Sprechstörungen/Sprachstörungen – Ursachen

Sprechstörungen

Pathogenese (Krankheitsentstehung) der Sprechstörungen

Sprechstörungen betreffen die Artikulation der Sprache und führen zu einer beeinträchtigten Sprachproduktion. Sie werden in Störungen des Redeflusses und Störungen der Sprechmotorik unterteilt.

Störungen des Redeflusses

Diese Störungen betreffen die Flüssigkeit der Sprache und können verschiedene Ursachen haben:

  • Logophobie: Die Sprechangst ist oft psychologisch bedingt und tritt bei Menschen auf, die Angst vor dem Sprechen haben, insbesondere in sozialen Situationen. Diese Angst kann zu Vermeidungsverhalten und Blockaden führen.
  • Mutismus (F94.0): Der selektive Mutismus ist eine Stummheit, obwohl die Sprechorgane intakt sind. Häufig tritt er im Rahmen von Depression, Demenz oder Stupor auf. In solchen Fällen blockieren psychische oder neurologische Faktoren die Fähigkeit, die Sprachmotorik zu aktivieren.
  • Poltern (F98.6): Diese Störung äußert sich durch überhastetes und undeutliches Reden. Es wird vermutet, dass eine fehlende Kontrolle der Sprachgeschwindigkeit und mangelnde motorische Koordination der Artikulationsorgane zugrunde liegt.
  • Stottern (F98.5): Das Stottern ist gekennzeichnet durch Wiederholungen, Blockaden und Verlängerungen von Lauten. Hier spielen neurologische und psychosoziale Faktoren eine Rolle. Es wird angenommen, dass Störungen in der Planung und Koordination der Sprechmotorik sowie eine erhöhte emotionale Reaktion auf das Sprechen zur Entstehung des Stotterns beitragen.

Störungen der Sprechmotorik

Diese Störungen betreffen die Koordination der Muskeln, die für das Sprechen zuständig sind:

  • Dysarthrie (R47.1): Diese erworbene Sprechstörung ist auf eine Störung der Sprechmotorik zurückzuführen. Ursachen können neurologische Erkrankungen wie Schlaganfall, Multiple Sklerose oder Parkinson sein. Sie führen zu einer Schwäche, Lähmung oder mangelnden Koordination der Sprechmuskulatur, was eine undeutliche und verwaschene Sprache zur Folge hat.
  • Dysglossie: Diese Störung entsteht durch Anomalien der Artikulationsorgane, wie der Zunge oder des Gaumens. Strukturelle Veränderungen, beispielsweise durch Fehlbildungen oder Operationen, können die Fähigkeit, Laute korrekt zu bilden, beeinträchtigen.
  • Dyslalie (Stammeln): Hierbei handelt es sich um eine Fehlbildung einzelner Laute, die durch eine mangelhafte motorische Steuerung der Artikulationsorgane bedingt ist. Es kann sowohl organische Ursachen (wie eine Gaumenspalte) als auch funktionelle Ursachen (mangelnde motorische Kontrolle) geben.

Zusammenfassung

Die Pathogenese der Sprechstörungen umfasst eine Vielzahl von psychologischen, neurologischen und strukturellen Faktoren, die den Redefluss oder die Sprechmotorik beeinträchtigen. Während Störungen des Redeflusses durch eine fehlerhafte Koordination oder emotionale Barrieren gekennzeichnet sind, entstehen Störungen der Sprechmotorik durch eine Schwäche oder Fehlfunktion der Artikulationsmuskulatur.

Ätiologie (Ursachen) der Sprechstörungen

Krankheitsbedingte Ursachen von Dysarthrien

Psyche – Nervensystem (F00-F99; G00-G99)

  • Degenerative Basalganglienerkrankungen (Chorea Huntington, Parkinson-Syndrome)
  • Motoneuronerkrankungen – Gruppe von Erkrankungen, die die Motoneurone betreffen. Motoneurone sind Nervenzellen des zentralen Nervensystems, die mit ihrem Axon eine direkte oder indirekte Kontrolle über einen Muskel ausüben.
  • Multiple Sklerose (MS)
  • Myasthenia gravis (MG; Synonyme: Myasthenia gravis pseudoparalytica; MG); seltene neurologische Autoimmunerkrankung, bei der spezifische Antikörper gegen die Acetylcholinrezeptoren vorliegen, mit charakteristischen Symptomen wie einer abnormen belastungsabhängigen und schmerzlosen Muskelschwäche, einer Asymmetrie, neben der örtlichen auch einer zeitlichen Wechselhaftigkeit (Fluktuation) im Verlauf von Stunden, Tagen bzw. Wochen, einer Besserung nach Erholungs- bzw. Ruhephasen; klinisch differenzieren lässt sich eine rein okuläre ("das Auge betreffend"), eine faziopharyngeal (Gesicht (Facies) und Rachen (Pharynx) betreffend) betonte und eine generalisierte Myasthenie; ca. 10 % der Fälle zeigen bereits eine Manifestation im Kindesalter.
  • Primäre Dystonien – Erkrankungen, deren einziges Symptom die Dystonie (Störungen der Haltungs- und Bewegungskontrolle) ist (keine Grunderkrankung)
  • Progressive supranukleäre Blickparese (PSP; Synonym: Steele-Richardson-Olszewski-Syndrom (SRO)) – neurodegenerative Erkrankung unbekannter Genese, die mit einer progredienten Zelldestruktion im Bereich der Basalganglien einhergeht; Leitsymptom: progredient fortschreitende Parese (Lähmung) der Augenmuskeln, die mit einem parkinsonähnlichen Symptombild assoziiert ist.
  • Spinozerebelläre Ataxien (SCA) – Gruppe klinisch gleichartiger neurodegenerativer Erkrankungen; Symptomatik: abhängig vom Herd der Degeneration
  • Zerebrovaskuläre Erkrankungen (ischämische Infarkte und Blutungen der Hirngefäße)

