Sturzneigung – Differentialdiagnosen

Erkrankungen/Faktoren, die eine Sturzneigung bedingen können:

Angeborene Fehlbildungen, Deformitäten und Chromosomenanomalien (Q00-Q99)

  • Hydrocephalus (Wasserkopf; krankhafte Erweiterung der liquorgefüllten Flüssigkeitsräume (Hirnventrikel) des Gehirns)

Augen und Augenanhangsgebilde (H00-H59)

  • Visusminderung (Sehschwäche)

Blut, blutbildende Organe – Immunsystem (D50-D90)

  • Anämie (Blutarmut) 

Endokrine, Ernährungs- und Stoffwechselkrankheiten (E00-E90)

  • Hyponatriämie (Natriummangel) – 10-fach erhöhtes Risiko für Stürze bei „asymptomatischer, chronischer Hyponatriämie" im Vergleich zur Normonatriämie [4]
  • Hypothyreose (Schilddrüsenunterfunktion) 

Herzkreislaufsystem (I00-I99)

  • Aortenstenose – Obstruktion (Einengung) des Ausflusstraktes der linken Herzkammer
  • Apoplex (Schlaganfall), poststationär
  • Blutdruckschwankungen (insb. Hypotonie/niedriger Blutdruck)
  • Durchblutungsstörungen des zentralen Nervensystems
  • Herzrhythmusstörungen ‒ sowohl bradykarde (langsame) als auch tachykarde (schnelle) Störungen (z. B. ventrikuläre Tachykardie!)
  • Hirnstammischämie – Minderdurchblutung der das Stammhirn versorgenden Gefäße
  • Stummer Myokardinfarkt (Herzinfarkt)

Infektiöse und parasitäre Krankheiten (A00-B99)

  • Infektionen, nicht näher bezeichnet

Muskel-Skelett-System und Bindegewebe (M00-M99)

  • Arthrose – insbesondere der Hüft- und Kniegelenke
  • Bewegungseinschränkung, nicht näher bezeichnet
  • Rheumatoide Arthritis
  • Sarkopenie (Muskelschwäche bzw. Muskelabbau) wg. muskulärer Insuffizienz (Schwäche)

Ohren – Warzenfortsatz (H60-H95)

  • Gleichgewichtsstörungen
  • Hörstörungen (Synonyme: Disacusis; Dysakusis; Hypakusis; Hypoakusis; Surditas; Taubheit)
  • Störungen der Vestibularfunktion (Schwindel, z. B. Labyrinthitis, Morbus Menière) 

Psyche – Nervensystem (F00-F99; G00-G99)

  • Akute Alkoholintoxikation und chronischer Alkoholmissbrauch (Alkoholabhängigkeit)
  • Demenz (Defizit in kognitiven, emotionalen und sozialen Fähigkeiten; z. B. Alzheimer-Demenz)
  • Depression
  • Diabetische autonome Neuropathie – Diabetes-bedingte Nervenerkrankung vegetativer Nerven
  • Epilepsie
  • Gangstörungen
  • Hydrocephalus (Wasserkopf; krankhafte Erweiterung der liquorgefüllten Flüssigkeitsräume (Hirnventrikel) des Gehirns)
  • Kognitive Beeinträchtigung (Funktionen des Menschen, die mit Wahrnehmung, Lernen, Erinnern und Denken, also der menschlichen Erkenntnis- und Informationsverarbeitung in Zusammenhang stehen), nicht näher bezeichnet
  • Konzentrationsstörungen
  • Morbus Parkinson (Schüttellähmung)
  • Multiple Sklerose (MS)
  • Neurologische Störungen, nicht näher bezeichnet
  • Paresen (Lähmungen), nicht näher bezeichnet
  • Periphere Neuropathie (Störung eines oder mehrerer peripherer Nerven) – u. a. Chemotherapie-induzierte periphere Neuropathie 
  • Polyneuropathie degenerative Erkrankung der peripheren Nerven
  • Rückenmarksschädigung, nicht näher bezeichnet
  • Zystische Veränderungen in den Hirnventrikeln, die zu plötzlichen und kurzzeitigen Drop Attacks ("Sturzattacke"; plötzliches Sturzereignis bei ungetrübter Bewusstseinslage infolge eines Tonusverlustes der unteren Extremitäten) führen

Symptome und abnorme klinische und Laborbefunde, die anderenorts nicht klassifiziert sind (R00-R99)

  • Asterixis ("Flügelschlagen", Flattertremor)
  • Chronische Schmerzen bei Erwachsenen über 50 Jahre und Vorhandensein multilokulärer ("an mehreren Orten") Schmerzen ist die Sturzneigung gegenüber Gleichaltrigen ohne Schmerzen fast verdoppelt [6]
  • Dysosmie (Geruchsstörungen) – Störungen des Geruchssinns sind signifikant mit bestehender Dysfunktion des Gleichgewichtssinns assoziiert [9]
  • Gangstörung, nicht näher bezeichnet
  • Harninkontinenz (Blasenschwäche)
  • Orthostaseprobleme
  • Synkope kurz andauernde Ohnmacht infolge einer Minderversorgung des Gehirns mit Sauerstoff
  • Vertigo (Schwindel; z. B. Labyrinthitis, Morbus Menière)

Weiteres

  • Physiologische Veränderungen im Alter*

Medikamente (sturzbegünstigende Medikamente; engl. "fall-risk increasing drugs", kurz "FRIDs")

