Kinderlähmung (Poliomyelitis) – Ursachen
Pathogenese (Krankheitsentstehung)
Beschreibung des Erregers
- Erreger: Poliovirus gehört zur Familie der Picornaviridae und zur Gattung Enterovirus. Es handelt sich um ein unbehülltes, einzelsträngiges RNA-Virus.
- Genom: Das Genom des Poliovirus besteht aus einer einzelsträngigen RNA mit positiver Polarität, die eine hohe Mutationsrate aufweist und für die Synthese von strukturellen (Kapsidproteine) und nicht-strukturellen Proteinen (Replikationsproteine) kodiert.
- Virulenz (Infektionskraft): Die Virulenz des Poliovirus beruht auf seiner Fähigkeit, Motoneuronen (motorische Nervenzellen) des Rückenmarks zu infizieren und zu zerstören. Dies führt zur charakteristischen schlaffen Lähmung, die für die Poliomyelitis (Kinderlähmung) typisch ist.
Epidemiologie und Übertragungsweg
- Verbreitung: Polio war weltweit verbreitet, ist jedoch durch großangelegte Impfkampagnen in den meisten Teilen der Welt zurückgedrängt worden. Endemische Ausbrüche treten heute nur noch in wenigen Ländern (z. B. Pakistan, Afghanistan) auf.
- Hauptübertragungsweg: Die Übertragung erfolgt hauptsächlich fäkal-oral durch den Kontakt mit kontaminiertem Wasser oder Lebensmitteln. Eine orale Übertragung durch Tröpfcheninfektion ist ebenfalls möglich.
- Infektiosität (Ansteckungsfähigkeit): Das Poliovirus ist hochinfektiös, und bereits geringe Mengen virushaltiger Partikel reichen aus, um eine Ansteckung zu verursachen. Die höchste Ansteckungsgefahr besteht während der ersten Tage der Erkrankung, wenn das Virus in hohen Konzentrationen im Stuhl ausgeschieden wird.
Eintrittspforte des Erregers
- Haupteintrittspforte: Das Poliovirus gelangt durch den Verdauungstrakt in den Körper, indem es die Schleimhaut des Pharynx (Rachen) und des Darms infiziert.
- Nebeneintrittspforten: In seltenen Fällen kann eine Übertragung auch über die Bindehaut des Auges erfolgen.
Pathogenese des Erregers
- Initiale Vermehrung und Ansiedlung:
- Nach Eintritt in den Verdauungstrakt heftet sich das Poliovirus mithilfe von spezifischen Rezeptoren (z. B. CD155) an die Epithelzellen des Pharynx und des Dünndarms.
- Das Virus vermehrt sich initial im lymphatischen Gewebe des Darms, insbesondere in den Peyer-Plaques und in den Mandeln (Tonsillen).
- Erste Virämie:
- Nach der Vermehrung im lymphatischen Gewebe dringt das Virus in die regionalen Lymphknoten ein und wird anschließend über den Ductus thoracicus (größtes Lymphgefäß des Körpers) in die Blutbahn freigesetzt (erste Virämiephase).
- In den meisten Fällen bleibt die Infektion in dieser Phase asymptomatisch, und das Virus wird durch das Immunsystem kontrolliert.
- Zweite Virämie und Invasion des zentralen Nervensystems:
- In einigen Fällen (ca. 1 %) überwinden die Viren die Blut-Hirn-Schranke und gelangen ins zentrale Nervensystem (ZNS), wo sie gezielt Motoneuronen des Vorderhorns im Rückenmark infizieren.
- Diese Phase ist verantwortlich für die Zerstörung der Nervenzellen und die daraus resultierenden schlaffen Lähmungen, die typisch für die Erkrankung sind.
Wirtsreaktion
- Lokale Immunantwort:
- Die initiale Immunantwort erfolgt durch die Aktivierung der Schleimhautimmunität im Darm und im Rachenraum.
- In diesen Geweben kommt es zur Produktion von sekretorischen Antikörpern (IgA), die das Virus neutralisieren und eine weitere Ausbreitung verhindern können.
- Systemische Immunantwort:
- Nach Eintritt in die Blutbahn wird das Virus durch die humorale Immunantwort bekämpft, wobei spezifische IgG- und IgM-Antikörper gebildet werden.
- Diese Antikörper verhindern die systemische Ausbreitung und reduzieren das Risiko einer ZNS-Infektion.
- Anpassungsmechanismen des Erregers:
- Das Poliovirus kann die Immunantwort teilweise umgehen, indem es in Nervenzellen „versteckt“ und dort eine persistente Infektion aufrechterhält.
