Tourette-Syndrom – Ursachen
Pathogenese (Krankheitsentstehung)
Das Tourette-Syndrom ist eine komplexe neurologische Störung, deren genaue Pathogenese bislang nicht vollständig geklärt ist. Es wird angenommen, dass sowohl genetische als auch neurobiologische Faktoren eine Rolle spielen.
Neuroanatomische Grundlagen
Der Ursprung der Störung liegt vermutlich im Corpus striatum (Streifenkörper), einem Teil der Basalganglien (Ansammlung von Nervenzellen im Gehirn). Diese Hirnregionen sind von zentraler Bedeutung für die motorische Kontrolle (Bewegungssteuerung), aber auch für kognitive (geistige) und emotionale Prozesse (Gefühlsregulation). Das Corpus striatum umfasst den Nucleus caudatus (geschweifter Kern) und das Putamen (Schalenkörper), die gemeinsam Bewegungsabläufe hemmen und modulieren.
Funktionelle Veränderungen
Beim Tourette-Syndrom sind der Nucleus caudatus und das Putamen in ihrer Größe vermindert. Dies führt zu einer gestörten Regulation der Bewegungen und begünstigt Hyperkinesen (blitzartige, unwillkürliche Bewegungen), die als Tics (plötzliche Muskelzuckungen oder Lautäußerungen) in Erscheinung treten. Die Basalganglien wirken normalerweise hemmend auf bestimmte motorische Funktionen, doch bei Tourette-Patienten ist diese Hemmung gestört, was zu den unkontrollierten Bewegungen und Lautäußerungen führt.
Dopaminerge Dysregulation
Ein wesentlicher Bestandteil der Pathogenese scheint eine Störung der dopaminergen Signalübertragung (Weiterleitung von Signalen durch den Botenstoff Dopamin) im Striatum zu sein. Es gibt Hinweise darauf, dass eine Überaktivität des dopaminergen Systems mit dem Tourette-Syndrom assoziiert ist. Dies könnte erklären, warum Dopaminblocker (Medikamente, die die Wirkung von Dopamin hemmen) bei vielen Patienten eine Linderung der Symptome bewirken.
Weitere neurobiologische Mechanismen
Zusätzlich könnten Glutamat- und GABAerge Dysbalancen (Glutamat: erregender Neurotransmitter; GABA: hemmender Neurotransmitter) zur Symptomatik beitragen, indem sie das Zusammenspiel zwischen erregenden und hemmenden Nervenzellnetzwerken beeinflussen. Auch Serotonin (ein weiterer Neurotransmitter) könnte eine Rolle spielen, da serotonerge Systeme (Systeme, die Serotonin verwenden) an der Modulation von Emotionen und Impulskontrolle beteiligt sind.
Genetische Faktoren
Es gibt starke Hinweise auf eine genetische Prädisposition für das Tourette-Syndrom. Familien- und Zwillingsstudien deuten darauf hin, dass genetische Faktoren das Risiko für die Entwicklung der Störung erheblich erhöhen. Der genaue Erbgang ist jedoch komplex und vermutlich multifaktoriell, was bedeutet, dass mehrere Gene sowie Umweltfaktoren an der Entstehung beteiligt sind.
Zusammenfassung
Das Tourette-Syndrom wird durch eine Störung der Basalganglien (Ansammlung von Nervenzellen im Gehirn) und insbesondere des Corpus striatum (Streifenkörper) verursacht, wobei eine Fehlregulation der dopaminergen Signalwege (Dopamin-vermittelte Signalübertragung) eine zentrale Rolle spielt. Die genaue Ursache der Erkrankung bleibt jedoch Gegenstand laufender Forschung, und es wird angenommen, dass eine Kombination aus genetischen, neurobiologischen und umweltbedingten Faktoren zur Pathogenese beiträgt.
