Hirnblutung (Intrazerebrale Blutung) – Ursachen

Pathogenese (Krankheitsentstehung)

Die Pathogenese einer intrazerebralen Blutung (ICB) lässt sich in zwei Hauptkategorien unterteilen: primäre intrazerebrale Blutungen und sekundäre intrazerebrale Blutungen. Beide Formen unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Entstehungsmechanismen und ihrer zugrunde liegenden Ursachen.

Primäre intrazerebrale Blutung (ICB)

Eine primäre intrazerebrale Blutung ist die häufigste Form der ICB und tritt infolge von langjährig bestehender arterieller Hypertonie (Bluthochdruck) auf. Diese chronische Hypertonie führt zu einer Degeneration der Gefäßwände der kleinen Hirnarteriolen und Arterien, insbesondere im Bereich tiefliegender Hirnstrukturen wie der Basalganglien, des Thalamus, des Kleinhirns und des Hirnstamms.

  • Mechanismus der Gefäßschädigung: Der chronisch erhöhte Blutdruck führt zur Bildung von lipohyalinen Veränderungen (Ansammlung von Lipiden und hyalinem Material in den Gefäßwänden) und Mikroaneurysmen (kleine, ballonartige Aussackungen der Gefäße), die die Gefäßwand fragil machen. Diese Wandschwäche begünstigt eine Ruptur (Riss) der Arteriolen unter dem Einfluss des erhöhten intraluminalen Drucks.
  • Lokalisation und Besonderheiten: Betroffen sind bevorzugt die kleinen Arteriolen, die rechtwinklig von größeren Hirnarterien abzweigen und dadurch besonders druckempfindlich sind. Durch eine einzelne Ruptur kann es zu einer Schneeballreaktion kommen, bei der benachbarte geschwächte Gefäße ebenfalls rupturieren.
  • Pathophysiologische Folgen: Das ausgetretene Blut infiltriert das Hirnparenchym (Hirngewebe) und verursacht eine direkte Schädigung der Neuronen. Zudem bildet sich häufig ein peri-hämorrhagisches (perifokales) Ödem um die Blutung herum. Diese Ödembildung erhöht den intrakraniellen Druck (ICP) und kann bei ausgedehnten Blutungen zu einer akuten Hirndrucksteigerung führen.
  • Einbruch in das Ventrikelsystem: In etwa 30–50 % der Fälle kommt es zum Einbruch der Blutung in das Ventrikelsystem (Hohlraumsystem im Gehirn), was zu einer Störung der Liquorzirkulation führt und die Entstehung eines Verschlusshydrozephalus (Hydrozephalus occlusus) begünstigt. In diesem Fall liegt eine pathologische Erweiterung der liquorgefüllten Hirnventrikel vor, die zu einem weiteren Anstieg des Hirndrucks führt und die neurologischen Schäden verstärken kann.

Sekundäre intrazerebrale Blutung (ICB)

Sekundäre intrazerebrale Blutungen treten infolge einer vorgeformten Gefäßanomalie oder einer anderen systemischen Erkrankung auf. Zu den häufigsten Ursachen gehören:

  • Gefäßmissbildungen:
    • Arteriovenöse Malformationen (AVM), Kavernome oder andere vaskuläre Fehlbildungen können zu spontanen Blutungen führen.
  • Amyloidangiopathie:
    • Diese Form der ICB tritt vor allem bei älteren Patienten auf und wird durch die Ablagerung von Amyloidproteinen in den Gefäßwänden verursacht. Die Ablagerungen führen zu einer Wandschwäche, die bevorzugt oberflächlich gelegene Hirnarterien betrifft. Amyloidangiopathien sind typischerweise mit rezidivierenden lobären Blutungen assoziiert.
  • Hämatologische Störungen:
    • Störungen der Blutgerinnung (z. B. Thrombozytopenie (Thrombozytenmangel; Mangel an Blutplättchen), Antikoagulation (Blutverdünner)) oder Bluterkrankungen (z. B. Leukämien/Blutkrebs) können das Risiko für intrazerebrale Blutungen erhöhen.
  • Traumatische Ursachen:
    • Schädel-Hirn-Traumata sind eine häufige Ursache für sekundäre intrazerebrale Blutungen, die mit parenchymalen Kontusionen (Gewebequetschungen) oder diffusen axonalen Schädigungen einhergehen.
  • Tumorbedingte Blutungen:
    • Hirntumoren, sowohl primäre als auch metastasierte, können in seltenen Fällen durch Einblutungen in das Tumorgewebe zu einer ICB führen.
  • Vaskulitiden:
    • Gefäßentzündungen (z. B. ZNS-Vaskulitis) führen zu einer Schädigung der Gefäßwand und können eine intrazerebrale Blutung verursachen.

