Zwangsstörungen – Einleitung

Zwangsstörungen sind neuropsychiatrische Erkrankungen, die durch sich wiederholende unangenehme Gedanken, Impulse oder Handlungen gekennzeichnet sind. Diese treten mindestens zwei Wochen lang an den meisten Tagen auf, werden als zur eigenen Person gehörig erlebt und lösen häufig Widerstand aus, der zumindest teilweise erfolglos bleibt.

Synonyme und ICD-10: Anankasmus; anankastische Depression; anankastische Neurose; Impulsivneurose; kompulsive psychoneurotische Reaktion; neurotische Rumination; psychogene Rumination; psychogene Störung mit Zwangsgedanken; psychoneurotische Reaktion mit Zwangsgedanken; vorwiegend Zwangshandlung; vorwiegend Zwangsrituale; Zwangsgedanken und Zwangshandlungen, gemischt; Zwangshandlung; Zwangsideen; Zwangskrankheit; Zwangsneurose; Zwangsphobie; Zwangsreaktion; Zwangsrumination; Zwangssyndrom; Zwangsvorstellungen; Zwangsvorstellungssyndrom; ICD-10-GM F42.-: Zwangsstörung

Formen der Zwangsstörungen

Man kann Zwangsstörungen in folgende Formen unterteilen:

  • Vorwiegend Zwangsgedanken oder Grübelzwang (ICD-10-GM F42.0)
    • Aggressivität
    • Religiöse Inhalte
    • Sexuelle Inhalte
    • Verschmutzung
    • Krankheiten
    • Infektion, Ansteckung
  • Vorwiegend Zwangshandlungen [Zwangsrituale] (ICD-10-GM F42.1)
    • Sammelzwang
    • Wiederholungszwang
    • Selbstzüchtigungszwang
    • Kontrollzwang (häufig)
    • Waschzwang (häufig)
    • Ordnungszwang
  • Zwangsgedanken und Zwangshandlungen, gemischt (bei mehr als 90 % der Betroffenen; ICD-10-GM F42.2)
  • Sonstige Zwangsstörungen (ICD-10-GM F42.8) – z. B. subklinische Form der Zwangshandlungen, die schwer zu diagnostizieren ist
  • Zwangsstörung, nicht näher bezeichnet (ICD-10-GM F42.9) – zwanghafte Langsamkeit

Ursachen

  • Genetische Prädisposition
  • Biochemische Ungleichgewichte im Gehirn
  • Traumatische Erlebnisse
  • Neurobiologische Faktoren (Fehlfunktionen in den Basalganglien und dem präfrontalen Kortex)

Differentialdiagnosen

  • Andere Tic-Störungen
  • Zwangsstörungen
  • Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS)
  • Chorea Huntington
  • Epilepsie
  • Autismus-Spektrum-Störungen

Epidemiologie

Geschlechterverhältnis:

  • Männer und Frauen sind gleichermaßen betroffen. In einigen Studien wurde eine erhöhte Lebenszeitprävalenz für Frauen gefunden. Im Kindesalter sind Jungen geringfügig häufiger betroffen als Mädchen.
  • Männer sind häufiger von Kontrollzwängen betroffen und Frauen von Waschzwängen.

Häufigkeitsgipfel: Die Störungen manifestieren sich meistens im Jugendalter (postpubertär) bzw. bei jungen Erwachsenen (< 30 Jahre). Sie können sogar schon bei Kindern auftreten. Häufig betroffen sind erstgeborene Kinder. Selten erkranken Personen > 50 Jahre. Das mittlere Erkrankungsalter beträgt 20 Jahre.

Prävalenz (Krankheitshäufigkeit): 1-3 % (Lebenszeitprävalenz; in Deutschland). Zwangsstörungen mit frühem Beginn (Kindes- und Jugendalter) kommen mit einer Prävalenz von 1-3 % vor. Subklinische Zwangsstörungen treten mit einer Prävalenz von 2 % auf.

Inzidenz (Häufigkeit von Neuerkrankungen): Daten zur Inzidenz sind begrenzt und variieren je nach Studienlage und Region.

