Plötzlicher Kindstod – Ursachen

Pathogenese (Krankheitsentstehung)

Der plötzliche Kindstod, auch bekannt als Sudden Infant Death Syndrome (SIDS), ist eine multifaktorielle Erkrankung, bei der sowohl exogene (äußere) als auch endogene (innere) Faktoren eine Rolle spielen. Die genaue Pathogenese ist bislang unklar, jedoch werden verschiedene Hypothesen diskutiert, die biologische, genetische und umweltbedingte Faktoren umfassen.

Hypothese der gestörten Hirnstammregulation

Ein zentraler Aspekt der Pathogenese von SIDS ist die Vermutung einer gestörten Regulation im Hirnstamm. Der Hirnstamm steuert lebenswichtige Funktionen wie Atmung, Herzschlag und den Schlaf-Wach-Rhythmus. Man nimmt an, dass es bei betroffenen Säuglingen zu einer passageren (vorübergehenden) Minderdurchblutung des Hirnstamms kommt, die nicht mehr vollständig kompensiert werden kann. Dies könnte zu einer Beeinträchtigung der Atemsteuerung und anderer Vitalfunktionen führen [1].

Eine gestörte Serotonin-Homöostase im Gehirn wird ebenfalls diskutiert. Serotonin ist ein wichtiger Neurotransmitter in der Medulla oblongata, dem Ort des Atemzentrums im Hirnstamm. Veränderungen in der Serotonin-Regulation könnten die Atemantwort auf äußere Reize beeinträchtigen und zu einer verminderten Fähigkeit führen, auf Hypoxie (Sauerstoffmangel) oder Hyperkapnie (erhöhter Kohlendioxidgehalt) adäquat zu reagieren [5].

Rolle der Schlafposition und mechanische Faktoren

Ein weiterer exogener Faktor ist die Schlafposition des Säuglings. Insbesondere die Bauchlage gilt als Risikofaktor für SIDS, da sie mit einer ungünstigen Kopfposition verbunden sein kann. Wird der Kopf des Säuglings stark rotiert und rekliniert (seitlich gedreht und rückwärtig überstreckt), kann dies den Blutfluss in der Arteria vertebralis (Wirbelbogenschlagader) auf der Gegenseite der Kopfdrehung beeinträchtigen. Diese mechanische Flussminderung könnte eine Minderdurchblutung des Hirnstamms begünstigen und damit zur Pathogenese von SIDS beitragen [1].

Genetische Prädisposition und Kanalopathien

Genetische Faktoren scheinen ebenfalls eine Rolle bei SIDS zu spielen. Besonders wird eine Störung der Membrankanäle (Kanalopathien) in den Zellen der quergestreiften Muskulatur diskutiert. Eine bedeutende Rolle wird dem SCN4A-Gen zugeschrieben, das die Information für den Natriumkanal „NaV1.4“ enthält, der sich auf der Membran der quergestreiften Muskelzellen befindet. Mutationen in diesem Gen wurden bei SIDS-Opfern gefunden, die in Kontrollgruppen nicht auftraten [7]. Diese genetischen Anomalien könnten die Regulation der Muskelfunktion und die Fähigkeit zur Erhaltung der Atmungsfunktion beeinträchtigen.

Bedeutung des cholinergen Systems

Neuere Forschungsergebnisse legen nahe, dass ein Defizit im cholinergen System eine zentrale Rolle in der Pathogenese des SIDS spielt. Eine Schlüsselrolle könnte dabei die Butyrylcholinesterase (BChE) übernehmen, ein Enzym, das für die Regulation der cholinergen Übertragung verantwortlich ist. Untersuchungen haben gezeigt, dass BChE in getrocknetem Blut von SIDS-Babys, das 2-3 Tage nach der Geburt entnommen wurde, signifikant niedriger ist als bei gesunden Kontrollen und anderen Nicht-SIDS-Todesfällen. Dies deutet auf ein spezifisches cholinerges Defizit hin, das bereits bei der Geburt vorhanden ist und eine messbare Anfälligkeit für den plötzlichen Kindstod darstellen könnte [11].

BChE ist ein Enzym des cholinergen Systems, das wiederum ein Hauptzweig des autonomen Nervensystems ist. Eine Dysfunktion in diesem Bereich könnte die Fähigkeit des Säuglings beeinträchtigen, auf Stressoren (wie Hypoxie/Sauerstoffmangel) adäquat zu reagieren. Diese Hypothese stützt sich auf die Annahme, dass eine unzureichende Regulation des cholinergen Systems zu einer erhöhten Vulnerabilität für lebensbedrohliche Ereignisse führt.