- Durch Mutationen kann das Virus gelegentlich in atypische Gewebe eindringen und atypische Manifestationen hervorrufen.
Organaffinität und Gewebeschäden
- Bevorzugte Zielorgane: Die bevorzugten Zielorgane sind das zentrale Nervensystem (ZNS), insbesondere die Motoneuronen im Rückenmark und im Hirnstamm.
- Resultierende Gewebeschäden:
- Die Virusvermehrung in den Motoneuronen führt zu einer ausgeprägten Entzündungsreaktion und zur Zerstörung der betroffenen Nervenzellen.
- Dies verursacht schlaffe Lähmungen der betroffenen Muskeln, die unbehandelt bleibende motorische Defizite und Muskelatrophien (Muskelschwund) zur Folge haben können.
Klinische Manifestation
- Symptomatologie:
- Abortive Poliomyelitis: In den meisten Fällen verläuft die Erkrankung asymptomatisch oder mit milden grippeähnlichen Symptomen (Fieber, Halsschmerzen, Übelkeit).
- Nicht-paralytische Poliomyelitis: In einigen Fällen entwickelt sich eine aseptische Meningitis (nicht-bakterielle Hirnhautentzündung) mit Kopfschmerzen, Nackensteifigkeit und Fieber.
- Paralytische Poliomyelitis: Die klassische Form der Poliomyelitis, bei der es zu asymmetrischen, schlaffen Lähmungen der Extremitäten kommt. Betroffen sind hauptsächlich die Beine. Bei Beteiligung des Hirnstamms kann es zur Atemlähmung kommen.
- Komplikationen:
- Schwere neurologische Ausfälle wie Ateminsuffizienz (bei Befall der Atemmuskulatur) oder bulbäre Lähmungen (bei Befall des Hirnstamms).
- Post-Polio-Syndrom: Jahre bis Jahrzehnte nach der Erstinfektion können sich neue muskuloskelettale Beschwerden und eine Verschlechterung der motorischen Funktion entwickeln.
- Verläufe und Schweregrade:
- Leichte Verläufe verlaufen asymptomatisch oder mild und führen nicht zu bleibenden Schäden.
- Schwere Verläufe mit ZNS-Beteiligung führen zu lebenslangen motorischen Einschränkungen und einer erhöhten Mortalität.
Prognosefaktoren
- Wirtsfaktoren:
- Alter: Kinder unter 5 Jahren sind besonders gefährdet, schwere Verläufe zu entwickeln.
- Immunstatus: Immungeschwächte Personen haben ein erhöhtes Risiko für eine ZNS-Infektion.
- Erregerfaktoren:
- Genetische Variationen des Poliovirus können die Schwere des Krankheitsverlaufs beeinflussen.
Zusammenfassung und klinische Relevanz
Poliomyelitis ist eine hoch ansteckende virale Infektionskrankheit, die hauptsächlich Kinder betrifft und zu schweren Lähmungen führen kann. Die Pathogenese wird durch die Fähigkeit des Poliovirus bestimmt, Motoneuronen des Rückenmarks zu infizieren und zu zerstören. Durch Impfprogramme konnte die Inzidenz weltweit drastisch reduziert werden. Präventive Maßnahmen wie eine flächendeckende Impfung sind entscheidend, um die Übertragung und Ausbreitung zu verhindern. Eine frühzeitige Diagnostik und supportive Therapie sind wichtig, um schwere Komplikationen zu minimieren.
Ätiologie (Ursachen)
Biographische Ursachen
- Berufe
- medizinisches Personal, das engen Kontakt zu Erkrankten haben kann
- Personal in Laboren mit Poliomyelitis-Risiko-Diagnostik
Krankheitsbedingte Ursachen
- Traumata (Verletzungen) prädisponieren zu Lähmungen nach einer Polioinfektion
Operationen
- Tonsillektomie – Entfernung der Gaumenmandel; prädisponiert für die bulbäre Poliomyelitis (hirnnahe Abschnitte des Rückenmarks und der Hirnstamm sind befallen) nach Kontakt mit dem Virus
Medikamente
- „Impfpolio“ (vakzine-abgeleiteten Polioviren) durch oralen Lebendimpfstoff
Hinweis: Der inaktivierte Polio-Vakzine (IPV) vermittelt einen Impfschutz ohne die Gefahr einer Übertragung.
Weitere Ursachen
- Intramuskuläre Injektionen prädisponieren für eine Lähmung der betroffenen Extremität bei Poliomyelitis