Akute lymphatische Leukämie (ALL) – Einleitung

Die akute lymphatische Leukämie (ALL) ist eine maligne (bösartige) Neubildung des blutbildenden Systems, die durch eine unkontrollierte Proliferation lymphatischer Vorläuferzellen (Lymphoblasten) im Knochenmark, Blut und anderen lymphatischen Geweben charakterisiert ist.

Synonyme und ICD-10: Akute lymphoblastische Leukämie; Akute lymphoide Leukämie; Akute lymphozytäre Leukämie; Burkitt-Zell-Leukämie; Lymphoblastenleukämie; Lymphoblastische Leukämie; ICD-10-GM C91.0-: Akute lymphoblastische Leukämie [ALL]

Charakteristische Laborbefunde

Blutbild

  • Leukozytose: Häufig erhöhte Anzahl an Leukozyten (weiße Blutkörperchen), kann jedoch auch normale oder niedrige Werte aufweisen.
  • Anämie: Verminderte Anzahl an Erythrozyten (rote Blutkörperchen) und Hämoglobin, führt zu Müdigkeit und Blässe.
  • Thrombozytopenie: Verminderte Anzahl an Thrombozyten (Blutplättchen), erhöhtes Blutungsrisiko.

Differentialblutbild

  • Lymphoblasten im peripheren Blut: Präsenz unreifer lymphatischer Zellen (Blasten), oft mehr als 20 % der Leukozyten.

Knochenmarkbefund

  • Hyperzelluläres Knochenmark: Erhöhte Zellzahl mit dominanter Vermehrung von Blasten.
  • Blastenanteil: Mehr als 20 % der Zellen im Knochenmark sind Blasten.

Biochemische Marker

  • Laktatdehydrogenase (LDH): Erhöhte Werte durch hohe Zellumsatzrate.
  • Harnsäure: Erhöhte Werte aufgrund verstärkten Zellabbaus.
  • Kreatinin: Kann erhöht sein bei Nierenbeteiligung.

Immunologische Marker

  • Durchflusszytometrie: Analyse von Oberflächenmarkern zur Differenzierung der Leukämieform (z. B. CD10, CD19, CD20 für B-Zell-ALL; CD2, CD3, CD7 für T-Zell-ALL).
  • Cytogenetik und Molekulargenetik: Nachweis spezifischer chromosomaler Translokationen und genetischer Veränderungen (z. B. t(9;22) Philadelphia-Chromosom).

Liquordiagnostik

  • Liquorzellen: Nachweis von Blasten im Liquor cerebrospinalis bei Verdacht auf meningeale Beteiligung.

Zusätzliche Laborbefunde

  • Entzündungsparameter: Normalerweise nicht erhöht, es sei denn, es liegt eine sekundäre Infektion vor.
  • Knochenmarkbiopsie: Bestätigung der Diagnose durch histologische (feingewebliche) Untersuchung.

Diese Laborbefunde sind entscheidend für die Diagnose, die Klassifikation und das Monitoring der Therapie bei der akuten lymphatischen Leukämie (ALL).

Formen der Erkrankung

Immunologische Subtypen
  • Prä-B-ALL: 75 % der Fälle
  • B-Zell-ALL: 5 % der Fälle
  • T-Zell-ALL: 20 % der Fälle

Histologische Klassifikation

Die ALL wird histologisch nach dem FAB-Klassifikationssystem (French-American-British) in die Untertypen L1, L2 und L3 eingeteilt:

  • L1: Kleine, homogene Blasten mit feinem Chromatin.
  • L2: Große, heterogene Blasten mit nukleolarem Chromatin.
  • L3: Große Blasten mit vakuolisiertem Zytoplasma, typischerweise bei Burkitt-Leukämie.

Genetisches Profil der akuten lymphatischen Leukämie (ALL)

Zytogenetische Veränderungen

  • Philadelphia-Chromosom (t(9;22)(q34;q11)): Diese Translokation führt zur Bildung des BCR-ABL1-Fusionsgens und ist häufiger bei Erwachsenen mit ALL. Sie ist mit einer schlechten Prognose assoziiert.
  • MLL-Gen-Translokationen (11q23): Häufig bei Kleinkindern und mit einer schlechten Prognose verbunden.
  • ETV6-RUNX1 (t(12;21)(p13;q22)): Häufig bei Kindern mit ALL und mit einer guten Prognose assoziiert.
  • TCF3-PBX1 (t(1;19)(q23;p13)): Kommt bei Kindern und Erwachsenen vor und ist mit einer intermediären Prognose verbunden.
  • IGH@-Translokationen: Beteiligung des Immunglobulin-Schwerketten-Lokus (IGH@), oft mit verschiedenen Partnern wie CRLF2, ist mit schlechter Prognose verbunden.

