Sarkopenie – Ursachen
Pathogenese (Krankheitsentstehung)
Die Sarkopenie ist eine altersbedingte, multifaktoriell bedingte Erkrankung, die durch den fortschreitenden Verlust an Muskelmasse, Muskelkraft und Muskelfunktion charakterisiert ist. Dieser Funktionsabbau beginnt bereits ab dem 50. Lebensjahr und beschleunigt sich im höheren Alter. Die Erkrankung führt zu einer signifikanten Einschränkung der körperlichen Leistungsfähigkeit und Mobilität.
Primäre pathophysiologische Mechanismen
Initialer Pathomechanismus:
- Alterungsbedingter Muskelabbau: Ab dem 50. Lebensjahr kommt es jährlich zu einem Abbau von 1-2 % der Muskelmasse. Ab dem 60. Lebensjahr steigt dieser Wert auf 3 % pro Jahr an. Dies führt zu einer deutlichen Reduktion der Muskelmasse bis zu 50 % im fortgeschrittenen Alter, insbesondere ohne ausreichende körperliche Aktivität.
- Neuromuskuläre Degeneration: Eine zentrale Rolle spielt der altersbedingte Abbau von Synapsen (Verknüpfungen zwischen Nerven- und Muskelzellen). Dieser Prozess führt zu einer gestörten Signalübertragung vom zentralen Nervensystem zu den Muskeln, was die Funktionsfähigkeit der Muskulatur weiter beeinträchtigt und einen beschleunigten Muskelabbau zur Folge hat.
Molekulare und zelluläre Veränderungen:
- Low-grade Inflammation of Aging: Chronische Entzündungsprozesse, die mit dem Alter zunehmen, fördern den Abbau der Muskelmasse. Proinflammatorische Zytokine (entzündungsfördernde Botenstoffe) wie Interleukin-6 (IL-6) und Tumornekrosefaktor-alpha (TNF-α) spielen hierbei eine zentrale Rolle und verstärken die katabolen (abbauenden) Prozesse im Muskelgewebe.
- Verminderte Aktivität von Wachstumsfaktoren: Der altersbedingte Rückgang von Insulin-like Growth Factor 1 (IGF-1) vermindert die regenerative Kapazität der Muskelzellen und trägt zu einem beschleunigten Verlust der Muskelkraft bei.
Entwicklung struktureller Veränderungen:
- Mitochondriale Dysfunktion (Fehlfunktion der Mitochondrien/Kraftwerke der Zellen): Die mitochondriale Aktivität nimmt mit dem Alter ab, was zu einer verringerten Energieproduktion in den Muskelzellen führt. Diese Energiekrise beeinträchtigt die Muskelkraft und Ausdauer und fördert den Funktionsabbau.
- Hormonelle Veränderungen: Der altersbedingte Rückgang von Testosteron und Östrogen verringert die anabolen (aufbauenden) Prozesse in der Muskulatur, was den Muskelabbau beschleunigt und die Regenerationsfähigkeit der Muskeln reduziert.
Sekundäre pathophysiologische Veränderungen
Veränderungen in der Gewebsarchitektur:
- Atrophie der Muskelfasern: Durch die fortschreitende Reduktion der Muskelmasse und den Verlust der Muskelfasern nimmt die Fähigkeit der Muskulatur, Belastungen zu bewältigen, erheblich ab. Dies führt zu einem deutlichen Funktionsverlust, der mit einer eingeschränkten Mobilität und Belastbarkeit einhergeht.
- Veränderung der Muskelfasertypen: Mit zunehmendem Alter nimmt der Anteil der Typ-II-Muskelfasern (schnelle Fasern, die für Kraft und Geschwindigkeit verantwortlich sind) ab, während die Typ-I-Muskelfasern (langsame, ausdauernde Fasern) relativ stabil bleiben. Dieser Prozess führt zu einer verminderten Muskelkraft und Funktion, besonders bei Belastungen, die schnelle und kraftvolle Bewegungen erfordern.
Beteiligung des umgebenden Gewebes:
- Neurodegenerative Prozesse: Der Verlust von Motoneuronen (Nervenzellen, die die Muskeln steuern) beeinträchtigt die Muskelfunktion zusätzlich und beschleunigt den Funktionsabbau, insbesondere in den oberen und unteren Extremitäten.
- Reduzierte Anpassungskapazität: Das betroffene Muskelgewebe verliert zunehmend die Fähigkeit, auf physische Belastungen und Training adäquat zu reagieren, was die körperliche Leistungsfähigkeit weiter einschränkt.
Klinische Manifestation
Leitsymptome:
- Muskelkraftverlust: Ein zentrales Symptom der Sarkopenie ist der Verlust der Muskelkraft, der besonders in den unteren Extremitäten deutlich wird. Dies führt zu Schwierigkeiten beim Aufstehen, Gehen und Treppensteigen.
- Eingeschränkte Mobilität: Durch den Verlust an Muskelmasse und Muskelkraft wird die Fähigkeit, alltägliche Aufgaben wie das Gehen oder Heben von Gegenständen zu bewältigen, stark eingeschränkt. Dies hat direkte Auswirkungen auf die Selbstständigkeit und Lebensqualität der Betroffenen.
