolären Funktion beitragen soll
  • Fortschreitende Hypoxie aufgrund der fortdauernden Ansammlung von Flüssigkeit in den Alveolen

3. Fibrosierende (chronische) Phase

In der chronischen Phase kommt es zur irreversiblen Lungenfibrose (Vernarbung des Lungengewebes) und einer Endothelproliferation (Vermehrung der Zellen, die die Kapillaren auskleiden). Diese Phase ist gekennzeichnet durch:

  • Fibrosierung des Lungengewebes, was die Elastizität der Lunge verringert und zu restriktiven Lungenfunktionsstörungen führt
  • Verdickung der Alveolarwände und weiterer Verlust des Gasaustauschs
  • Pulmonale Hypertonie (erhöhter Druck im Lungenkreislauf) infolge der vermehrten Endothelproliferation

Sekundäre pathophysiologische Veränderungen

Veränderungen in der Gewebsarchitektur

  • Interstitielles Lungenödem: Flüssigkeit lagert sich im Interstitium an und stört die Lungengerüstsstrukturen.
  • Alveoläres Lungenödem: Die Flüssigkeit gelangt in die Alveolen, was den Gasaustausch blockiert und die Sauerstoffversorgung des Körpers drastisch reduziert.

Beteiligung des umgebenden Gewebes

  • Verlust der Alveolarintegrität: Der Untergang von Pneumozyten führt zu einer weiteren Destabilisierung der Alveolarwände.
  • Vermehrte Sekretion von Surfactant durch Pneumozyten Typ II, um den Kollaps der Alveolen zu verhindern, was jedoch oft unzureichend ist.

Vaskuläre Veränderungen

  • Gefäßlecks aufgrund der erhöhten Kapillarpermeabilität, die zur weiteren Ansammlung von Flüssigkeit im Lungengewebe beitragen.
  • Pulmonale Hypertonie: Die Vermehrung von Endothelzellen und die Bildung von Narbengewebe in den Kapillaren führen zu einem erhöhten Druck im Lungenkreislauf, was das rechte Herz stark belastet.

Klinische Manifestation

Leitsymptome

  • Akute Atemnot: Plötzlich einsetzende Ateminsuffizienz, die trotz Sauerstofftherapie bestehen bleibt
  • Tachypnoe (gesteigerte Atemfrequenz) und Tachykardie (beschleunigter Herzschlag)
  • Hypoxämie, die sich durch eine Zyanose (Blaufärbung der Haut) und niedrigen Sauerstoffsättigungswerten im Blut manifestiert

Fortgeschrittene Symptome

  • Zyanose: Blaufärbung der Haut und Schleimhäute aufgrund des Sauerstoffmangels
  • Hypotonie und Schock, insbesondere bei schwerem ARDS, das auf eine Sepsis oder Trauma zurückzuführen ist

Progression und Organbeteiligung

Lokale Gewebeveränderungen

  • Alveolarschäden: Der Verlust von Pneumozyten und die Bildung von Narbengewebe führen zu einem dauerhaften Verlust der Alveolarfunktion.
  • Interstitielle Fibrose: Eine fortschreitende Vernarbung des Lungengewebes führt zu restriktiven Funktionsstörungen der Lunge.

Systemische Auswirkungen bei chronischen Verläufen

  • Multiorganversagen: Aufgrund der Hypoxie und der systemischen Entzündungsreaktion kann es zu einer Beteiligung anderer Organe kommen, einschließlich Nierenversagen, Kreislaufversagen und Leberversagen.

Typische Ursachen

Direkte pulmonale Schädigungen

  • Schwere pulmonale Infektionen: Z. B. Pneumonie oder Aspirationspneumonie, die die Lunge direkt schädigen und den Entzündungsprozess auslösen.
  • Inhalative Noxen: Schädliche Substanzen wie Rauch, toxische Gase oder Dämpfe, die direkt das Lungengewebe angreifen und die Alveolar-Kapillar-Barriere schädigen.

Indirekte pulmonale Schädigungen

  • Akute Pankreatitis: Entzündliche Mediatoren aus der Bauchspeicheldrüse können eine systemische Entzündungsreaktion auslösen, die die Lunge schädigt.
  • Sepsis: Eine systemische Infektion kann zu einer generalisierten Entzündungsreaktion führen, die die Lunge schädigt und ARDS verursacht.
  • Verbrauchskoagulopathie (DIC): Eine Störung der Blutgerinnung, die Mikrothromben in den Lungengefäßen verursacht und das Lungengewebe schädigt.
  • Trauma oder Verbrennungen: Schwere Verletzungen können eine Entzündungsreaktion im gesamten Körper auslösen, die auch die Lunge betrifft und ARDS verursachen kann.