Molekulargenetische Mutationen

  • NOTCH1: Mutationen in diesem Gen sind häufig bei T-Zell-ALL und können sowohl prognostisch günstige als auch ungünstige Auswirkungen haben.
  • FBXW7: Mutationen, die oft mit NOTCH1-Mutationen in T-Zell-ALL koexistieren.
  • RAS-Pathway-Mutationen (NRAS, KRAS, FLT3): Häufig bei ALL und assoziiert mit schlechter Prognose, insbesondere FLT3-Mutationen.
  • JAK-STAT-Pathway-Mutationen (JAK1, JAK2): Häufig bei ALL, insbesondere bei Fällen mit Down-Syndrom oder CRLF2-Rearrangements.
  • IKZF1: Deletionen oder Mutationen in diesem Gen sind häufig bei B-Zell-ALL und mit einer schlechten Prognose verbunden.
  • PAX5: Deletionen oder Mutationen in diesem Gen sind ebenfalls bei B-Zell-ALL häufig und haben prognostische Relevanz.

Weitere molekulargenetische Marker

  • CRLF2-Rearrangements: Bei etwa 5-15 % der B-Zell-ALL-Fälle, oft in Kombination mit JAK-Mutationen.
  • CDKN2A/B-Deletionen: Diese Deletionen sind bei vielen ALL-Fällen vorhanden und mit einer schlechteren Prognose assoziiert.
  • EBF1-PDGFRB: Eine seltene Translokation, die bei ALL vorkommen kann.

Prognostische Bedeutung

  • Günstige Prognose: ETV6-RUNX1, Hyperdiploidie (>50 Chromosomen).
  • Ungünstige Prognose: Philadelphia-Chromosom, MLL-Translokationen, hypodiploide Chromosomensätze (< 45 Chromosomen).

Ursachen

Die genaue Ätiologie der ALL ist nicht vollständig geklärt, aber verschiedene Faktoren sind mit einem erhöhten Risiko assoziiert:

  • Genetische Prädisposition: Chromosomale Translokationen wie t(12;21) und t(9;22) (Philadelphia-Chromosom) sind häufig.
  • Umweltfaktoren: Strahlenexposition, Benzol und andere Chemikalien.
  • Vorerkrankungen: Frühere Chemotherapie oder Strahlentherapie, genetische Syndrome wie Down-Syndrom.

Epidemiologie

Geschlechterverhältnis: Jungen zu Mädchen beträgt 1,2 : 1.

Häufigkeitsgipfel
: Das Maximum des Auftretens liegt zwischen dem 2. und 5. Lebensjahr. Das mediane Alter bei Diagnosestellung liegt bei 4,7 Jahren. Beim älteren Menschen steigt die Häufigkeit wieder leicht an.

Prävalenz
(Krankheitshäufigkeit): In der Altersgruppe bis 15 Jahre beträgt die Inzidenz ca. 3,3 Erkrankungen pro 100.000 Kinder pro Jahr. Im Erwachsenenalter beträgt die Inzidenz 1,5 Erkrankungen pro 100.000 Einwohner pro Jahr.

Inzidenz
(Häufigkeit von Neuerkrankungen): 1,5 Erkrankungen pro 100.000 Einwohner pro Jahr.

Gesamtinzidenz: Insgesamt tritt die ALL in 90 % der Fälle im Kindesalter auf, was ihre Prävalenz als kindliche Erkrankung weiter unterstreicht. Im Erwachsenenalter kommt die ALL deutlich seltener vor.

Verlauf und Prognose

Verlauf

  • Schnelle Entwicklung: Die akute Leukämie entwickelt sich rasch mit charakteristischen starken Beschwerden.
  • Immunschwäche: Die Patienten sind sehr anfällig für Infektionen aufgrund der Immunsuppression (Immunschwäche).
  • Unbehandelt: Führt die Krankheit innerhalb weniger Wochen aufgrund von Infektionen oder Blutungen zum Tod.

Prognose

  • Kindesalter: Gute Prognose, ca. 90 % der Kinder sind heilbar. Bei rezidivierenden (wiederkehrenden) Fällen liegt die Heilungsrate bei ca. 25-40 %.
  • Erwachsenenalter: Schlechtere Prognose, abhängig von Alter und Allgemeinzustand.
  • Langfristige Nachsorge: Essenziell, um frühzeitig Rezidive (Wiederauftreten der Erkrankung) zu erkennen.
  • 5-Jahres-Überlebensrate: Die 5-Jahres-Überlebensrate variiert stark je nach Subtyp und Alter der Patienten. Bei Kindern liegt sie bei bis zu 90 %, während sie bei Erwachsenen geringer ist.

Leitlinien

  1. S1-Leitlinie: Akute lymphoblastische Leukämie (ALL) im Kindesalter. (AWMF-Registernummer: 025-014), Mai 2021 Langfassung
  2. Gökbuge N et al.: Diagnosis, Prognostic Factors and Assessment of ALL in Adults: 2023 ELN Recommendations from a European Expert Panel. Januar 2024. BLD-2023-020794R2.
  3. Gökbuge N et al.: Management of ALL in Adults: 2023 ELN Recommendations from a European Expert Panel. Februar 2024. BLD-2023-023568R1.