Zusammenfassung und klinische Relevanz

Die primäre intrazerebrale Blutung ist in der Regel das Ergebnis einer chronischen Hypertonie, die zu einer Degeneration der kleinen Hirnarteriolen führt. Durch den Druckanstieg kommt es zur Ruptur der betroffenen Gefäße und zu einer Raumforderung im Gehirn. Sekundäre intrazerebrale Blutungen hingegen sind das Resultat von Gefäßmissbildungen, Amyloidangiopathie, Traumata, hämatologischen Störungen oder anderen zugrunde liegenden Erkrankungen.

Die Differenzierung zwischen primären und sekundären Formen ist entscheidend für die weitere Diagnostik und Therapieplanung, da sich die Behandlung und die Prognose je nach Ursache erheblich unterscheiden.

Ätiologie (Ursachen)

Die Lokalisation der Blutung lässt erste Schlussfolgerungen zur Ätiologie (Ursache) zu. Beispielsweise kommen hypertensive Massenblutungen vermehrt in der Tiefe des Gehirns vor, während intrazerebrale Hämatome oder Einblutungen von z. B. Metastasen oberflächlicher auftreten (in der Nähe des Cortex (Großhirnrinde)).

Primäre intrazerebrale Blutung (80-85 % der Fälle)

Biographische Ursachen

  • Hereditäre Mikroangiopathien – heterogene Krankheitsgruppe, bei der sich als gemeinsames Charakteristikum pathologische Veränderungen der kleinen Hirngefäße finden

Krankheitsbedingte Ursachen

  • Hypertonie (Bluthochdruck) – führt über die Zeit zu Veränderungen kleiner Blutgefäße [2]
  • Zerebrale Amyloidangiopathie (ZAA) – degenerative Vaskulopathie (Gefäßschäden), die durch Ablagerungen von Beta-Amyloid (Peptide/bestimmte Eiweißmoleküle) in den Wandschichten entsteht; Beta-Amyloid-Plaques gelten auch als Hauptauslöser von demenziellen Erkrankungen und Morbus Alzheimer; Prävalenz (Krankheitshäufigkeit) beträgt 30 % bei 60- bis 69-Jährigen und 50 % bei 70- bis 89-Jährigen

Sekundäre intrazerebrale Blutung (15-20 % der Fälle)

Verhaltensbedingte Ursachen

  • Genussmittelkonsum
    • Alkoholabusus (Alkoholabhängigkeit)
  • Drogenkonsum
    • Amphetamine
    • Crystal Meth
    • Kokain
  • Übergewicht (BMI ≥ 25; Adipositas) – führt zu einem erhöhten Blutungsvolumen

Krankheitsbedingte Ursachen

  • Arteriitiden (Entzündung einer oder mehrerer Arterien) (selten)
  • Blutungsdiathese (erhöhte Blutungsneigung) bzw. Gerinnungsstörungen [2] – meist durch Antikoagulation (Gerinnungshemmer) ausgelöst, die zur Vorbeugung ischämischer Apoplexe (Schlaganfälle durch Gefäßverschluss) bei bestehendem Vorhofflimmern oder nach Auftreten tiefer Beinvenenthrombosen und Lungenembolien verordnet werden (siehe unten unter "Medikamente"), kann aber auch krankheitsbedingt sein: Hämophilie (Bluterkrankheit), Leberinsuffizienz (Funktionsstörung der Leber mit teilweisem oder vollständigem Ausfall ihrer Stoffwechselaufgaben), Leukämien (Blutkrebs), Thrombozytopenie (Mangel an Blutplättchen); häufig großes Hämatomvolumen
  • Eklampsie ("Schwangerschaftskrampf") (selten)
  • Gefäßanomalien wie Angiome (Blutschwämme), arteriovenöse Malformation (AVM/angeborene Fehlbildung der Blutgefäße), Durafistel (pathologische/krankhafte Kurzschlussverbindung zwischen Arterien und Venen auf der Ebene der Hirnhäute), zerebrales Aneurysma, zerebrale kavernöse Malformation (Anlagestörung des Gefäßsystems) [2] – in der Regel Blutung in den Subarachnoidalraum (Spaltraum zwischen Arachnoidea mater (weiche Hirnhaut bzw. mittlere Hirnhaut), selten Einblutung in das Ventrikelsystem (Hohlraumsystem im Gehirn); tritt häufig bei jüngeren Patienten ohne Hypertonie auf.
  • Infektiöse Endokarditis (Herzinnenhautentzündung)
  • Intrakranielle Tumoren oder Hirnmetastasen (selten)
  • Moyamoya-Krankheit (von jap. moyamoya „Nebel“) (selten) – Krankheit der Gehirngefäße (insbesondere der Arteria carotis interna und der Arteria cerebri media), bei der es zu einer Stenose (Verengung) oder einem Obliteration (Verschluss) von Hirnarterien kommt; seltene Ursache für einen juvenilen Apoplex bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen
  • Reversibles zerebrales Vasokonstriktionssyndrom (RCVS) – durch Zusammenziehen der Muskulatur von Hirngefäßen kommt es zu schweren Vernichtungskopfschmerzen, ggf. mit neurologischen Auffälligkeiten
  • Zerebrale Venen- und Sinusthrombose (ZVT) (selten) – Verschluss eines Hirnsinus (aus Duraduplikaturen hervorgehenden großen venösen Blutgefäße des Gehirns) durch einen Thrombus (Blutpfropf)
  • Zerebrale Vaskulitis (Entzündung von Gefäßwänden im Gehirn)

