Hirnblutung (Intrazerebrale Blutung) – Ursachen

Pathogenese (Krankheitsentstehung)

Eine primäre intrazerebrale Blutung (ICB) wird durch eine Ruptur (Riss) von im Hirnparenchym (Hirnsubstanz, Hirngewebe) verlaufender Gefäße, die eine Wandschwäche aufweisen, verursacht. Es blutet in das Hirnparenchym oder in den Liquorraum (hier: Hohlraumsystem im/um das Gehirn herum).
Eine langjährig bestehende Hypertonie (Bluthochdruck) fördert die Degeneration der Gefäßwände – sie verlieren an Elastizität. Besonders die kleinen Hirnarteriolen sind betroffen. Sie entspringen rechtwinklig den großen Arterien und sind einem erhöhten intravasalen Druck (Druck im Gefäß) ausgesetzt. Es besteht auch immer die Gefahr, dass weitere Gefäße platzen können ("Schneeballeffekt").
Im betroffenen Hirnbereich kommt es zu Hirnschäden mit neuronalen Funktionsstörungen. Das ausgetretene Blut stellt eine Raumforderung dar. Größere Blutungen führen in den meisten Fällen zu einem Anstieg des intrakraniellen Drucks (ICP). Zudem entwickelt sich im Verlauf häufig ein peri-hämorrhagisches (perifokales) Ödem, das ebenfalls den ICP erhöht. Bricht die Blutung in das Ventrikelsystem (Hohlraumsystem im Gehirn) ein, kann es zu Störungen der Zirkulation des Liquor cerebrospinalis (Gehirn-Rückenmarks-Flüssigkeit, engl  Cerebrospinal fluid (CSF), umgangssprachlich "Nervenwasser") kommen. Letztlich kann sich ein Verschlusshydrocephalus (Hydrocephalus occlusus; pathologische/krankhafte Erweiterung der liquorgefüllten Flüssigkeitsräume (Hirnventrikel) des Gehirns) entwickeln.

Ätiologie (Ursachen)

Die Lokalisation der Blutung lässt erste Schlussfolgerungen zur Ätiologie (Ursache) zu. Beispielsweise kommen hypertensive Massenblutungen vermehrt in der Tiefe des Gehirns vor, während intrazerebrale Hämatome oder Einblutungen von z. B. Metastasen oberflächlicher auftreten (in der Nähe des Cortex (Großhirnrinde)).

Primäre intrazerebrale Blutung (80-85 % der Fälle)

Biographische Ursachen

  • Hereditäre Mikroangiopathien – heterogene Krankheitsgruppe, bei der sich als gemeinsames Charakteristikum pathologische Veränderungen der kleinen Hirngefäße finden

Krankheitsbedingte Ursachen

  • Hypertonie (Bluthochdruck) – führt über die Zeit zu Veränderungen kleiner Blutgefäße [2]
  • Zerebrale Amyloidangiopathie (ZAA) – degenerative Vaskulopathie (Gefäßschäden), die durch Ablagerungen von Beta-Amyloid (Peptide/bestimmte Eiweißmoleküle) in den Wandschichten entsteht; Beta-Amyloid-Plaques gelten auch als Hauptauslöser von demenziellen Erkrankungen und Morbus Alzheimer; Prävalenz (Krankheitshäufigkeit) beträgt 30 % bei 60- bis 69-Jährigen und 50 % bei 70- bis 89-Jährigen

Sekundäre intrazerebrale Blutung (15-20 % der Fälle)

Verhaltensbedingte Ursachen

  • Genussmittelkonsum
    • Alkoholabusus (Alkoholabhängigkeit)
  • Drogenkonsum
    • Amphetamine
    • Crystal Meth
    • Kokain
  • Übergewicht (BMI ≥ 25; Adipositas) – führt zu einem erhöhten Blutungsvolumen

