Tourette-Syndrom – Einleitung

Das Tourette-Syndrom (TS) ist eine Erkrankung des Nervensystems. Es wird den zentralnervösen Bewegungsstörungen zugeordnet und hier den extrapyramidalen Hyperkinesen (blitzartige Bewegungen). Ursächlich ist eine Fehlfunktion bestimmter Anteile der Basalganglien (Nuclei basales; Kerngebiet im Gehirn). Charakteristisch für das Syndrom sind unwillkürliche Bewegungen, sogenannte Tics (franz.), was übersetzt "nervöses Zucken" heißt, kombiniert mit Tic-artigen laut- oder sprachlichen Äußerungen.

Benannt wurde die Erkrankung nach dem französischen Neurologen und Psychiater Georges Gilles de la Tourette, der sie im Jahre 1884/85 erstmals beschrieb.

Synonyme und ICD-10: Gilles-de-la-Tourette-Syndrom;  Gilles-Krankheit; Tourette-Krankheit; ICD-10-GM F95.2: Kombinierte vokale und multiple motorische Tics [Tourette-Syndrom]

Formen der Erkrankung

Folgende Charakteristika definieren das Tourette-Syndrom:

  • Multiple motorische Tics und mindestens ein vokaler (lautlicher) Tic
  • Beginn der Erkrankung vor dem 18. Lebensjahr
  • Dauer der Erkrankung länger als ein Jahr
  • Fluktuationen (Schwanken/Wechsel) der Tics im Verlauf der Erkrankung hinsichtlich Anzahl, Intensität, Frequenz, Komplexität
  • Ausschluss anderer Erkrankungen (siehe "Differentialdiagnosen")

Differentialdiagnosen

  • Andere Tic-Störungen (andere Formen von unwillkürlichen Bewegungen oder Lautäußerungen)
  • Zwangsstörungen (zwanghafte Gedanken oder Handlungen)
  • Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) (Störung mit Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität)
  • Chorea Huntington (erblich bedingte Erkrankung mit unwillkürlichen Bewegungen)
  • Epilepsie (Krankheit mit wiederholten Krampfanfällen)
  • Autismus-Spektrum-Störungen (Entwicklungsstörungen mit Beeinträchtigungen in sozialer Interaktion und Kommunikation)
  • Epidemiologie

Geschlechterverhältnis: Jungen zu Mädchen beträgt 3 : 1.

Häufigkeitsgipfel: Die Tics treten im Grundschulalter auf, zwischen 6 und 8 Jahren, und sind bis zum 12. Lebensjahr voll ausgeprägt.

Prävalenz (Krankheitshäufigkeit): In der Altersgruppe der 5- bis 18-Jährigen liegt die Prävalenz bei 1 % (weltweit) [1, 2].

Inzidenz (Häufigkeit von Neuerkrankungen): Daten zur Inzidenz sind begrenzt und variieren je nach Studienlage und Region.

Verlauf und Prognose

Verlauf

  • Symptome variieren stark zwischen Patienten.
  • Tics können sich in der Pubertät verstärken.
  • Häufiger Rückgang der Tics ab dem 16. Lebensjahr.
  • Fluktuation des Erscheinungsbilds im Verlauf.
  • Verstärkung der Tics durch äußere Einflüsse wie Stress, Erregung oder Müdigkeit.

Prognose

  • Therapiegrundlage ist die Psychoedukation (umfassende Aufklärung von Betroffenen und Angehörigen).
  • Medikamentöse Therapie nur bei schweren Tics empfohlen.
  • In den meisten Fällen sind die Tics leicht ausgeprägt und erfordern keine pharmakologische Behandlung.
  • Problematisch sind oft die Reaktionen der Mitmenschen auf die Tics.
  • Behandlung der Komorbiditäten im Vordergrund.
  • Keine Heilung möglich.
  • Lebenserwartung durch das Tourette-Syndrom nicht eingeschränkt.

Komorbiditäten

Das Tourette-Syndrom ist in 80-90 % der Fälle mit folgenden Krankheiten vergesellschaftet [7]:

  • ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) [5]: Bei Kindern findet sich vor allem die Komorbidität ADHS (50-90 %) [3, 5, 7], vor allem bei Jungen [8, 9].
  • Angststörungen [5]
  • Autoaggression [5]
  • Depressionen [5]
  • Zwangsstörungen [4, 5]
  • Weitere Begleiterkrankungen im Kindesalter sind Ängste und Zwänge, letzteres vor allem bei Mädchen [8, 9], emotionale Dysregulation, Störungen der Impulskontrolle, Störungen des Sozialverhaltens und Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) wie Asperger-Syndrom oder hochfunktionaler Autismus [5].

Literatur

  1. Scharf JM, Miller LL, Gauvin CA, Alabiso J, Mathews CA, Ben-Shlomo Y. Population prevalence of Tourette syndrome: a systematic review and meta-analysis. Mov Disord. 2015 Feb; 30 (2): 221-8. doi: 10.1002/mds.26089. Epub 2014 Dec 8
  2. Scharf JM, Miller LL, Mathews CA, Ben-Shlomo Y. Prevalence of Tourette syndrome and chronic tics in the population-based Avon longitudinal study of parents and children cohort. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry. 2012 Feb; 51 (2): 192-201.e5. doi: 10.1016/j.jaac.2011.11.004. Epub 2011 Dec 23
  3. El Malhany N, Gulisano M, Rizzo R, Curatolo P. Tourette syndrome and comorbid ADHD: causes and consequences. Eur J Pediatr. 2015 Mar; 174 (3): 279-88. doi: 10.1007/s00431-014-2417-0. Epub 2014 Sep 17
  4. Neri V, Cardona F. Clinical pharmacology of comorbid obsessive-compulsive disorder in Tourette syndrome. Int Rev Neurobiol. 2013;112:391-414. doi: 10.1016/B978-0-12-411546-0.00013-5
  5. Ludolph AG, Roessner V, Münchau A, Müller-Vahl K: Tourette-Syndrom und andere Tic-Störungen in Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter. Dtsch Arztebl Int 2012; 109 (48): 821-8; doi: 10.3238/arztebl.2012.0821
  6. Freeman RD, Fast DK, Burd L, Kerbeshian J, Robertson MM, Sandor P: An international perspective on Tourette syndrome: selected findings from 3,500 individuals in 22 countries. Dev Med Child Neurol 2000; 42: 436-47
  7. Khalifa N, von Knorring AL: Psychopathology in a Swedish population of school children with tic disorders. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry 2006; 45: 1346-53
  8. Robertson MM: The Gilles de la Tourette syndrome: the current status. Arch Dis Child Educ Pract Ed. 2012 Oct;97(5):166-75. doi: 10.1136/archdischild-2011-300585. Epub 2012 Mar 22
  9. Jankovic J: Tourette's Syndrome. October 18, 2001, N Engl J Med 2001; 345:1184-1192 doi: 10.1056/NEJMra010032

Leitlinien

  1. S1-Leitlinie: Extrapyramidalmotorische Störungen – Tics. Deutsche Gesellschaft für Neurologie, September 2012
  2. Roessner V, Eichele H, Stern JS et al.: European clinical guidelines for Tourette syndrome and other tic disorders—version 2.0. Part III: pharmacological treatment. Eur Child Adolesc Psychiatry 2021. https://doi.org/10.1007/s00787-021-01899-z