Fortgeschrittene Symptome:
- Gleichgewichtsstörungen und Stürze: Aufgrund der Muskelschwäche kommt es zu einer verminderten Stabilität und erhöhtem Sturzrisiko. Stürze können zu schweren Komplikationen wie Frakturen führen, die den Funktionsabbau weiter beschleunigen.
- Chronische Erschöpfung: Der progressive Verlust der Muskelkraft und -masse führt zu einer ständigen Müdigkeit und Erschöpfung, die durch die eingeschränkte Mobilität noch verstärkt wird.
Progression und Organbeteiligung
Lokale Gewebeveränderungen:
- Muskuläre Degeneration: Der Verlust an Muskelmasse und -funktion schreitet fort, was zu einer zunehmenden Einschränkung der körperlichen Leistungsfähigkeit und einem Funktionsverlust führt. Der Abbau der Muskelfasern ist irreversibel, was die Beweglichkeit stark beeinträchtigt.
Systemische Auswirkungen bei chronischen Verläufen:
- Stürze und Frakturen: Durch die verminderte Muskelkraft steigt das Risiko von Stürzen erheblich. Dies führt häufig zu Frakturen, insbesondere im Hüftbereich, die die Mobilität weiter einschränken und den Funktionsabbau beschleunigen.
- Stoffwechselstörungen: Der Muskelabbau hat auch negative Auswirkungen auf den Stoffwechsel, da die Muskulatur eine zentrale Rolle im Glukose- und Fettstoffwechsel spielt. Dies kann das Risiko für metabolische Erkrankungen wie Diabetes mellitus und Adipositas erhöhen.
Funktionelle Auswirkungen und strukturelle Schäden
Beeinträchtigung der mechanischen Eigenschaften:
- Verlust der Belastbarkeit: Die Fähigkeit, körperliche Belastungen zu bewältigen, nimmt durch die reduzierte Muskelmasse und -kraft deutlich ab. Dies führt zu einer erheblichen Einschränkung der täglichen Aktivitäten und der Mobilität.
- Muskelerschöpfung: Der Funktionsabbau in den Muskeln führt zu einer schnellen Ermüdung, selbst bei geringen körperlichen Belastungen. Die körperliche Leistungsfähigkeit wird zunehmend eingeschränkt, was die Lebensqualität der Betroffenen weiter verringert.
Schmerzentstehung:
- Muskelschmerzen und Krämpfe: Durch die verminderte Muskelkraft und -ausdauer kann es zu Muskelschmerzen und Krämpfen kommen, insbesondere bei längerer Belastung oder in Ruhephasen.
Regenerative und kompensatorische Prozesse
Versuche der Geweberegeneration:
- Unzureichende Regeneration: Trotz vorhandener Regenerationskapazitäten können die betroffenen Muskeln die verlorene Muskelmasse und -kraft nicht vollständig wiederherstellen. Die altersbedingte Abnahme der Satellitenzellen (Vorläuferzellen der Muskeln) beeinträchtigt die Reparaturprozesse.
Kompensatorische Anpassungsmechanismen:
- Muskelkompensation: In einigen Fällen kann die verbleibende Muskulatur versuchen, die verlorene Funktion zu kompensieren, was jedoch oft zu Überlastung und zusätzlichen Funktionsverlusten führt.
Zusammenfassung und klinische Relevanz
Sarkopenie ist eine fortschreitende, degenerative Erkrankung, die durch den Verlust an Muskelmasse, Muskelkraft und funktioneller Leistungsfähigkeit gekennzeichnet ist. Der Funktionsabbau ist das zentrale Merkmal der Erkrankung und führt zu erheblichen Einschränkungen der Mobilität und der Selbstständigkeit der Betroffenen. Chronische Entzündungen, hormonelle Veränderungen und neurodegenerative Prozesse tragen zur Pathogenese bei. Eine frühzeitige Diagnose und Intervention, wie körperliche Aktivität und angepasste Ernährung, können den Krankheitsverlauf verlangsamen und die Lebensqualität verbessern.
