Störungen der Vestibularfunktion – Einleitung
Eine Störung der Vestibularfunktion bzw. des vestibulären Systems betrifft im Wesentlichen die Gleichgewichtskontrolle.
Synonyme und ICD-10: ICD-10-GM H81.-: Störungen der Vestibularfunktion
Anatomie und Funktion
Das Vestibularorgan, ein Bestandteil des Innenohrs, ist wesentlich für die Wahrnehmung von Beschleunigungen und die Bestimmung der Richtung der Erdanziehungskraft. Es besteht aus drei Bogengängen und den beiden Maculaorganen (Sacculus und Utriculus). Diese Strukturen erfassen sowohl Drehbewegungen als auch die translatorische Beschleunigung des Körpers im Raum.
- Bogengänge: Die drei Bogengänge (horizontaler, vorderer und hinterer) sind mit Endolymphe gefüllt und enthalten Haarzellen, die auf Drehbewegungen reagieren.
- Maculaorgane: Sacculus und Utriculus sind für die Erfassung der linearen Beschleunigung und der Schwerkraft zuständig. Sie enthalten Haarzellen, die auf Veränderungen der Kopfposition und Bewegung reagieren.
Die gewonnenen Sinnesinformationen werden über den VIII. Hirnnerven (Nervus vestibulocochlearis) zu den Vestibulariskernen im Hirnstamm geleitet, wo sie verarbeitet und integriert werden, um das Gleichgewicht und die räumliche Orientierung zu steuern. Diese Informationen sind auch für die Koordination von Augenbewegungen und die Anpassung der Körperhaltung wichtig.
Zusatzinformationen:
- Vestibulariskerne: Diese befinden sich im Hirnstamm und sind entscheidend für die Verarbeitung und Integration der Informationen aus dem Vestibularorgan. Sie leiten Signale an verschiedene Bereiche des Gehirns und Rückenmarks weiter, um motorische Reaktionen und das Gleichgewicht zu steuern.
- Verbindung zu anderen Systemen: Das vestibuläre System arbeitet eng mit dem visuellen und propriozeptiven System zusammen, um eine präzise Wahrnehmung der Körperposition und Bewegung im Raum zu gewährleisten.
Formen der Störungen der Vestibularfunktion
Nach dem ICD-10-GM werden die folgenden Formen der Störungen der Vestibularfunktion unterschieden:
- Ménière-Krankheit (ICD-10-GM H81.0) – Erkrankung des Innenohrs, die mit Drehschwindel und Hypakusis (Hörminderung) einhergeht; Häufigkeit: 10,1 %
- Vestibuläre Migräne / Basilarismigräne (ICD-10-GM G43.1) – Schwindel ist dabei Teilsymptom der Migräne; 11,4 %), M. Menière (10,1 %) Spontane, wiederholte Schwindelattacken
- Benigner (gutartiger) paroxysmaler (anfallsartig auftretend) Schwindel (ICD-10-GM H81.1) bzw. benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel (BPLS; Synonyme: Cupulolithiasis; Canalolithiasis und (verkürzt) gutartiger Lagerungsschwindel (nicht zu verwechseln mit Lageschwindel); benigne paroxysmale positionale Vertigo (BPPV); benigner peripherer paroxysmaler Lagerungsschwindel (BPPV)) – ist eine harmlose, wenn auch äußerst unangenehme, sehr häufige Form des Schwindels; Häufigkeit: 17,1 %
- Neuritis vestibularis (Synonym: Neuropathia vestibularis) (ICD-10-GM H81.2) – eine akute oder chronische Funktionsstörung des Gleichgewichtsorgans im Innenohr; Häufigkeit: 8,3 %
- Bilaterale Vestibulopathie (BV) – vestibuläre Erkrankung, die durch einen kompletten Ausfall oder ein inkomplettes Defizit beider Labyrinthe und/oder der Vestibularisnerven charakterisiert ist; Häufigkeit: 7,1 %
