Sturzneigung – Anamnese
Die Anamnese (Krankengeschichte) stellt einen wichtigen Baustein in der Diagnostik der Sturzneigung dar.
Familienanamnese
- Gibt es in Ihrer Familie Erkrankungen, die mit Mobilitätsstörungen oder Stürzen in Verbindung stehen, wie z. B. neurologische Erkrankungen, Gelenkerkrankungen oder genetische Muskelschwächen?
- Sind in Ihrer Familie Fälle von Osteoporose, Knochenbrüchen oder anderen Knochenerkrankungen bekannt?
Soziale Anamnese
- Beruf:
- Welchen Beruf üben Sie aus?
- Sind Sie während Ihrer beruflichen Tätigkeit einem erhöhten Sturzrisiko ausgesetzt?
- Leben Sie allein oder in einer Gemeinschaft?
- Haben Sie Zugang zu einer sicheren Wohnumgebung (z. B. rutschfeste Böden, ausreichend Beleuchtung, Handläufe)?
- Gibt es psychosoziale Belastungen, die Ihre Mobilität oder Ihre körperliche Sicherheit beeinträchtigen könnten?
Aktuelle Anamnese/Systemanamnese (somatische und psychische Beschwerden)
- Wie oft sind Sie bereits gestürzt?
- Haben Sie sich dabei verletzt (z. B. Knochenbrüche, Prellungen, Kopfverletzungen)?
- In welchen Situationen treten die Stürze auf (z. B. im Haushalt, auf der Straße, beim Treppensteigen, bei plötzlicher Bewegung)?
- Haben Sie Schwierigkeiten beim Gehen oder Laufen, z. B. Instabilität oder Unsicherheiten?*
- Treten bei Ihnen Schwindel, Gleichgewichtsstörungen oder plötzliche Bewusstseinsverluste auf?*
- Haben Sie vor oder während der Stürze Symptome, wie:
- Kopfschmerzen?*
- Herzstolpern oder Herzrasen?*
- Übelkeit, Erbrechen oder Schweißausbrüche?*
- Muskelzittern oder Muskelschwäche?*
- Ist Ihr Sehvermögen eingeschränkt? Tragen Sie eine Brille?
- Haben Sie Hörprobleme oder tragen Sie Hörhilfen?
- Leiden Sie an Schmerzen, Steifheit oder Bewegungseinschränkungen der Gelenke, insbesondere der Beine oder der Hüfte?
- Haben Sie Schwierigkeiten mit dem Erinnerungs- oder Merkvermögen?*
- Leiden Sie unter einer Depression oder anderen psychischen Erkrankungen?*
Vegetative Anamnese inkl. Ernährungsanamnese
- Ernähren Sie sich ausgewogen und ausreichend?
- Geben Sie bitte uns Ihr Körpergewicht (in kg) und Ihre Körpergröße (in cm) an.
- Hat sich Ihr Gewicht ungewollt verändert?
- Trinken Sie ausreichend Flüssigkeit?
Eigenanamnese inkl. Medikamentenanamnese
- Vorerkrankungen:
- Augenerkrankungen (z. B. Katarakt (Grauer Star), Glaukom (Grüner Star))?
- Erkrankungen des Bewegungsapparates (z. B. Arthrose, Muskelerkrankungen)?
- Neurologische Erkrankungen (z. B. Morbus Parkinson, Polyneuropathie (Erkrankung der peripheren Nerven))?
- Herz-Kreislauf-Erkrankungen (z. B. Herzrhythmusstörungen, Herzinsuffizienz (Herzschwäche))?
- Haben Sie frühere operative Eingriffe durchlaufen, die Ihre Mobilität beeinflussen könnten (z. B. Gelenkersatzoperationen)?
- Nehmen Sie Medikamente ein, die Ihre Mobilität, Ihr Gleichgewicht oder Ihr Bewusstsein beeinflussen könnten (z. B. Blutdruckmedikamente, Psychopharmaka)?
- Nutzen Sie orthopädische Hilfsmittel wie Gehstöcke, Rollatoren oder Prothesen zur Fortbewegung?
Medikamentenanamnese
Nachfolgend eine Auflistung sturzbegünstigender Medikamente (engl. "fall-risk increasing drugs", kurz "FRIDs"):
- Alphablocker – Es stürzten signifikant mehr Männer nach Beginn der Therapie als Männer in der Kontrollgruppe (1,45 versus 1,28 %). Relativ lag der Unterschied bei etwa 12 %, absolut nur bei 0,17 %. Knochenbrüche wurden bei 0,48 % der Patienten mit Alphablockern und bei 0,41 % ohne registriert (der Unterschied war signifikant) [2].