Zusammenfassung und klinische Relevanz

Die Pathogenese des plötzlichen Kindstods (SIDS) ist multifaktoriell und umfasst eine Kombination aus gestörten neuroregulatorischen Mechanismen, genetischen Prädispositionen und externen Einflüssen. Die vermutete Minderdurchblutung des Hirnstamms und eine gestörte Serotonin-Homöostase spielen eine zentrale Rolle. Weitere Faktoren wie Kanalopathien und eine Dysfunktion des cholinergen Systems könnten zur erhöhten Vulnerabilität betroffener Säuglinge beitragen.

Ätiologie (Ursachen)

Biographische Ursachen

  • Genetische Belastung
    • Plötzlicher Kindstod eines Geschwisterkindes oder
    • Tod eines Kindes mit ALTE (apparently life-threatening event; Near-SIDS; Symptomenkomplex, der mit Atemstillstand, verlangsamtem Herzschlag und Blässe des Säuglings einhergeht)
  • Frühgeborene 
  • Sozioökonomische Faktoren – niedriger sozioökonomischer Status
  • Kurze Schulzeit der Mutter/kein Schulabschluss der Mutter
  • Erwerbslosigkeit
  • Kinderreichtum

Verhaltensbedingte Ursachen (= exogene Faktoren)

  • Ernährung
    • Ausschließliche Flaschenernährung
  • Genussmittelkonsum
    • Alkoholkonsum (> 1. Trimenon/Schwangerschaftsdrittel) + Rauchen der Mutter in der Schwangerschaft (12-fach erhöhtes Risiko) [10]
    • Rauchen der Eltern während der Schwangerschaft – bereits ab einer Zigarette pro Tag ist ein 2-faches Risiko nachweisbar (Anstieg dosisabhängig) [8]
  • Drogenkonsum
    • Drogeneinnahme der Mutter (Kokain; Cannabis; Heroin- und Methadonkonsum) in der Schwangerschaft
      • Cannabis- und Nikotin-Konsum gemeinsam: Mortalität (Sterberate) im 1. Lebensjahr lag mit 1,2 Prozent nach Doppelexposition viermal so hoch wie in der Kontrolle (0,3 Prozent) [13].
    • Drogeneinnahme des Vaters nach der Geburt
  • Schlafen in Bauchlage gilt als Hauptrisikofaktor – auch die Seitenlage kann aufgrund der Instabilität nicht empfohlen werden (10-fache Risiko)
  • Zudecken des Kopfes/Decke über den Kopf ziehen (22-fache Risiko)
  • Überwärmung des Kindes (3,5-fache Risiko)
  • Schlafen mit einer anderen Person (oder einem Tier)
  • Schlafen auf dem Sofa – 67-fach erhöhtes Risiko für Säuglinge unerwartet zu sterben (wg. Erstickung oder Strangulation/weniger wg. des plötzlichen Kindstods) [2]
  • „swaddling“ (Pucken) von Säuglingen (Wickeltechnik: Wickeln des Kindes mit Decken, Schlafsäcken und anderen Umhüllungen) [4]
  • Zu weich gebettet [9]: 
    • Ersticken durch weiches Polstern (69 % aller Erstickungsfälle); häufig im Bett von Erwachsenen (49 %) und meistens in Bauchlage (92 %)
    • Ursache waren vor allem Decken (34 %), zu weiche Matratzen (23 %) oder Kissen (22 %)
    • Decken, Stofftiere
    Weitere Ursachen: Erstickungstod durch einen anderen Menschen (19 % aller Fälle), meistens durch Mutter oder Vater; meistens im Bett von Erwachsenen (73 %).
  • Adipositas der Mutter [14]: 
    • Adipositas Grad I (BMI 30,0-34,9 kg/m²) ein um 10 % erhöhtes SIDS-Risiko im Vergleich zu Müttern mit normalem BMI (18,5-24,9 kg/m²). 
    • Adipositas Grad II (BMI 35,0-39,9 kg/m²) ein um 20 % erhöhtes und
    • mit Adipositas Grad III (BMI ≥ 40,0 kg/m²) um 39 % erhöhtes Risiko

Krankheitsbedingte Ursachen (= endogene Faktoren)