Ätiologie (Ursachen)
Biographische Ursachen
- Genetische Belastung durch Eltern: Angehörige 1. Grades haben ein Risiko von 5-15 % am Tourette-Syndrom zu erkranken [1-6]; die ursächlichen Genabweichungen sind bislang nicht gefunden worden.
- Intrauterine Wachstumsretardierung [7] – pathologische (krankhafte) Verzögerung des Wachstums eines Fetus in der Gebärmutter (Uterus)
- Perinatale Hypoxie [7] – Sauerstoffunterversorgung des Ungeborenen während der Geburt
- Frühgeburt [7]
- Niedriges Geburtsgewicht [7]
Verhaltensbedingte Ursachen
- Genussmittelkonsum
- Tabak (Rauchen) in der Gravidität (Schwangerschaft) [7]
- Psycho-soziale Situation
- Stress in der Gravidität [7]
Krankheitsbedingte Ursachen
- Postnatale Infektionen (nach der Geburt) – vor allem mit ß-hämolysierenden Streptokokken der Gruppe A (GABHS) mit PANDAS (pediatric autoimmune neuropsychiatric disorders associates with streptococcal infections)
- Sekundäre Tics im Rahmen folgender zugrundeliegender Krankheiten (selten):
- Chorea Huntington (Synonyme: Huntingtonsche Chorea oder Huntington-Krankheit; älterer Name: Veitstanz) – genetische Erkrankung mit autosomal-dominantem Erbgang, die durch unwillkürliche, unkoordinierte Bewegungen bei gleichzeitig schlaffem Muskeltonus gekennzeichnet ist; dadurch bedingt kommt es unter anderem zu Problemen bei der Essensaufnahme
- Chorea minor (Chorea Sydenham) ‒ Spätmanifestation des rheumatischen Fiebers (Wochen bis Monate) mit Befall des Corpus striatum (Teil der Basalganglien, die zum Großhirn gehören); fast nur bei Kindern auftretend; führt zu Hyperkinesen (blitzartige Bewegungen), Muskelhypotonie und psychischen Veränderungen
- Fragiles-X-Syndrom (Martin-Bell-Syndrom) – X-chromosomal vererbtes Syndrom, bei dem vor allem die folgenden Fehlbildungen auftreten: große Ohrmuscheln, große Genitalien, Sterilität (Unfruchtbarkeit) und geistige Retardierung
- Morbus Wilson (Kupferspeicherkrankheit) – autosomal-rezessiv vererbte Erkrankung, bei der durch eine oder mehrere Genmutationen der Kupferstoffwechsel in der Leber gestört ist
- Neuroakanthozytosen (Huntington disease like 2, autosomal rezessive Chorea-Akanthozytose, McLeod-Syndrom)
Literatur
- Hyde TM, Aaronson BA, Randolph C, Rickler KC, Weinberger DR: Relationship of birth weight to the phenotypic expression of Gilles de la Tourette’s syndrome in monozygotic twins. Neurology 1992; 42: 652-8
- Nee LE, Caine ED, Polinsky RJ, Eldridge R, Ebert MH: Gilles de la Tourette syndrome: clinical and family study of 50 cases. Ann Neurol 1980; 7: 41-9
- Pauls DL: An update on the genetics of Gilles de la Tourette syndrome. J Psychosom Res 2003; 55: 7-12
- Price RA, Kidd KK, cohen DJ: A twin study of Tourette syndrome. Arch Gen Psychiatry 1985; 42: 815-20
- Remschmidt H, Hebebrand J: Das Tourette-Syndrom: Eine zu selten diagnostizierte Tic-Störung? Dtsch Arztebl 1993; 90 (24): A-1805-10
- Deng H, Gao K, Jankovic J: The genetics of Tourette syndrome. Nat Rev Neurol 2012; 8: 203-13
- Ludolph AG, Roessner V, Münchau A, Müller-Vahl K: Tourette-Syndrom und andere Tic-Störungen in Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter. Dtsch Arztebl Int 2012; 109 (48): 821-8; doi: 10.3238/arztebl.2012.0821