Spinale Muskelatrophie – Einleitung

Bei der 5q-spinalen Muskelatrophie (SMA) handelt es sich um eine genetisch bedingte autosomal-rezessive Muskelerkrankung, die sich je nach Schweregrad in utero bis zum 40. Lebensjahr manifestiert. Die Erkrankung wird durch einen progredienten Rückgang der motorischen Nervenzellen innerhalb des Vorderhorns des Rückenmarks charakterisiert, was zu einer Muskelatrophie führt.

Synonyme und ICD-10: proximale spinale Muskelatrophie; ICD-10-GM G12.-: Spinale Muskelatrophie und verwandte Syndrome

Charakteristische Laborbefunde

  • Genetische Tests zur Identifizierung von Mutationen im SMN1-Gen
  • Elektromyographie (EMG) zur Beurteilung der Muskelaktivität
  • Erhöhung der Serum-Kreatinkinase (CK) bei Muskelzerfall

Formen der SMA

Überblick über die verschiedenen SMA-Typen [2]

SMA-Typ/
OMIM

Subtyp Definition Klinische
Beschreibung
Prognose


0

  Intrauterin "in der Gebärmutter") bis spätestens zum 7. Lebenstag Arthrogryposis multiplex congenita*, Ateminsuffizienz (Atemschwäche)  direkt postnatal (nach der Geburt)

Sammelbegriff für multiple angeborene Gelenkkontrakturen, die unterschiedlich stark zu Einschränkungen an den Extremitäten und der Wirbelsäule führen

Versterben meist vor dem 6. Lebensmonat aufgrund einer Ateminsuffizienz


1

Werdnig-Hoffmann; Akute infantile SMA

#253300  

1a Nach dem 7. bis zum 30. Lebenstag, eine Kopfkontrolle wird nicht erreicht. Ausgeprägte muskuläre Hypotonie (verminderter Muskelgrundtonus), proximal (der Körpermitte zu gelegen) betonte Muskelschwäche mit Betonung in den unteren Extremitäten, die Gesichtsmuskulatur ist weitgehend ausgespart.
Zungenfaszikulationen (feine Zuckungen der Zungenmuskulatur), Tremor (Zittern) und respiratorische Insuffizienz (Unfähigkeit der Lunge, ausreichend Sauerstoff aus der Umgebungsluft in das Blut aufzunehmen) mit paradoxer Atmung (Atmung, bei der eine zur physiologischen Atembewegung umgekehrte Bewegung von Thorax und Abdomen auftritt).  
Tod in mehr als 90 % der Fälle innerhalb der ersten zwei Jahre
1b Nach der Neonatalzeit/Neugeborenenzeit (> 30. Lebenstag) bis zum 6. Lebensmonat, eine Kopfkontrolle wird nicht erreicht.  
1c Nach der Neonatalzeit, eine Kopfkontrolle wird erreicht, einige Kinder können mit Unterstützung sitzen.  


2

Chronisch infantile SMA; intermediäre SMA

#253550

  Erkrankungsbeginn nach dem 6. Lebensmonat bis zum 15. Lebensmonat Das freie Sitzen wird erlernt, Gehen ohne Hilfe ist nicht möglich. Verzögerte motorische Entwicklung, schlechtes Gedeihen, feinschlägiger Handtremor, schwacher Hustenstoß, im Verlauf Gelenkkontrakturen und Skoliose. Die Überlebensrate liegt zehn Jahre nach Erkrankungsbeginn bei über 90 %.


3

Kugelberg-Welander; juvenile SMA

#253400 

3a Beginn < 3 Jahre, die Lebenserwartung ist nicht wesentlich eingeschränkt. Der Verlauf ist milder und sehr variabel, ca. 50 % verlieren im Verlauf die Gehfähigkeit. Lebenserwartung nicht deutlich reduziert
3b Beginn >3 Jahre, die Lebenserwartung ist nicht wesentlich eingeschränkt. Lebenserwartung nicht deutlich reduziert


4

Adulte SMA

#271150

  Manifestiert sich erst im Erwachsenenalter (> 30 Lebensjahr). Die klinische Symptomatik ist überwiegend wie bereits im SMA Typ 3b beschrieben. Keine Einschränkung der Lebenserwartung

Zusätzliche Formen

  • Non-Sitter: Freies Sitzen wurde nicht erlernt oder wieder verloren.
  • Sitter: Freies Sitzen für ≥ 10 Sekunden (aufrecht ohne Verwendung der Arme zur Unterstützung oder Ballons, Patienten können indiziert Position gebracht werden).
  • Walker: Freies gehen ≥ 10 m (aufrecht mit gerader Wirbelsäule ohne Kontakt mit einem Objekt oder einer Person)

Epidemiologie

Geschlechterverhältnis: Bei Knaben etwas häufiger als bei Mädchen.

Häufigkeitsgipfel: Variiert je nach Typ.

Prävalenz (Krankheitshäufigkeit): 1:80.000; Jahresinzidenz 1:10.000.

  • SMA Typ 1: 1-9/100.000
  • SMA Typ 3: 1-9/100.000
  • In Deutschland: 1 von 7.000 Neugeborenen betroffen (Mutation im SMN1-Gen); Anlageträgerfrequenz 1:40.

Inzidenz (Häufigkeit von Neuerkrankungen): Ca. 13 Erkrankungen pro 100.000 Einwohner pro Jahr.

Verlauf und Prognose

s. o. Tabelle

Letalität: s. o. Tabelle

Komorbiditäten

Orthopädische Komplikationen durch Knochen- und Gelenkprobleme (Typ 1, 2), Muskelschwäche (Typ 1, 2), Gelenkkontrakturen/Gelenksteife (Typ 1, 2), Ankylose (Gelenkversteifung) des Unterkiefers (Typ 1, 2, 3) sowie Skoliose/seitliche Verkrümmung der Wirbelsäule (Typ 3) [1]

Hinweis: Das Screening auf spinale Muskelatrophie (SMA) ist seit 2020 Bestandteil der Früherkennungsuntersuchungen bei Neugeborenen.

Literatur

  1. Kolb SJ et al.: Spinal Muscular Atrophy. Neurol Clin. 2015 Nov; 33 (4): 831-846. doi: 10.1016/j.ncl.2015.07.004
  2. Wang CH, Finkel RS, Bertini ES, Schroth M, Simonds A, Wong B et al.: Consensus statement for standard of care in spinal muscular atrophy. Journal of child neurology. 2007;22(8):1027-49.

Leitlinien

  1. S1-Leitlinie: Spinale Muskelatrophie (SMA), Diagnostik und Therapie. (AWMF-Registernummer: 022 - 030), Februar 2020 Langfassung