Verletzungen, Vergiftungen und bestimmte andere Folgen äußerer Ursachen (S00-T98)

  • Schädel-Hirn-Traumata (SHT)

Sprachstörungen

Sprachstörungen, insbesondere Aphasien, entstehen in den meisten Fällen durch zerebrovaskuläre Erkrankungen wie einen Schlaganfall (Apoplex), der zu Schädigungen in den sprachrelevanten Hirnarealen führt. Etwa 80 % der Aphasien sind vaskulär bedingt und treten infolge von Durchblutungsstörungen im Gehirn auf. Die Schädigungen betreffen vor allem die linke Hemisphäre (Gehirnhälfte), in der sich die Sprachzentren befinden.

Globale Aphasie

Die globale Aphasie ist die schwerste Form der Aphasie und betrifft alle sprachlichen Modalitäten wie Sprachproduktion, Sprachverständnis, Lesen und Schreiben. Sie tritt oft nach großen ischämischen Schlaganfällen im Bereich der Arteria cerebri media auf, die sowohl das Broca- als auch das Wernicke-Areal betrifft.

  • Leitsymptome: Patienten zeigen Sprachautomatismen, verwenden Stereotypien und können nur sehr eingeschränkt spontan sprechen. Auch das Nachsprechen, das Sprachverständnis und die Wortfindung sind stark beeinträchtigt.

Broca-Aphasie

Die Broca-Aphasie entsteht durch eine Läsion im Broca-Areal (linker Frontallappen). Hierbei handelt es sich um eine Störung der Sprachproduktion. Patienten sprechen stockend, oft in unvollständigen Sätzen, und zeigen Schwierigkeiten in der Lautbildung.

  • Leitsymptome: Ein Agrammatismus (Verwendung von Sätzen ohne grammatikalische Struktur) und oft auch eine Sprechapraxie (Störung der Initiierung und Ausführung der für das Sprechen notwendigen Bewegungen) sind typisch. Sowohl die Spontansprache als auch das Nachsprechen sind gestört.

Wernicke-Aphasie

Die Wernicke-Aphasie (sensorische Aphasie) ist durch eine Läsion im Wernicke-Areal (linker Temporallappen) bedingt. Diese Form der Aphasie betrifft das Sprachverständnis und die Sprachverarbeitung.

  • Leitsymptome: Typisch sind Paragrammatismus (grammatikalisch falsche Sätze) und Paraphasien (Ersatz von Wörtern durch falsche Wörter). Die Patienten sprechen meist flüssig, jedoch sind ihre Äußerungen oft inhaltsleer und überschießend. Das Sprachverständnis ist stark beeinträchtigt, und das Nachsprechen zeigt häufig paraphrasische Fehler.

Anamnestische Aphasie (anatomische Aphasie)

Diese Form der Aphasie wird oft durch Läsionen im temporoparietalen Bereich hervorgerufen. Sie ist durch Wortfindungsstörungen charakterisiert.

  • Leitsymptome: Betroffene verwenden häufig inhaltlich arme Redefloskeln und zeigen Schwierigkeiten, die richtigen Wörter zu finden. Nachsprechen und Sprachverständnis sind in der Regel nur leicht beeinträchtigt.

Zusammenfassung

Die Pathogenese der Sprachstörungen, insbesondere der Aphasien, ist in den meisten Fällen auf zerebrovaskuläre Ereignisse wie einen Schlaganfall zurückzuführen, der zu Läsionen in den sprachrelevanten Hirnarealen führt. Die Art der Aphasie hängt von der Lokalisation der Hirnschädigung ab, wobei spezifische Läsionen im Broca- oder Wernicke-Areal zu charakteristischen Störungen der Sprachproduktion bzw. des Sprachverständnisses führen.