- Vestibularisparoxysmie – neurovaskuläres Kompressionssyndrom des achten Hirnnerven; die Schwindelattacken dauern in der Regel nur Sekunden bis wenige Minuten an; dabei können sowohl ein Drehschwindel als auch ein Schwankschwindel auftreten; Häufigkeit: 3,7 %
- Sonstiger peripherer Schwindel (ICD-10-GM H81.3) – Störung des sogenannten Labyrinths (das im Innenohr lokalisierte Gleichgewichtsorgan); diese wird als unangenehmes Bewegungsempfinden (Bewegungsillusion) wahrgenommen
- Schwindel zentralen Ursprungs/zentraler Schwindel (ICD-10-GM H81.4) ‒ Schwindel, der durch Störungen des zentralen Nervensystems bedingt ist:
- Hirnstammläsionen
- Morbus Parkinson (Schüttelkrankheit; Schüttellähmung)
- Multiple Sklerose (MS)
- Zerebrovaskulär ‒ durch Störungen der Durchblutung des zentralen Nervensystems
- Zerebelläre Läsionen ‒ Schädigungen des Kleinhirns
- Sonstige Störungen der Vestibularfunktion (ICD-10-GM H81.8)
- Störungen der Vestibularfunktion, nicht näher bezeichnet (ICD-10-GM H81.9)
Arten des Schwindels
Man kann die folgenden Arten des Schwindels unterscheiden:
- Systematischer Schwindel (gerichteter Schwindel)
- Dauerschwindel
- Drehschwindel
- Höhenschwindel
- Lagerungsschwindel
- Lageschwindel
- Liftschwindel
- Schwankschwindel (z. B. phobischer Schwankschwindel, Häufigkeit: 15 %)
- Unsystematischer Schwindel (ungerichteter Schwindel, diffuser Schwindel)
Schwindelanfälle sind nach Kopfschmerzen das zweithäufigste Leitsymptom, nicht nur in der Neurologie.
Epidemiologie
Geschlechterverhältnis
- Benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel: Männer zu Frauen 1 : 2.
- Morbus Menière: Männer sind häufiger betroffen als Frauen. Allerdings ist die Studienlage in vielen Fällen widersprüchlich.
Häufigkeitsgipfel
- Schwindel im Allgemeinen: Tritt gehäuft mit zunehmendem Alter auf, insbesondere in der Gruppe der über 80-Jährigen.
- Benigner peripherer paroxysmaler Lagerungsschwindel (BPPV): Kann von der Kindheit bis ins hohe Alter auftreten.
- Neuritis vestibularis: Tritt vorwiegend zwischen dem 30. und 60. Lebensjahr auf.
- Morbus Menière: Tritt vorwiegend zwischen dem 40. und 60. Lebensjahr auf.
- Nicht-kardialer Schwindel: Tritt vorwiegend bei Personen über 65 Jahren auf.
Prävalenz und Inzidenz von Schwindelerkrankungen
Prävalenz (Krankheitshäufigkeit)
- Allgemeiner Schwindel: Betrifft etwa ein Viertel der Bevölkerung in Deutschland. Diese Rate kann im Alter auf bis zu 40 % ansteigen.
- Lebenszeitprävalenz von mittelschwerem und schwerem Schwindel: Liegt bei bis zu 30 %. Über 65-Jährige erleben in ca. 30 % der Fälle mindestens einmal pro Monat Schwindel.
- Benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel (BPLS): Die Prävalenz beträgt etwa 10 % bei Personen über 80 Jahren.
- Dreh- und Schwankschwindel: Lebenszeitprävalenz liegt bei ca. 30 %.
- Morbus Menière: Lebenszeitprävalenz beträgt etwa 0,5 %.
- Vestibuläre Migräne: Lebenszeitprävalenz wird auf 1 % geschätzt, die Einjahresprävalenz auf 0,9 %.
- Nicht-kardialer Schwindel: Prävalenz liegt bei 20 % bei Personen über 65 Jahren.
Inzidenz (Häufigkeit von Neuerkrankungen)
- Benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel (BPLS): Etwa 64 Neuerkrankungen pro 100.000 Einwohner pro Jahr (in den USA).
- Neuritis vestibularis: Etwa 3,5 Neuerkrankungen pro 100.000 Einwohner pro Jahr (in Deutschland).
