Niedriger Blutdruck (Hypotonie) – Ursachen

Pathogenese (Krankheitsentstehung)

Die Hypotonie (niedriger Blutdruck) ist ein Zustand, bei dem der Blutdruck unter den Normwerten liegt, was zu einer unzureichenden Versorgung der Organe mit Sauerstoff führen kann. Hypotonie kann als primäre (essentielle) Form, als sekundäre Folge anderer Erkrankungen oder als orthostatische Hypotonie auftreten, die bei Lagewechsel auftritt.

Primäre Hypotonie (Essentielle Hypotonie)

Die primäre oder essentielle Hypotonie tritt ohne eine klar erkennbare Grunderkrankung auf und ist vermutlich eine konstitutionelle Kreislaufregulationsstörung. Hauptsächlich betroffen sind oft schlanke (leptosome) Personen und Frauen.

Mögliche Pathomechanismen:

  • Genetische Prädisposition: Eine genetische Veranlagung wird als eine mögliche Ursache vermutet, wobei bestimmte Genvarianten den Blutdruck regulierenden Mechanismen zugrunde liegen könnten.
  • Verminderte Sympathikusaktivität: Der Sympathikus ist für die Kontraktion der Blutgefäße verantwortlich. Eine eingeschränkte sympathische Aktivierung führt zu einem verminderten Gefäßtonus und einer inadäquaten Anpassung an Belastungen.
  • Hormonelle Faktoren: Eine verringerte Reaktion auf Katecholamine (z. B. Noradrenalin und Adrenalin), die normalerweise den Blutdruck erhöhen, kann den Blutdruck zusätzlich senken und die Regulationsfähigkeit beeinträchtigen.

Sekundäre Hypotonie

Sekundäre Hypotonie ist die Folge von anderen Grunderkrankungen, Medikamenteneinnahme oder speziellen physiologischen Zuständen wie Schwangerschaft.

Ursachen und Pathomechanismen:

  • Erkrankungen:
    • Herzinsuffizienz: Eine eingeschränkte Pumpfunktion des Herzens führt zu einem unzureichenden Blutdruckaufbau.
    • Hypothyreose (Schilddrüsenunterfunktion): Eine verminderte Produktion von Schilddrüsenhormonen führt zu einem verlangsamten Stoffwechsel und vermindertem Gefäßtonus.
    • Morbus Addison (Nebennierenrindeninsuffizienz): Ein Mangel an Kortisol und Aldosteron beeinträchtigt die Flüssigkeits- und Elektrolytregulation, was den Blutdruck senken kann.
  • Medikamente:
    • Antihypertensiva (Blutdrucksenker): Medikamente zur Senkung des Blutdrucks können, vor allem bei Überdosierung, zu Hypotonie führen.
    • Diuretika (harntreibende Mittel): Sie führen zur Ausscheidung von Wasser und Salzen, was das Blutvolumen und damit den Blutdruck reduziert.
    • Tranquilizer (Beruhigungsmittel): Diese Medikamente können über eine Dämpfung des zentralen Nervensystems den Blutdruck senken.
  • Langzeitimmobilität: Bettlägerigkeit und verminderte körperliche Aktivität führen zum Abbau der Muskelpumpe in den Beinen, was die Rückführung des Blutes zum Herzen und die orthostatische Regulation beeinträchtigt.
  • Schwangerschaft: Die hormonelle Umstellung und die Blutvolumenzunahme führen oft zu einer relativen Hypotonie.

Orthostatische Hypotonie (OH)

Orthostatische Hypotonie (OH) tritt bei einem schnellen Lagewechsel (z. B. vom Liegen zum Stehen) auf und wird durch eine autonome Dysfunktion verursacht, bei der der Blutdruck nicht schnell genug angepasst wird.

Pathophysiologische Mechanismen:

  • Störung der Baroreflexe: Der Baroreflex, der normalerweise Blutdruckschwankungen ausgleicht, reagiert verzögert oder unzureichend, was die Kompensation bei Blutdruckabfall behindert.
  • Verminderte venöse Rückstromkapazität: Beim Aufstehen fließt Blut in die Beinvenen und den Intestinaltrakt (Darmtrakt), wodurch das Blutvolumen im zentralen Kreislauf sinkt und eine passagere Minderdurchblutung des Gehirns auftreten kann.
  • Hypovolämie: Eine verringerte Blutmenge, bedingt durch Dehydratation, Diurese oder Blutverlust, reduziert die Fähigkeit zur orthostatischen Regulation, wodurch die Symptomatik verstärkt wird.