Ätiologie (Ursachen) der Sprachstörungen

Krankheitsbedingte Ursachen

Herzkreislaufsystem (I00-I99)

  • Apoplex (Schlaganfall) und andere zerebrovaskuläre Erkrankungen

Neubildungen – Tumorerkrankungen (C00-D48)

  • Hirntumoren, nicht näher bezeichnet

Ohren – Warzenfortsatz (H60-H95)

  • Gehörleiden, nicht näher bezeichnet

Psyche – Nervensystem (F00-F99; G00-G99)

  • Angststörungen
  • Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen (AVWS)
  • Bindungsstörungen
  • Demenz, nicht näher bezeichnet
  • Enzephalitis (Gehirnentzündung)
  • Entzündliche Hirnerkrankungen, nicht näher bezeichnet
  • Epilepsie (Krampfleiden)
  • Frontalhirnsyndrom ‒ nach Läsion der Stirnhirnbasis auftretende Persönlichkeitsveränderungen wie Distanzlosigkeit, Enthemmung etc.
  • Hyperkinetische Störungen ‒ bei Kindern vorkommende Periode mit erhöhter Unruhe, die mit einer Aufmerksamkeitsstörung einhergeht
  • Kindliche Aphasie (engl. acquired childhood aphasia) – bedingt durch eine akute Hirnschädigung, die mit einem teilweisen oder auch vollständigen Verlust der bis dahin erworbenen sprachlichen Fähigkeiten einhergeht
  • Kommunikationsstörungen bei Verwirrtheit
  • Landau-Kleffner-Syndrom ‒ Aphasie und Epilepsie im Kindesalter
  • Morbus Alzheimer
  • Multiinfarktdemenz ‒ Demenz aufgrund von Hirnschäden nach mehreren Schlaganfällen
  • Multiple Sklerose (MS)
  • Intelligenzminderung, nicht näher bezeichnet
  • Psychische Erkrankungen, nicht näher bezeichnet
  • Psychosen, nicht näher bezeichnet
  • Schizophrenie 
  • Selektiver Mutismus (Synonym: elektiver Mutismus; lat.: mutus „stumm“) – emotional bedingte psychische Störung, bei der die sprachliche Kommunikation stark beeinträchtigt ist; das Krankheitsbild ist gekennzeichnet durch selektives Sprechen mit bestimmten Personen oder in definierten Situationen Artikulation, Sprachverständnis und -ausdruck der Betroffenen liegen hingegen in der Regel im Normbereich, allenfalls sind sie leicht entwicklungsverzögert
  • Tiefgreifende Entwicklungsstörungen wie frühkindlicher Autismus – angeborene, unheilbare Wahrnehmungs- und Informationsverarbeitungsstörung des Gehirns
  • Umschriebene Entwicklungsstörungen der motorischen Funktionen wie z. B. Entwicklungsstörungen der Mundmotorik, phonetische Störungen

Symptome und abnorme klinische und Laborbefunde, die anderenorts nicht klassifiziert sind (R00-R99)

  • Erworbene Aphasie, nicht näher bezeichnet

Verletzungen, Vergiftungen und andere Folgen äußerer Ursachen (S00-T98)

  • Hypoxische Schädigung (Schädigung durch Mangelversorgung des Gewebes mit Sauerstoff) des Gehirns
  • Schädel-Hirn-Trauma (SHT)

Umweltbelastung – Intoxikationen (Vergiftungen)

  • Endokrine Disruptoren (Synonym: Xenohormone), die bereits in geringsten Mengen durch Veränderung des Hormonsystems die Gesundheit schädigen können – pränata­le Exposition (Aussetzung vor der Geburt) von endokrinen Disruptoren (u. a. Bisphenol A, Phthalate): 15 im Urin von Schwangeren nachgewiesene Substanzen waren mit einem erhöhten Risiko einer verzögerten sprachlichen Entwicklung in den ersten Lebensjahren verbunden [1]

Weitere Ursachen

  • Vernachlässigung ‒ bei Kindern mit Zeichen der Vernachlässigung kann es häufiger zu Sprachauffälligkeiten kommen

Sprachentwicklungsstörungen

Der mindestens 6‑monatige sprachliche Rückstand vor dem 36. Lebensmonat kennzeichnet die Sprachentwicklungsverzögerung.
Ab einem Alter von > 36 Monaten spricht man von einer Sprachentwicklungsstörung.

Beispiele für eine umschriebene Entwicklungsstörung des Sprechens und der Sprache (UESS):

  • Biographische Ursachen
    • Vorkommen von Sprachentwicklungsstörungen und Lese-Rechtschreibstörungen in der Familie
  • Nichterreichen typischer Meilen- und Grenzsteine (s. u. Anamnese)
  • Fehlen der Fähigkeiten in einzelnen Sprachbereichen (Lautbildung, Wortschatz, Grammatik und Pragmatik)
  • Fehlendes Kommunikationsinteresse des Kindes
  • Verhaltensauffälligkeiten

Literatur

  1. Caporale N et al.: From cohorts to molecules: Adverse impacts of endocrine disrupting mixtures 2022;375(6582) doi: 10.1126/science.abe8244