- Antiarrhythmika: Amiodaron, Digoxin – Durch mögliche Bradykardie oder Rhythmusstörungen kann Schwindel verstärkt auftreten.
- Anticholinergika
- Antidiabetika: Insulin und Sulfonylharnstoffe – Hypoglykämien erhöhen das Risiko für Bewusstseinsstörungen und Stürze.
- Antiepileptika
- Antipsychotika – Besonders bei älteren Patienten, da sie Sedierung und orthostatische Hypotonie begünstigen können
- Benzodiazepine, Phenothiazine, trizyklische Antidepressiva; Antihypertensiva – Besonders gefährdet waren Menschen, die bereits einen Sturz hatten [1]. Eine andere Studie konnte den Zusammenhang mit Antihypertensiva nicht bestätigen. Sie konnte sogar ein signifikant niedriges Risiko von Stürzen mit Verletzungsfolgen für ACE-Hemmer und Calciumantagonisten nachweisen [2]. Eine weitere Studie konnte für RAAS-Hemmstoffe ebenfalls ein geringeres Sturzrisiko nachweisen [1].
- Betablocker – Können Schwindel und orthostatische Hypotonie verursachen, besonders bei Dosisanpassungen
- Diuretika (Schleifendiuretika wie Furosemid) – Hypokaliämie (Kaliummangel) und Dehydratation (Austrocknung) erhöhen das Risiko von Stürzen.
- Hormone
- Antiandrogene (Enzalutamid, Apalutamid und Darolutamid) in der Behandlung des fortgeschrittenen Prostatakarzinoms: für alle Stürze ein relatives Risiko (RR) von 1,8, das mit einem 95-%-Konfidenzintervall von 1,42 bis 2,24 signifikant war. Für die schweren Stürze (Grad 3 oder höher) betrug das relative Risiko 1,6 (1,27 bis 2,08) [3].
- Langzeit-Steroidtherapie – Kann zu Muskelschwäche und Osteoporose beitragen, was Stürze und Frakturen begünstigt
- Nitrate – Durch Vasodilatation verursachte Hypotonie kann zu Schwindel und Stürzen führen.
- Opioide
- Parkinson-Medikamente: Levodopa und Dopaminagonisten – Verursachen häufig orthostatische Hypotonie und Dyskinesien, die das Sturzrisiko erhöhen.
- SSRIs und SNRIs (Serotonin-Wiederaufnahmehemmer) – Erhöhtes Risiko für Stürze, insbesondere in den ersten Wochen nach Beginn der Therapie.
- Thiaziddiuretika (Elektrolystörungen: Hyponatriämien: 22,1 %; Hypokaliämien: 19,0 %; am höchsten war das Risiko bei Chlortalidon; am geringsten Hydrochlorothiazid; dazwischen lagen Metolazon und Indapamid [4])
- Vasodilatatoren
- Zentralwirksame Antihistaminika
- Polypharmazie (> 6 verordnete Medikamente)
Weitere Medikamente s. u. Delir (Verwirrtheit) und Hypotonie (niedriger Blutdruck).
* Falls diese Frage mit "Ja" beantwortet worden ist, ist ein sofortiger Arztbesuch erforderlich! (Angaben ohne Gewähr)
Unsere Empfehlung: Drucken Sie die Anamnese aus, markieren Sie alle mit „Ja“ beantworteten Fragen und nehmen Sie das Dokument mit zu Ihrem behandelnden Arzt.
Literatur
- Wong AK et al.: Angiotensin system-blocking medications are associated with fewer falls over 12 months in community-dwelling older people. J Am Geriatr Soc. 2013;61(5):776-81
- Welk B et al.: The risk of fall and fracture with the initiation of a prostateselectiveα antagonist: a population based cohort study. BMJ 2015;351:h5398
- Myint ZW et al.: Evaluation of Fall and Fracture Risk Among Men With Prostate Cancer Treated With Androgen Receptor Inhibitors A Systematic Review and Meta-analysisJAMA Netw Open. 2020;3(11):e2025826. doi:10.1001/jamanetworkopen.2020.25826
- Ravioli SR et al.: Risk of electrolyte disorders, syncope and falls in patients taking thiazide diuretics: results of a cross-sectional study Am J Med 8 May 2021 https://doi.org/10.1016/j.amjmed.2021.04.007