Klinische Manifestation

  • Leitsymptome: Häufige Symptome sind Müdigkeit, Schwindel, kalte Extremitäten und Leistungsminderung. Schwindel und Sehstörungen treten insbesondere bei Lagewechsel auf.
  • Fortgeschrittene Symptome: In schwereren Fällen können synkopale Episoden (Ohnmachtsanfälle), Verwirrtheit und chronische Müdigkeit auftreten. Eine chronische Hypotonie kann die allgemeine Lebensqualität und das Leistungsvermögen erheblich beeinträchtigen.

Zusammenfassung und klinische Relevanz

Hypotonie stellt in den meisten Fällen eine gutartige, asymptomatische Erkrankung dar, kann jedoch bei symptomatischen Formen das Risiko für Ohnmachtsanfälle und Verletzungen durch Stürze erhöhen. Besonders bei der sekundären und orthostatischen Hypotonie (OH) ist die Erkennung und Behandlung der Grunderkrankung entscheidend. Eine adäquate Diagnostik und individuelle Therapieansätze sind wichtig, um die Lebensqualität der Betroffenen zu verbessern.

Ätiologie (Ursachen) der primären Hypotonie

Biographische Ursachen

Besonders häufig von Hypotonie
(niedrigem Blutdruck) sind betroffen:

  • Lebensalter
    • Ältere Menschen
    • Jugendliche im Wachstumsschub
  • Große, schlanke Menschen – sogenannter leptosomer Körperbau
  • Schwangere

Verhaltensbedingte Ursachen

  • Ernährung
    • Mangelnde Flüssigkeitszufuhr – Unzureichendes Trinken (< 1,5 Liter pro Tag) kann das Blutvolumen reduzieren und die Kreislauffunktion beeinträchtigen.
    • Mangel an Salz und Elektrolyten (Blutsalze) – Eine zu niedrige Natriumzufuhr (< 2 g/Tag) kann das Blutvolumen und die Blutdruckregulation negativ beeinflussen.
    • Unterernährung – Energie- und nährstoffarme Ernährung führt zur Schwächung der Kreislaufregulation.
    • Mikronährstoffmangel – Defizite an Vitamin B12, Folsäure und Eisen können durch Anämie (Blutarmut) oder eine gestörte Nervenfunktion zur Hypotonie beitragen (sollte abgeklärt werden).
  • Genussmittelkonsum
    • Alkohol (Frau: > 20 g/Tag; Mann: > 30 g/Tag) – Übermäßiger Konsum (> 20 g/Tag bei Frauen, > 30 g/Tag bei Männern) führt zu Vasodilatation (Gefäßerweiterung) und einer kurzfristigen Blutdrucksenkung.
    • Koffeinentzug – Bei regelmäßigem Konsum von Kaffee oder koffeinhaltigen Getränken kann ein plötzlicher Verzicht Symptome wie Hypotonie und Schwindel verstärken.
  • Drogenkonsum
    • Opiate bzw. Opioide (Alfentanil, Apomorphin, Buprenorphin, Codein, Dihydrocodein, Fentanyl, Hydromorphon, Loperamid, Morphin, Methadon, Nalbuphin, Naloxon, Naltrexon, Oxycodon, Pentazocin, Pethidin, Piritramid, Remifentanil, Sufentanil, Tapentadol, Tilidin, Tramadol)
    • Cannabis – Kann zu vorübergehender Vasodilatation (Gefäßerweiterung) und Hypotonie führen, insbesondere bei Erstkonsum oder Überdosierung.
    • Andere Sedativa (Beruhigungsmittel) – Substanzen wie Benzodiazepine und Barbiturate verstärken die Neigung zu Hypotonie.
  • Körperliche Aktivität
    • Fehlende körperliche Bewegung – Bewegungsmangel schwächt die kardiovaskuläre Fitness und reduziert den venösen Rückfluss, was orthostatische Hypotonie begünstigen kann.
    • Plötzliche Belastungen – Untrainierte Personen können durch abrupten körperlichen Stress einen vorübergehenden Blutdruckabfall erleben.
  • Psycho-soziale Faktoren
    • Stress und Erschöpfung – Chronische psychische Belastung kann die Regulation des autonomen Nervensystems beeinträchtigen.
    • Schlafmangel – Zu wenig Schlaf (< 6 Stunden pro Nacht) führt zu einer Dysregulation des Blutdrucks und kann Symptome der Hypotonie verstärken.
  • Untergewicht
    • Niedriges Körpergewicht (BMI < 18,5) – Untergewicht reduziert die Kreislaufreserven und erhöht die Anfälligkeit für Hypotonie.
  • Haltung und Ergonomie
    • Langes Stehen – Kann eine orthostatische Hypotonie (OH) durch venösen Blutstau und reduzierte Rückflusskapazität auslösen.