Verlauf und Prognose

Verlauf

  • Beginn und Entwicklung: Zwangsstörungen (engl. Obsessive-Compulsive Disorder, OCD) beginnen häufig in der Kindheit, Jugend oder im frühen Erwachsenenalter. Der Beginn ist in der Regel schleichend, kann aber auch plötzlich auftreten. Die Symptome können episodisch sein, sich verschlechtern und verbessern, oder chronisch und konstant bleiben.
  • Einflussfaktoren: Mehrere Faktoren beeinflussen den Verlauf der Zwangsstörung, darunter genetische Prädispositionen, neurobiologische Veränderungen und Umweltfaktoren. Belastende Lebensereignisse, chronischer Stress und bestimmte Persönlichkeitsmerkmale (wie Perfektionismus und ein erhöhtes Verantwortungsbewusstsein) können die Symptome verstärken.
  • Symptomatik: Die Symptomatik der Zwangsstörung kann sich im Laufe der Zeit ändern. Beispielsweise können die Art und der Inhalt der Zwänge und Zwangshandlungen variieren. In stressigen Phasen oder bei Veränderungen im Leben (wie Jobwechsel, Umzug oder Verlust eines nahestehenden Menschen) können sich die Symptome verschlimmern.
  • Komorbiditäten: Viele Patienten mit Zwangsstörungen haben auch andere psychische Störungen, wie Depressionen, Angststörungen oder Essstörungen. Diese Komorbiditäten können den Verlauf der Zwangsstörung beeinflussen und oft komplizieren.
  • Verheimlichung und Diagnoseverzögerung: Oft wird die Erkrankung verheimlicht, nicht erkannt oder nicht richtig behandelt. Meist vergehen 10-17 Jahre, bis die Betroffenen adäquat therapiert werden. Diese Verzögerung kann den Verlauf negativ beeinflussen und zu einer Chronifizierung der Erkrankung führen.
  • Behandlungseinfluss: Frühe Interventionen und eine adäquate Behandlung können den Verlauf positiv beeinflussen. Kognitive Verhaltenstherapie (KVT) und medikamentöse Behandlungen (insbesondere Selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI)) haben sich als wirksam erwiesen und können helfen, die Symptome zu reduzieren und die Lebensqualität zu verbessern.

Prognose

  • Allgemeine Prognose: Die Prognose bei Zwangsstörungen ist variabel und hängt von mehreren Faktoren ab, darunter das Ansprechen auf die Behandlung, das Vorhandensein von Komorbiditäten und die Schwere der Symptome. Einige Patienten erleben eine signifikante Verbesserung oder sogar Remission der Symptome, während andere eine chronische oder rezidivierende Symptomatik aufweisen.
  • Einfluss der Behandlung: Patienten, die frühzeitig eine wirksame Behandlung erhalten, haben in der Regel eine bessere Prognose. Kognitive Verhaltenstherapie, insbesondere Exposition und Reaktionsmanagement (ERP), und medikamentöse Behandlungen können helfen, die Symptome zu kontrollieren und die Rückfallrate zu senken.
  • Langzeitprognose: Langzeitstudien zeigen, dass etwa 20-30 % der Patienten mit Zwangsstörungen eine vollständige Remission erreichen, 40-50 % eine signifikante Verbesserung erfahren und bei 20-40 % die Symptome chronisch bleiben. Eine kontinuierliche Behandlung und Nachsorge sind oft notwendig, um Rückfälle zu vermeiden und die Symptomkontrolle aufrechtzuerhalten.

Komorbiditäten

Bei Patienten mit Zwangsstörungen zeigen sich im Verlauf der Erkrankung erhebliche psychische Komorbiditäten (depressive Störungen, Panikstörung, soziale Phobie, Essstörungen, Alkoholabhängigkeit) und dermatologische Komorbiditäten (Trichotillomanie/Haarerupfen: zwanghaftes Ausreißen der eigenen Behaarung, Dermatitis (entzündliche Reaktion der Haut) durch exzessives Hände- bzw. Körperwaschen).

Beachte: Wenn eine Zwangssymptomatik nach dem 50. Lebensjahr neu aufgetreten ist, muss eine hirnorganische Ursache ausgeschlossen werden.

Leitlinien

  1. S3-Leitlinie: Zwangsstörungen. (AWMF-Registernummer: 038-017), Mai 2013 Kurzfassung Langfassung
  2. S3-Leitlinie: Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen. (AWMF-Registernummer: 038-020), Oktober 2018 Kurzfassung Langfassung
  3. S3-Leitlinie: Angststörungen bei Kindern und Jugendlichen, Behandlung. (AWMF-Registernummer: 028-022), Oktober 2019 Langfassung
  4. S3-Leitlinie: Behandlung von Angststörungen. (AWMF-Registernummer: 051-028), April 2021 Kurzfassung Langfassung