Myelodysplastisches Syndrom (MDS) – Ursachen

Pathogenese (Krankheitsentstehung)

Das myelodysplastische Syndrom (MDS) ist eine klonale Erkrankung der Hämatopoese (Blutbildung), bei der es zu qualitativen und quantitativen Veränderungen in der Blutbildung kommt. Die Pathogenese ist durch eine Dysfunktion der Stammzellen im Knochenmark gekennzeichnet, die zu einer ineffizienten Produktion der Blutzellen führt. Diese Veränderungen resultieren in einer peripheren Zytopenie (verminderte Zellzahl im Blut) und können letztlich in eine akute myeloische Leukämie (AML) übergehen.

Primäre pathophysiologische Mechanismen

Initialer Pathomechanismus:

  • Der zentrale Defekt liegt in der pluripotenten Stammzelle, die durch genetische und epigenetische Veränderungen ihre Fähigkeit verliert, gesunde Blutzellen in ausreichender Zahl und Funktion zu produzieren.
  • Durch die klonale Expansion der defekten Zellen sind alle oder mehrere Blutzelllinien betroffen. Dies führt zu einer ineffektiven Hämatopoese und damit zu einer Verkürzung der Lebensdauer und Funktionstüchtigkeit der Blutzellen.

Molekulare und genetische Veränderungen:

  • Chromosomenaberrationen sind bei etwa 50 % der Patienten mit primärem MDS nachweisbar. Die häufigsten genetischen Veränderungen umfassen Deletionen auf den Chromosomen 5 (-5/5q), 7 (-7/7q), 20 (20q-), sowie eine Trisomie 8 (+8).
  • Sekundäre MDS, die nach zytotoxischen Therapien oder Bestrahlungen entstehen, zeigen häufig komplexere genetische Aberrationen.

Sekundäre pathophysiologische Veränderungen

Veränderungen in der Gewebsarchitektur:

  • Im Knochenmark zeigt sich eine Hyperplasie (vermehrtes Wachstum) der hämatopoetischen Zellen, jedoch mit einer ineffizienten Differenzierung. Dies führt zu einer dysplastischen Veränderung der Zellen im Knochenmark.
  • Die gestörte Hämatopoese resultiert in der peripheren Zytopenie, die sich klinisch in einer Anämie (Blutarmut), Thrombozytopenie (Mangel an Blutplättchen) und Neutropenie (Mangel an Neutrophilen) zeigt.

Beteiligung des Immunsystems:

  • Eine immunologische Dysregulation kann das Fortschreiten der Erkrankung fördern. Altersbedingte Entzündungen (Inflammaging) und chronische Komorbiditäten können das Risiko für die Entstehung von MDS oder einer chronischen myelomonozytären Leukämie (CMML) erhöhen [4].

Klinische Manifestation

Leitsymptome:

  • Patienten mit MDS präsentieren sich häufig mit unspezifischen Symptomen wie Müdigkeit, Infektanfälligkeit und Blutungsneigung. Diese Symptome sind direkte Folgen der Zytopenien im Blut.
  • Eine Blässe oder Kurzatmigkeit aufgrund der Anämie ist ebenfalls ein häufiges Symptom.

Fortgeschrittene Symptome:

  • In fortgeschrittenen Stadien kann es zu schwerwiegenden Infektionen, Blutungen oder einer Transfusionsabhängigkeit kommen.
  • Bei einigen Patienten kommt es zum Übergang in eine AML, was die Prognose deutlich verschlechtert.

Progression und Organbeteiligung

Lokale Gewebeveränderungen:

  • Die Progression zu einer AML geht mit einer zunehmenden klonalen Expansion der Blasten (unreife Blutzellen) im Knochenmark einher.
  • Dies führt zu einer zunehmenden Ineffizienz der Blutbildung und zu einer Verdrängung der normalen Hämatopoese.

Systemische Auswirkungen bei chronischen Verläufen:

  • Chronische Infektionen und Blutungen können durch die Zytopenie das tägliche Leben erheblich einschränken. Die Notwendigkeit häufiger Bluttransfusionen und Infektionen durch Immunsuppression sind bei Patienten im Spätstadium häufig.

Funktionelle Auswirkungen und strukturelle Schäden

Beeinträchtigung der hämatopoetischen Funktion:

  • Die chronische Ineffizienz der Hämatopoese führt zu einer dauerhaften Abhängigkeit von externen Blutprodukten wie Erythrozyten- und Thrombozytenkonzentraten.
  • Funktionsstörungen der Blutzellen, insbesondere der weißen Blutkörperchen, führen zu einer erhöhten Infektanfälligkeit.

Regenerative und kompensatorische Prozesse

Versuche der Geweberegeneration:

  • Durch den Defekt in der Stammzellpopulation ist die Fähigkeit des Knochenmarks zur Regeneration stark eingeschränkt. Dies führt zu einer anhaltenden Dysplasie und letztlich zu einer aplastischen oder leukämischen Transformation.