Ätiologie (Ursachen)
Biographische Ursachen
- Genetische Disposition – ca. 30 % der Varianz in Muskelmasse und Kraft können durch genetische Einflüsse bedingt sein
- Lebensalter – zunehmendes Alter (ab dem 70. Lebensjahr); wahrscheinlich schon vor dem 50. Lebensjahr durch Abnahme des Testosteronspiegels
Verhaltensbedingte Ursachen
- Ernährung
- Mangelernährung/Malnutrition (mangelnde Zufuhr oder Aufnahme von Energie und Nährstoffen über die Nahrung)
- Unzureichende Kalorienzufuhr – im Alter beträgt eine angemessene Kalorienzufuhr 25-30 Kcal pro Kilogramm Körpergewicht
- Unzureichende Proteinaufnahme (Eiweißaufnahme) – ab dem 65. Lebensjahr empfiehlt sich eine tägliche Proteinzufuhr von 1,0-1,2 Gramm pro Kilogramm
- Mikronährstoffmangel (Vitalstoffe) – siehe Prävention mit Mikronährstoffen; kritische Nährstoffe/Mikronährstoffe sind u. a.: Protein, Vitamin D, E, C, B12, Folsäure sowie die Mineralstoffe Calcium und Magnesium und das Spurenelement Eisen
- Mangelernährung/Malnutrition (mangelnde Zufuhr oder Aufnahme von Energie und Nährstoffen über die Nahrung)
- Körperliche Aktivität
- Bewegungsarme Lebensführung
- Inaktivität/Immobilisation
- Schwerelosigkeit
Altersbedingte Ursachen (ohne Krankheiten)
- Ablehnung des Essens
- Abnehmende Sinnesqualitäten wie Schmecken und Riechen
- Appetitlosigkeit
- Armut
- Dysphagie (Schluckstörung) durch verschiedene Erkrankungen wie beispielsweise Apoplex (Schlaganfall)
- Eingeschränkte Mobilität
- Eingeschränkter Visus – eingeschränkte Sehfähigkeit
- Einsamkeit
- Einseitige Lebensmittelwahl
- Erhöhte Aktivität von Sättigungsfaktoren wie Cholecystokinin – Hormon des Magen-Darm-Traktes (auch "Gallenblasenbeweger" genannt)
- Geringer Genuss beim Essen
- Gestörte Membranfunktionen und Transportvorgänge
- Kaustörungen durch eine schlecht sitzende Prothese oder Entzündungen im Mund- und Rachenraum
- Resorptionsstörungen
- Schlechter Zahnstatus
- Unausgewogene und unzureichende Nahrungsaufnahme
- Ungewohnte Umgebung bei Umzug ins Altersheim
- Unselbstständigkeit beim Einkaufen und/oder Kochen und Essen
- Vergesslichkeit
- Verminderte Enzymaktivität
- Verminderte körperliche Aktivität und einen geringeren Energiebedarf
- Verringerter Essantrieb durch Veränderungen im Hirnstoffwechsel
Krankheitsbedingte Ursachen (z. T. auch altersbedingt)
- Abfall der Steroidhormone (Testosteron ↓) [1]
- Chronische Niereninsuffizienz (Nierenschwäche) (zwei Drittel der Patienten mit chronischen Nierenerkrankungen)
- Chronisch-entzündliche Prozesse (Tumor-Nekrose-Faktor‑α ↑, Interleukin-6 ↑)
- Chronische Lebererkrankungen:
- alkoholassoziierte Lebererkrankungen
- nichtalkoholische Fettlebererkrankung („non-alcoholic fatty liver disease“ [NAFLD])
- virale Hepatitiden (Virusinfektionen der Leber): Hepatitis B und C
- autoimmune oder cholestatische Lebererkrankungen, die mit Fortschreiten der Erkrankung typischerweise zu einer Leberzirrhose führen.
- Depression
- Diabetes mellitus Typ 2 [1]
- Verhältnis von sarkopenen zu nichtsarkopenen Probanden war unter Diabetikern 3,6-mal so hoch wie unter Nichtdiabetikern [27]
- Höheres Alter, männliches Geschlecht, chronische Hyperglykämie (Überzuckerung) und Osteoporose (Knochenschwund) sind signifikante Risikofaktoren für eine Sarkopenie [3]
- Erhöhte Parathormon-Serumspiegel (PTH ↑) [1]
- Geringere Wachstumshormon-Synthese (STH ↓)
- Herzinsuffizienz (Herzschwäche)
- Mangelernährung
- Neurodegenerative Mechanismen wie ein Motoneuronenverlust
- Resistenz gegenüber anaboler Hormone (z. B. Insulinresistenz: verminderte oder aufgehobene Wirkung des Hormons Insulin)
- Tumorerkrankungen (Krebs; stark assoziiert mit negativen Prognosefaktoren und erhöhter Mortalität (Sterberate); das Krankheitsbild bei Tumorpatienten ist durch systemische Inflammation (Entzündung) mit konsekutiver Katabolie (Abbau der Stoffe im Körper durch den Stoffwechsel/Kachexie (sehr starke Abmagerung) kompliziert; geschätzte Prävalenz (Krankheitshäufigkeit) der Sarkopenie bei soliden Tumoren: 14-78,7 %)
Medikamente
- Glucocorticoidtherapie – Medikamente gegen Entzündungen und allergische Reaktionen
Literatur
- Renoud A et al.: Predictive parameters of accelerated muscle loss in men – MINOS study. The American Journal of Medicine 2014, online 12. Februar; doi: 10.1016/j.amjmed.2014.02.004
- Spira D et al.: Sarkopenie im Kontext von Insulinresistenz und Diabetes mellitus im Alter – Daten aus der Berliner Altersstudie II. Thieme Verlag, Diabetologie und Stoffwechsel 2020
- The prevalence and risk factors of sarcopenia in patients with type 2 diabetes mellitus: a systematic review and meta-analysis Diabetol Metab Syndr 13, 93 (2021). https://doi.org/10.1186/s13098-021-00707-7