Zusammenfassung und klinische Relevanz

Das ARDS ist eine schwerwiegende Erkrankung, die durch eine akute Schädigung der Alveolar-Kapillar-Barriere der Lunge verursacht wird. Es verläuft in drei Phasen, von der akuten exsudativen Phase über die proliferative Phase bis hin zur fibrosierenden Phase, die zu einer irreversiblen Lungenfibrose führen kann. Die Unterscheidung der Stadien ist wichtig für die Therapieplanung, da sich die Behandlungsansätze je nach Phase der Erkrankung unterscheiden. Typische Ursachen für ARDS umfassen sowohl direkte (z. B. Pneumonie/Lungenentzündung) als auch indirekte Schädigungen (z. B. Sepsis/Blutvergiftung), die eine systemische Entzündungsreaktion auslösen.

Ätiologie (Ursachen)

Verhaltensbedingte Ursachen

  • Drogenkonsum
    • Inhalative Drogen, nicht näher bezeichnet

Krankheitsbedingte Ursachen

Atmungssystem (J00-J99)

  • Aspirationspneumonie (Form der Pneumonie, die durch eine Aspiration/Einatmen von Fremdkörpern oder Flüssigkeiten entsteht) (14,2 % der Fälle) [1]
  • Pneumonie (Lungenentzündung) (59,4 % der Fälle) [1]

Blut, blutbildende Organe – Immunsystem (D50-D90)

  • Disseminierte intravasale Gerinnung (DIC; Disseminated Intravascular Coagulation) ‒ erworbener lebensbedrohlicher Zustand, bei dem durch eine übermäßig stark ablaufende Blutgerinnung im Blutgefäßsystem Gerinnungsfaktoren und Thrombozyten (Blutplättchen) verbraucht werden und daraus eine Blutungsneigung resultiert

Infektiöse und parasitäre Krankheiten (A00-B99)

  • Sepsis (Blutvergiftung), extrapulmonale ("außerhalb der Lungen"); ca. 16 % der Fälle [1]), z. B. Urosepsis (systemische Entzündungsreaktion des gesamten Organismus infolge einer von den Harnwegen ausgehenden bakteriellen Infektion)

Leber, Gallenblase und Gallenwege – Pankreas (Bauchspeicheldrüse) (K70-K77; K80-K87)

  • Akute Pankreatitis (Bauchspeicheldrüsenentzündung)

Symptome und abnorme klinische und Laborbefunde, die anderenorts nicht klassifiziert sind (R00-R99)

  • Schock (nichtkardiogener Schock/nicht herzbedingter Schock): 7,5 % der Fälle [1])

Verletzungen, Vergiftungen und andere Folgen äußerer Ursachen (S00-T98)

  • Aspiration (Einatmen in die Lunge) von Mageninhalt, Wasser, Fremdkörpern
  • Beinahe-Ertrinken
  • Fettembolie ‒ Verschluss von Gefäßen durch Eindringen von Fetttröpfchen aus dem Gewebe
  • Inhalationstrauma ‒ Lungenschädigung, die durch das Einatmen von Rauch bedingt ist
  • Lungenkontusion (Lungenprellung)
  • Reperfusionstrauma ‒ Schäden an Organen, die nach Wiedereröffnung der Gefäße nach längerer Abschnürung auftreten können
  • Schädelhirntrauma (SHT)
  • Verbrennungen
  • Verletzungen, nicht näher bezeichnet, die zu einer längeren Hypotension (niedrigem Blutdruck) führen

Medikamente

  • Transfusionsassoziierte akute Lungeninsuffizienz (TRALI) ‒ akute Lungenerkrankung mit Atemnot, die nach der Transfusion von Blutprodukten auftreten kann
  • Medikamentenintoxikation, nicht näher bezeichnet
  • Narkotika

Operationen

  • Kardiopulmonaler Bypass bei Operationen ‒ Einsatz der Herz-Lungen-Maschine
  • Lungentransplantation (LUTX)

Umweltbelastung – Intoxikationen (Vergiftungen)

  • Paraquat (Kontaktherbizid)

Literatur

  1. Bellani G et al.: Investigators LUNGSAFE, ESICM Trials Group (2016) Epidemiology, patterns of care, and mortality for patients with acute respiratory distress syndrome in intensive care units in 50 countries. JAMA 2016 Feb 23;315(8):788-800. doi: 10.1001/jama.2016.0291.