Medikamente

  • Antikoagulantien
    • Cumarine (Phenprocoumon (Produktnamen: Marcumar, Falithrom); Warfarin (Produktnamen: Coumadin, Marevan); Acenocumarol (Produktname: Sintrom)
    • Direkte Inhibitor des Thrombins (Argatroban, Lepirudin)
    • Heparin-Analoga (Fondaparinux)
    • Heparine (Certoparin, Dalteparin, Enoxaparin, Nadroparin, Reviparin, Tinzaparin)
    • Heparinoide (Danaparoid
    • Neue orale Antikoagulantien (NOAK; NOAC; direkte orale Antikoagulantien, DOAK)
      • Direkter Faktor Xa-Inhibitor (Apixaban, Edoxaban, Rivaroxaban)
      • Direkter und selektiver Faktor-Xa-Inhibitor (Apixaban)
      • Selektiver Thrombininhibitor (Dabigatran); Antidot: Idarucizumab kann die Wirkung des oralen Antkoagulans Dabigatran innerhalb von Minuten aufheben; Blutungstopp innerhalb von 2,5 Stunden – es kann aber nach 12 bis 24 Stunden zu einem erneuten Anstieg der Blutungszeiten kommen, was bei einigen Patienten zu einer erneuten Blutung führte [3].
    • Statine – medikamentöse Senkung von LDL-Cholesterin geht mit einer absoluten Risikoerhöhung um 0,3 % für hämorrhagische Infarkte einher [5]
    • Thrombozytenaggregationshemmer (Abciximab, Acetylsalicylsäure (ASS), Kombination aus Acetylsalicylsäure und Dipyridamol, Clopidogrel, Eptifibatid, Ilomedin (Prostacyclin-Analogon), Prasugrel, Ticagrelor, Ticlopidin, Tirofiban)
      Eine niedrig dosierte (bis 300 mg/Tag) Dauermedikation mit Acetylsalicylsäure (ASS; Thrombozytenaggregationshemmer), wie sie im Rahmen der Primär- und Sekundärprävention von vaskulären Ereignissen verordnet wird, erhöht nicht das Risiko intrakranieller Blutungen [4].
  • Fibrinolytika (Arzneimittel zur akuten Behandlung von Erkrankungen, die durch einen Gefäßverschluss verursacht werden; sie führen zur Auflösung des Blutgerinnsels)
  • Hormone – z. B. kombiniertes hormonales Kontrazeptivum (Empfängnisverhütungsmittel) → Hirnvenen und/oder Sinusthrombose

Literatur

  1. Huttner HB, Kuramatsu JB: Aktuelle Therapieziele bei intrazerebralen Blutungen. Medizinische Klinik – Intensivmedizin und Notfallmedizin, November 2017, Volume 112, Issue 8, S. 695-702
  2. Kleffmann J, Roth C, Siekmann R, Deinsberger W: Intrazerebrale Blutungen. Spezielle Notfallmedizin update 2015; 10 (1): 45-60. Georg Thieme Verlag KG Stuttgart – New York
  3. Shin JY et al.: Risk of intracranial haemorrhage in antidepressant users with concurrent use of non-steroidal anti-inflammatory drugs: nationwide propensity score matched study. BMJ 2015; 351. doi.org/10.1136/bmj.h3517
  4. Cea Soriano L, Gaist D, Soriano-Gabarró M, Bromley S, García Rodríguez LA: Low-dose aspirin and risk of intracranial bleeds: An observational study in UK general practice. Neurology 2017; 89: 2280-7
  5. Bétrisey S et al.: Lipid-Lowering Therapy and Risk of Hemorrhagic Stroke: A Systematic Review and Meta-Analysis of Randomized Controlled Trials. J Am Heart Assoc 2024;13:e030714. https://doi.org/10.1161/JAHA.123.030714