Kompensatorische Mechanismen:

  • Durch die ineffiziente Hämatopoese kommt es zu einer Aktivierung kompensatorischer Mechanismen, wie der vermehrten Ausschüttung von Wachstumsfaktoren, die jedoch den Funktionsverlust nicht aufhalten können.

Zusammenfassung und klinische Relevanz

Das myelodysplastische Syndrom (MDS) ist eine klonale Erkrankung der Hämatopoese, die durch genetische und epigenetische Veränderungen in den Stammzellen des Knochenmarks gekennzeichnet ist. Diese führen zu einer ineffektiven Blutbildung und einer peripheren Zytopenie. Das MDS zeigt eine variable klinische Präsentation, die von einer milden Anämie bis zum Übergang in eine akute myeloische Leukämie (AML) reichen kann. Die Kenntnis der molekularen Mechanismen und genetischen Veränderungen ist entscheidend für die Prognose und Therapieauswahl.

Einteilung des myelodysplastischen Syndroms

  • Primäres myelodysplastisches Syndrom (> 90 %)
    • ohne erkennbare Ursache
  • Sekundäres myelodysplastisches Syndrom (< 10 %)
    • Therapie-assoziiertes myelodysplastisches Syndrom
      • nach vorangegangener Zytostatikatherapie (Synonym: Chemotherapie) – Alkylanzien, Topoisomerase II-Inhibitoren, Cisplatin, Fludarabin, Azathioprin
      • nach Behandlung von beispielsweise Ovarial- und Mammakarzinomen mit PARP-Inhibitoren [3]
      • nach Radiatio (Strahlentherapie)
      • nach kombinierter Radiochemotherapie (RCTX; v. a. Alkylanzien in Kombination mit einer Bestrahlungstherapie)
      • nach Radiojodtherapie
    • Ausgelöst durch langjährige Exposition (10-20 Jahre) gegenüber toxischen (giftigen) Substanzen wie Benzole und auch bestimmten Lösungsmitteln – betroffen sind besonders Tankstellenbedienstete, Lackierer und Maler sowie auch Bedienstete von Flughäfen (Kerosin)

Ätiologie (Ursachen) des sekundären myelodysplastischen Syndroms

Strahlentherapie

  • Kombinierte Radiochemotherapie (RCTX; v. a. Alkylanzien in Kombination mit einer Bestrahlungstherapie)
  • Radiojodtherapie
  • Strahlentherapie (Radiatio)  

Chemotherapien

  • Kombinierte Radiochemotherapie (RCTX; v. a. Alkylanzien in Kombination mit einer Bestrahlungstherapie)
  • Vorausgegangene Zytostatikatherapie (Synonym: Chemotherapie)
    • Alkylanzien, Topoisomerase II-Inhibitoren, Cisplatin, Fludarabin, Azathioprin [1]
    • Solide Tumoren (höchstes Risiko: Knochenkrebs (SIR 39,0; 95-%-Konfidenzintervall 21,4-65,5), Weichteilkrebs (SIR 10,4; 6,4-15,9) und Hodenkrebs (SIR, 12,3; 7,6-18,8); Tumoren in Peritoneum, Lungen (kleinzelliges Karzinom), Eierstock, Eileitern oder zentralem Nervensystem: SIR 5- bis 9-fache; übrigen Krebserkrankungen: SIR 1,5- bis 4-fache) [2]

Umweltbelastungen – Intoxikationen (Vergiftungen)

  • Langjährige Exposition (10-20 Jahre) gegenüber toxischen (giftigen) Substanzen wie Benzole und auch bestimmte Lösungsmittel – betroffen sind besonders Tankstellenbedienstete, Lackierer und Maler sowie auch Bedienstete von Flughäfen (Kerosin) 
  • Blei
  • Insektizide

Literatur

  1. Ertr-Archambault N et al.: Association of Therapy for Autoimmune Disease With Myelodysplastic Syndromes and Acute Myeloid Leukemia. JAMA Oncol. Published online February 2, 2017. doi:10.1001/jamaoncol.2016.6435
  2. Morton LM et al.: Association of Chemotherapy for Solid Tumors With Development of Therapy-Related Myelodysplastic Syndrome or Acute Myeloid Leukemia in the Modern Era. JAMA Oncol. Published online December 20, 2018. doi:10.1001/jamaoncol.2018.5625
  3. Morice PM et al.: Myelodysplastic syndrome and acute myeloid leukaemia in patients treated with PARP inhibitors: a safety meta-analysis of randomised controlled trials and a retrospective study of the WHO pharmacovigilance database Lancet Haematology 2021;8("):E122-E134 doi: https://doi.org/10.1016/S2352-3026(20)30360-4
  4. Weeks LD et al.: Age-related diseases of inflammation in myelodysplastic syndrome and chronic myelomonocytic leukemia. Blood 2022;139 (8): 1246-1250 https://doi.org/10.1182/blood.2021014418