Krankheitsbedingte Ursachen

  • Arteriitiden (Entzündung einer oder mehrerer Arterien) (selten)
  • Blutungsdiathese (erhöhte Blutungsneigung) bzw. Gerinnungsstörungen [2] – meist durch Antikoagulation (Gerinnungshemmer) ausgelöst, die zur Vorbeugung ischämischer Apoplexe (Schlaganfälle durch Gefäßverschluss) bei bestehendem Vorhofflimmern oder nach Auftreten tiefer Beinvenenthrombosen und Lungenembolien verordnet werden (siehe unten unter "Medikamente"), kann aber auch krankheitsbedingt sein: Hämophilie (Bluterkrankheit), Leberinsuffizienz (Funktionsstörung der Leber mit teilweisem oder vollständigem Ausfall ihrer Stoffwechselaufgaben), Leukämien (Blutkrebs), Thrombozytopenie (Mangel an Blutplättchen); häufig großes Hämatomvolumen
  • Eklampsie ("Schwangerschaftskrampf") (selten)
  • Gefäßanomalien wie Angiome (Blutschwämme), arteriovenöse Malformation (AVM/angeborene Fehlbildung der Blutgefäße), Durafistel (pathologische/krankhafte Kurzschlussverbindung zwischen Arterien und Venen auf der Ebene der Hirnhäute), zerebrales Aneurysma, zerebrale kavernöse Malformation (Anlagestörung des Gefäßsystems) [2] – in der Regel Blutung in den Subarachnoidalraum (Spaltraum zwischen Arachnoidea mater (weiche Hirnhaut bzw. mittlere Hirnhaut), selten Einblutung in das Ventrikelsystem (Hohlraumsystem im Gehirn); tritt häufig bei jüngeren Patienten ohne Hypertonie auf.
  • Infektiöse Endokarditis (Herzinnenhautentzündung)
  • Intrakranielle Tumoren oder Hirnmetastasen (selten)
  • Moyamoya-Krankheit (von jap. moyamoya „Nebel“) (selten) – Krankheit der Gehirngefäße (insbesondere der Arteria carotis interna und der Arteria cerebri media), bei der es zu einer Stenose (Verengung) oder einem Obliteration (Verschluss) von Hirnarterien kommt; seltene Ursache für einen juvenilen Apoplex bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen
  • Reversibles zerebrales Vasokonstriktionssyndrom (RCVS) – durch Zusammenziehen der Muskulatur von Hirngefäßen kommt es zu schweren Vernichtungskopfschmerzen, ggf. mit neurologischen Auffälligkeiten
  • Zerebrale Venen- und Sinusthrombose (ZVT) (selten) – Verschluss eines Hirnsinus (aus Duraduplikaturen hervorgehenden großen venösen Blutgefäße des Gehirns) durch einen Thrombus (Blutpfropf)
  • Zerebrale Vaskulitis (Entzündung von Gefäßwänden im Gehirn)

Medikamente

  • Antikoagulantien
    • Cumarine (Phenprocoumon (Produktnamen: Marcumar, Falithrom); Warfarin (Produktnamen: Coumadin, Marevan); Acenocumarol (Produktname: Sintrom)
    • Direkte Inhibitor des Thrombins (Argatroban, Lepirudin)
    • Heparin-Analoga (Fondaparinux)
    • Heparine (Certoparin, Dalteparin, Enoxaparin, Nadroparin, Reviparin, Tinzaparin)
    • Heparinoide (Danaparoid
    • Neue orale Antikoagulantien (NOAK; NOAC; direkte orale Antikoagulantien, DOAK)
      • Direkter Faktor Xa-Inhibitor (Apixaban, Edoxaban, Rivaroxaban)
      • Direkter und selektiver Faktor-Xa-Inhibitor (Apixaban)
      • Selektiver Thrombininhibitor (Dabigatran); Antidot: Idarucizumab kann die Wirkung des oralen Antkoagulans Dabigatran innerhalb von Minuten aufheben; Blutungstopp innerhalb von 2,5 Stunden – es kann aber nach 12 bis 24 Stunden zu einem erneuten Anstieg der Blutungszeiten kommen, was bei einigen Patienten zu einer erneuten Blutung führte [3].
    • Statine – medikamentöse Senkung von LDL-Cholesterin geht mit einer absoluten Risikoerhöhung um 0,3 % für hämorrhagische Infarkte einher [5]
    • Thrombozytenaggregationshemmer (Abciximab, Acetylsalicylsäure (ASS), Kombination aus Acetylsalicylsäure und Dipyridamol, Clopidogrel, Eptifibatid, Ilomedin (Prostacyclin-Analogon), Prasugrel, Ticagrelor, Ticlopidin, Tirofiban)
      Eine niedrig dosierte (bis 300 mg/Tag) Dauermedikation mit Acetylsalicylsäure (ASS; Thrombozytenaggregationshemmer), wie sie im Rahmen der Primär- und Sekundärprävention von vaskulären Ereignissen verordnet wird, erhöht nicht das Risiko intrakranieller Blutungen [4].
  • Fibrinolytika (Arzneimittel zur akuten Behandlung von Erkrankungen, die durch einen Gefäßverschluss verursacht werden; sie führen zur Auflösung des Blutgerinnsels)
  • Hormone – z. B. kombiniertes hormonales Kontrazeptivum (Empfängnisverhütungsmittel) → Hirnvenen und/oder Sinusthrombose

Literatur

  1. Huttner HB, Kuramatsu JB: Aktuelle Therapieziele bei intrazerebralen Blutungen. Medizinische Klinik – Intensivmedizin und Notfallmedizin, November 2017, Volume 112, Issue 8, S. 695-702
  2. Kleffmann J, Roth C, Siekmann R, Deinsberger W: Intrazerebrale Blutungen. Spezielle Notfallmedizin update 2015; 10 (1): 45-60. Georg Thieme Verlag KG Stuttgart – New York
  3. Shin JY et al.: Risk of intracranial haemorrhage in antidepressant users with concurrent use of non-steroidal anti-inflammatory drugs: nationwide propensity score matched study. BMJ 2015; 351. doi.org/10.1136/bmj.h3517
  4. Cea Soriano L, Gaist D, Soriano-Gabarró M, Bromley S, García Rodríguez LA: Low-dose aspirin and risk of intracranial bleeds: An observational study in UK general practice. Neurology 2017; 89: 2280-7
  5. Bétrisey S et al.: Lipid-Lowering Therapy and Risk of Hemorrhagic Stroke: A Systematic Review and Meta-Analysis of Randomized Controlled Trials. J Am Heart Assoc 2024;13:e030714. https://doi.org/10.1161/JAHA.123.030714