Bestimmte Zustände, die ihren Ursprung in der Perinatalperiode haben (P00-P96)

  • Frühgeburtlichkeit
  • Niedriges Geburtsgewicht
  • Perinatale Asphyxie (drohender Erstickungszustand im Zeitraum zwischen der 24. Schwangerschaftswoche und dem 7. Tag nach der Geburt)
  • Pränatale Dystrophie (vorgeburtliche Gedeihstörung durch mangelhafte Versorgung des Ungeborenen im Mutterleib/intrauterine Wachstumsretardierung)

Infektiöse und parasitäre Krankheiten (A00-B99)

  • Virale und bakterielle Infekte, rezidivierende

Nervensystem (G00-G99)

  • Krampfanfälle [12]

Neubildungen (C00-D48)

  • Neoplasie, unerkannte (0,33 % der autopsierten Kinder) – hämatologische Malignome waren unter den Krebserkrankungen als Ursache für einen plötzlichen Tod am häufigsten [6]

Weitere Ursachen

  • Säuglinge, die im US-Staat Colorado in einer Höhe von mehr als 8.000 Fuß (2.438 Meter) geboren werden, haben einer Studie zufolge ein 2,3-fach erhöhtes Risiko auf einen plötzlichen Kindstod (SIDS) [3]; wahrscheinliche Ursache ist ein Sauerstoffmangel.

Literatur

  1. Saternus KS, Adam G: Der Plötzliche Kindstod. Postmortale Flussmessungen an den großen Halsgefäßen zum Nachweis der lageabhängigen zerebralen Hypoxämie. Dtsch.Med.Wschr.1985;110: 297-303
  2. Rechtman LR et al.: Sofas and Infant Mortality. Pediatrics. Published online October 13, 2014. doi: 10.1542/peds.2014-1543
  3. Katz D et al.: Sudden Infant Death Syndrome and Residential Altitude. doi: 10.1542/peds.2014-2697
  4. McDonnell E, Moon RY; Infant deaths and injuries ­associated with wearable blankets, swaddle wraps, and swaddling. J Pediatr 2014; 165:1152-1156; doi: http://dx.doi.org/10.1016/j.jpeds.2013.12.045
  5. Hynes R et al.: High serum serotonin in sudden infant death syndrome. July 3, 2017, doi: 10.1073/pnas.1617374114 PNAS July 3, 2017
  6. Bryant VA et al.: Childhood neoplasms presenting at autopsy: A 20-year experience. Pediatric Blood & Cancer First published: 6 February 2017 doi: 10.1002/pbc.26474
  7. Männikkö, R et al.: Dysfunction of NaV1.4, a skeletal muscle voltage-gated sodium channel, in sudden infant death syndrome: a case-control study. The Lancet Published online March 28, 2018 doi: https://doi.org/10.1016/S0140-6736(18)30021-7
  8. Anderson TM et al.: Maternal Smoking Before and During Pregnancy and the Risk of Sudden Unexpected Infant Death. Pediatrics Volume 143, number 4, April doi: https://doi.org/10.1542/peds.2018-3325
  9. Erck Lambert AB et al.: Sleep-Related Infant Suffocation Deaths Attributable to Soft Bedding, Overlay, and Wedging. Pediatrics 2019; e20183408; https://doi.org/10.1542/peds.2018-3408
  10. Elliott AJ et al.: Concurrent prenatal drinking and smoking increases risk for SIDS: Safe Passage Study report. EClinicalMedicine January 20, 2020 doi:https://doi.org/10.1016/j.eclinm.2019.100247
  11. Harrington CT et al.: Butyrylcholinesterase is a potential biomarker for Sudden Infant Death Syndrome eBioMedicine 2022;80:104041 May 06, 2022 doi:https://doi.org/10.1016/j.ebiom.2022.104041
  12. Gould L et al.: Video Analyses of Sudden Unexplained Deaths in Toddlers Neurology 2024;102(3) https://doi.org/10.1212/WNL.0000000000208038
  13. Crosland BA et al.: Risk of Adverse Neonatal Outcomes After Combined Prenatal Cannabis and Nicotine Exposure JAMA Netw Open. 2024;7(5):e2410151. doi:10.1001/jamanetworkopen.2024.10151
  14. Tanner D et al.: Maternal Obesity and Risk of Sudden Unexpected Infant Death. JAMA Pediatr 2024;e242455; https://doi.org/10.1001/jamapediatrics.2024.2455