- Morbus Menière: Etwa 1 Neuerkrankung pro 1.000 Einwohner pro Jahr (in den Industrieländern).
Verlauf und Prognose
Verlauf
Störungen der Vestibularfunktion betreffen das Gleichgewichtsorgan im Innenohr und können sich in verschiedenen Formen äußern. Zu den häufigsten gehören:
Ménière-Krankheit
- Symptome: Drehschwindel, Hypakusis (Hörminderung), Tinnitus und Druckgefühl im Ohr.
- Verlauf: Schubweise auftretend mit symptomfreien Intervallen. Die Schwindelattacken können mehrere Stunden dauern. Im Verlauf kann es zu einer zunehmenden Verschlechterung des Gehörs kommen.
Vestibuläre Migräne
- Symptome: Schwindelattacken, die oft mit Migränekopfschmerzen einhergehen. Übelkeit, Erbrechen und Lichtempfindlichkeit sind häufig.
- Verlauf: Schwindelattacken können von wenigen Minuten bis zu mehreren Stunden andauern. Die Häufigkeit und Intensität der Attacken können variieren.
Benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel
- Symptome: Plötzlich auftretender Drehschwindel bei Kopfbewegungen, besonders beim Hinlegen, Aufstehen oder Umdrehen im Bett.
- Verlauf: Die Attacken sind kurz (Sekunden bis Minuten) und können über Wochen bis Monate wiederkehren. Die Prognose ist gut, oft erfolgt eine spontane Besserung oder eine effektive Behandlung durch Lagerungsmanöver.
Neuritis vestibularis
- Symptome: Akut einsetzender Drehschwindel, Übelkeit, Erbrechen und Gangunsicherheit.
- Verlauf: Die Symptome sind in den ersten Tagen am schlimmsten und bessern sich meist innerhalb von Wochen bis Monaten. Eine vollständige Genesung ist häufig, es können jedoch Restsymptome bleiben.
Bilaterale Vestibulopathie
- Symptome: Unsicherheit beim Gehen, besonders im Dunkeln oder auf unebenem Boden, und ein Schwankschwindel.
- Verlauf: Die Symptome sind oft chronisch und können die Lebensqualität stark beeinträchtigen. Eine vollständige Genesung ist selten, aber eine Anpassung der Lebensgewohnheiten und physiotherapeutische Maßnahmen können helfen.
Vestibularisparoxysmie
- Symptome: Kurzzeitige Schwindelattacken (Sekunden bis Minuten), oft ausgelöst durch Kopfbewegungen.
- Verlauf: Die Prognose ist variabel; die Häufigkeit und Intensität der Attacken können über die Zeit schwanken.
Prognose
Die Prognose von Störungen der Vestibularfunktion hängt stark von der zugrunde liegenden Ursache ab:
- Ménière-Krankheit: Die Prognose ist variabel. Bei vielen Patienten verbessern sich die Schwindelanfälle mit der Zeit, aber die Hörminderung kann fortschreiten.
- Vestibuläre Migräne: Mit der richtigen Behandlung der Migräne können auch die Schwindelsymptome reduziert werden. Die Prognose ist generell gut.
- Benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel: Die Prognose ist sehr gut. Die meisten Patienten erfahren eine vollständige Erholung nach Lagerungsmanövern.
- Neuritis vestibularis: Die meisten Patienten erholen sich vollständig, aber es können Restbeschwerden wie eine leichte Unsicherheit bestehen bleiben.
- Bilaterale Vestibulopathie: Die Prognose ist meistens schlecht, da die Symptome chronisch sind. Eine Anpassung des Lebensstils und regelmäßige Physiotherapie können die Lebensqualität verbessern.
- Vestibularisparoxysmie: Die Prognose ist variabel, aber die Symptome können oft mit Medikamenten oder durch Vermeidung auslösender Faktoren kontrolliert werden.
Literatur
- Neuhauser HK, Radtke A, von Brevern M et al.: Migrainous vertigo: prevalence and impact on quality of life. Neurology 2006;67:1028-33 doi: https://doi.org/10.1212/01.wnl.0000237539.09942.06 FULL PDF