Krankheitsbedingte Ursachen

  • Essstörungen, verbunden mit Untergewicht

Ätiologie (Ursachen) der sekundären Hypotonie

Endokrine Hypotonie 

  • Adrenogenitales Syndrom (AGS) – autosomal-rezessiv vererbte Stoffwechselkrankheit, die durch Störungen der Hormonsynthese in der Nebennierenrinde gekennzeichnet sind. Diese Störungen führen zu einem Mangel an Aldosteron und Cortisol.
  • Bartter-Syndrom – sehr seltene genetische Stoffwechselerkrankung mit autosomal-dominantem oder autosomal-rezessivem oder X-chromosomal-rezessivem Erbgang; Defekt tubulärer Transportproteine; Hyperaldosteronismus (Krankheitszustände, die mit einer erhöhten Ausschüttung von Aldosteron einhergehen), Hypokaliämie (Kaliummangel) und niedriger Blutdruck 
  • Hypophysenvorderlappeninsuffizienz – Ausfall von einzelnen oder mehreren Hormonen der Hirnhangsdrüse (Hypophyse)
  • Hypothyreose (Schilddrüsenunterfunktion)
  • Morbus Addison (Nebenniererindeninsuffizienz)

Kardiovaskuläre Hypotonie 

  • Accretio pericardi und Concretio pericardi Verwachsungen des Herzbeutels mit dem Brustfell infolge einer Herzbeutelentzündung
  • Aortenbogensyndrom, Karotissinussyndrom
    Herzrhythmusstörungen z. B. paroxysmale Tachykardie anfallsartig auftretende Herzrhythmusstörung mit erhöhter Herzfrequenz über 100/min
  • Aortenstenose – Verengung der Hauptschlagader bzw. der Aortenklappe
  • Herzinsuffizienz (Herzschwäche)
  • Mitralstenose Verengung der Mitralklappenlichtung
  • Myokardinfarkt (Herzinfarkt)
  • Orthostatische Hypotonie – deutlicher Blutdruckabfall innerhalb von drei Minuten nach dem Lagewechsel vom Liegen zum Stehen (s. u. Hypotonie/Medizingerätediagnostik/Orthostasetest (Schellong-Test))
    Diese Form der Hypotonie tritt oftmals bei sehr schlanken, jüngeren Frauen auf sowie nach längerer Immobilisation. Ebenso können Infektionen oder hormonelle Dysfunktionen zu orthostatischer Hypotonie führen.
  • Postprandiale Hypotonie (systolischer Blutdruckabfall um mindestens 20 mmHg für die Dauer von mindestens 30 Minuten innerhalb von zwei  Stunden nach der Nahrungsaufnahme; ältere Überlebende nach einem Intensivaufenthalt)

Neurogene Hypotonie 

  • Nach Sympathektomie – Entfernung des Sympathikus-Grenzstrangs
  • Nach Verabreichung blutdrucksenkender Medikamente, z. B. Diuretika, Betablocker, ACE-Hemmer etc.
  • Shy-Drager-Syndrom fortschreitende degenerative Erkrankung des Zentralnervensystems, welche mit Hypotonie beim Aufrichten des Körpers einhergeht

Hypovolämische Hypotonie durch Blut- oder Plasmaverluste 

  • Bei Verbrennungen, Unfällen, Entzündungen
  • Erbrechen, Durchfall, extremes Schwitzen, nicht ausreichendes Trinken
  • Im Schockzustand Verminderung der zirkulierenden Blutmenge