  • Alphablocker – es stürzten signifikant mehr Männer nach Beginn der Therapie als Männer in der Kontrollgruppe (1,45 versus 1,28 %). Relativ lag der Unterschied bei etwa 12 %, absolut nur bei 0,17 %; Knochenbrüche wurden bei 0,48 % der Patienten mit Alphablockern und bei 0,41 % ohne registriert (der Unterschied war signifikant) [5]
  • Antiarrhythmika: Amiodaron, Digoxin – Durch mögliche Bradykardie oder Rhythmusstörungen kann Schwindel verstärkt auftreten.
  • Anticholinergika
  • Antidiabetika: Insulin und Sulfonylharnstoffe – Hypoglykämien erhöhen das Risiko für Bewusstseinsstörungen und Stürze.
  • Antiepileptika
  • Antipsychotika – Besonders bei älteren Patienten, da sie Sedierung und orthostatische Hypotonie begünstigen können.
  • Benzodiazepine, Phenothiazine, trizyklische Antidepressiva; Antihypertensiva – besonders gefährdet waren Menschen, die bereits einen Sturz hatten [1]); eine andere Studie konnte den Zusammenhang mit Antihypertensiva nicht bestätigen: sie konnte sogar ein signifikant niedriges Risiko von Stürzen mit Verletzungsfolgen für ACE-Hemmer und Calciumantagonisten nachweisen [2]; eine weitere Studie konnte für RAAS-Hemmstoffe ebenfalls ein geringeres Sturzrisiko nachweisen [3]
  • Betablocker – Können Schwindel und orthostatische Hypotonie verursachen, besonders bei Dosisanpassungen.
  • Diuretika (Schleifendiuretika wie Furosemid) – Hypokaliämie (Kaliummangel) und Dehydratation (Austrocknung) erhöhen das Risiko von Stürzen.
  • Hormone
    • Antiandrogene (Enzalutamid, Apalutamid und Darolutamid) in der Behandlung des fortgeschrittenen Prostatakarzinoms: für alle Stürze ein relatives Risiko (RR) von 1,8, das mit einem 95-%-Konfidenzintervall von 1,42 bis 2,24 signifikant war. Für die schweren Stürze (Grad 3 oder höher) betrug das relative Risiko 1,6 (1,27 bis 2,08) [7].
  • Langzeit-Steroidtherapie – Kann zu Muskelschwäche und Osteoporose beitragen, was Stürze und Frakturen begünstigt.
  • Nitrate – Durch Vasodilatation verursachte Hypotonie kann zu Schwindel und Stürzen führen.
  • Opioide
  • Parkinson-Medikamente: Levodopa und Dopaminagonisten – Verursachen häufig orthostatische Hypotonie und Dyskinesien, die das Sturzrisiko erhöhen.
  • SSRIs und SNRIs (Serotonin-Wiederaufnahmehemmer) – Erhöhtes Risiko für Stürze, insbesondere in den ersten Wochen nach Beginn der Therapie.
  • Thiaziddiuretika (Elektrolystörungen: Hyponatriämien: 22,1 Prozent; Hypokaliämien: 19,0 Prozent; am höchsten war das Risiko bei Chlortalidon; am geringsten Hydrochlorothiazid; dazwischen lagen Metolazon und Indapamid [8])
  • Vasodilatatoren
  • Zentralwirksame Antihistaminika
  • Polypharmazie (> 6 verordnete Medikamente)
  • Weitere Medikamente s. u. Delir und Hypotonie

*Zu den physiologischen Veränderungen im Alter zählen unter anderem:

  • Allgemeine Schwäche
  • Orthostatische Hypotonie ‒ Blutdruckabfall im Zusammenhang mit dem Aufstehen
  • Veränderung von Aufmerksamkeit, Koordination und Schnelligkeit
  • Verminderte Propriozeption (Wahrnehmung der Tiefensensibilität und Körperstellung im Raum)
  • Vermindertes Sehvermögen
  • Zunehmende Haltungsinstabilität

Literatur

  1. Tinetti ME, et al.: Antihypertensive Medications and Serious Fall Injuries in a Nationally Representative Sample of Older Adults. JAMA Intern Med. Published online February 24, 2014. doi:10.1001/jamainternmed.2013.14764
  2. Lipsitz LA et al.: Reexamining the Effect of Antihypertensive Medications On Falls in Old Age. Hypertension. 2015 May 4. doi: 10.1161/HYPERTENSIONAHA.115.05513
  3. Wong AK et al.: Angiotensin system-blocking medications are associated with fewer falls over 12 months in community-dwelling older people. J Am Geriatr Soc. 2013;61(5):776-81
  4. Renneboog B et al.: Mild chronic hyponatremia is associated with falls, unsteadiness, and attention deficits. Am J Med. 2006 Jan;119(1):71.e1-8.
  5. Welk B et al.: The risk of fall and fracture with the initiation of a prostate-selective α antagonist: a population based cohort study. BMJ 2015;351:h5398
  6. Welsh VK et al.: Multisite pain and self-reported falls in older people: systematic review and meta-analysis Arthritis Research & Therapy 2019;21,67
  7. Myint ZW et al.: Evaluation of Fall and Fracture Risk Among Men With Prostate Cancer Treated With Androgen Receptor Inhibitors A Systematic Review and Meta-analysisJAMA Netw Open. 2020;3(11):e2025826. doi:10.1001/jamanetworkopen.2020.25826
  8. Ravioli SR et al.: Risk of electrolyte disorders, syncope and falls in patients taking thiazide diuretics: results of a cross-sectional study Am J Med 8 May 2021 https://doi.org/10.1016/j.amjmed.2021.04.007
  9. Yesantharao LV et al.: Olfactory Dysfunction and Balance Dysfunction are Associated with Increased Falls in Older Adults. Laryngoscope 2023; https://doi.org/10.1002/lary.30733