Medikamente

  • α2-Agonisten (Apraclonidin, Brimonidin, Clonidin)
  • ACE-Hemmer (Benazepril, Captopril, Cilazapril, Enalapril, Fosinopril, Lisinopril, Moexipril, Perindopril, Ramipril, Spirapril, Trandolapril)
  • Analgetika
    • Nichtsaure Analgetika (Metamizol, Paracetamol/Acetaminophen)
  • Anaesthetika (Propofol)
  • Angiotension-II-Rezeptor-Antagonisten (AT-II-RB; ARB; Angiotensin-II-Rezeptor-Subtyp-1-Antagonisten; Angiotensin-Rezeptorblocker; AT1-Rezeptorantagonisten, AT1-Rezeptorblocker, AT1-Antagonisten, AT1-Blocker; Angiotensin-Rezeptorblocker, Sartane) – Candesartan, Eprosartan, Irbesartan, Losartan, Olmesartan, Telmisartan, Valsartan) 
  • Antiarrhythmika
    • Adenosin
    • Wirkstoffklasse II: Metoprolol
  • Antidepressiva
    • Noradrenerge und spezifisch serotonerge Antidepressiva (NaSSA) – Mirtazapin
    • Selektive Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (NARI) – Reboxetin, Viloxazin
    • Selektive Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SSNRI) – Duloxetin, Venlafaxin
    • Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) – Trazodon
    • Tetrazyklische Antidepressiva (Maprotilin, Mianserin)
    • Trizyklische Antidepressiva (TZA) Amitriptylin, Clomipramin, Desipramin, Doxepin, Imipramin, Nortriptylin, Opipramol, Trimipramin
  • Antihistaminika (Azelastin, Cetirizin, Clemastin, Desloratardin, Dimenhydrinat, Dimetinden, Diphenhydramin, Loratardin, Meclozin, Terfenadin)
  • Antiprotozoika (Pentamidin)
  • Antipsychotika (Neuroleptika)
    • Konventionelle (Klassische) Antipsychotika (Neuroleptika) – Haloperidol, Melperon
    • Atypische Antipsychotika (Neuroleptika) – Olanzapin, Quetiapin, Risperidon
  • Betablocker
    • ß1 (Acebutolol, Atenolol, Betaxolol, Bisoprolol, Celiprolol, Esmolol, Metoprolol, Nebivolol)
    • α + ß (Carvediol)
    • Nadolol, Oxprenolol, Pindolol, Propranolol
  • Calcimimetikum (Etelcalcetid) 
  • Calciumantagonisten (Amlodipin, Diltiazem, Felodipin, Fendilin, Gallopamil, Lacidipin, Lercanidipin, Nitrendipin, Nifedipin, Nimodipin, Nicardipin, Isradipin, Nisoldipin, Nilvadipin, Manidipin, Verapamil)
  • Diuretika 
  • Hormone
    • Leovodopa (L-Dopa)
    • Dopaminagonisten (α-Dihydroergocriptin, Bromocriptin, Cabergolin, Lisurid, Pergolid, Pramipexol, Ropinirol, Rotigotin)
    • Mineralocorticoidantagonist (Spironolacton)
    • Oxytocin
    • Oxytocin-Rezeptor-Antagonisten (Atosiban)
    • Prostaglandinanaloga (Alprostadil/Prostaglandin E)
    • Prostanoide (Epoprostenol, Iloprost, Treprostinil)
  • Hypnotika (Propofol)
  • Lokalanästhetika (Lidocain, Procain, Mepivacain)
  • Magnesium
  • MAO-Hemmer (Tranylcypromin)
  • Methylxanthine (Theophyllin)
  • Monoklonale Antikörper (Trastuzumab)
  • Muskelrelaxantien (Baclofen, Tizanidin)
  • Nitrate (Glycerolnitrat, Glyceroltrinitrat, Isosorbiddinitrat, Nitroprussidnatrium)
  • Phosphodiesterase-III-Hemmer (Enoximon, Milrinon)
  • Rheologika (Pentoxifyllin)
  • Sedativa
    • Benzodiazepine (Diazepam, Flunitrazepam, Midazolam, Lorazepam, Temazepam, Tetrazepam*) [*Verschreibungsstopp seit August 2013 wg. schwerwiegender Hautreaktionen wie dem Stevens-Johnson-Syndrom oder dem Erythema multiforme]
  • Selektive α1-Adrenozeptor-Antagonisten (Alfuzosin, Doxazosin, Tamsulosin, Terazosin)
  • Serotonin-Rezeptoragonisten
    • Triptane (Almotriptan, Eletriptan, Frovatriptan, Naratriptan, Rizatriptan, Sumatriptan, Zolmitriptan)
  • Thrombolytika (rt-PA)
  • Vasodilatatoren (Diazoxid, Dihydralazin)
  • Virostatika (Foscarnet, Ganciclovir)

Weiteres

  • Hypertonie (Bluthochdruck): hier orthostatische Hypotonie als Folge eines schlecht kontrollierten bzw. nicht gut eingestellten Blutdrucks