Schreiender Säugling – Einleitung
Unter exzessivem Schreien bei Säuglingen versteht man ein Schreiverhalten, bei dem das Baby mehr als drei Stunden pro Tag, an mehr als drei Tagen pro Woche und seit mehr als drei Wochen schreit [1]. Diese Definition hilft, zwischen "normalem" und "exzessivem" Schreien zu unterscheiden.
Thesaurus-Synonyme und ICD-10: andauerndes Schreien beim Säugling; Irritabilität beim Kleinkind; langdauerndes Schreien beim Säugling; schreiendes Kind; Schreikinder; übererregtes Kleinkind; übermäßiges Schreien beim Kleinkind; ungewöhnlich häufiges und starkes Schreien des Kleinkindes; ICD-10-GM R68.1: Unspezifische Symptome im Kleinkindalter
Ursachen
In den meisten Fällen bleibt die Ursache des exzessiven Schreiens unklar. Nur etwa 5-10 % der Babys vertragen keine Kuhmilchproteine (Kuhmilcheiweiß). Koliken sind selten der Grund für das Geschrei. Oft wird beobachtet, dass schreiende Babys einen geblähten Bauch haben, was jedoch eher eine Folge des Luftschluckens beim Schreien ist als die Ursache des Schreiens.
Man vermutet, dass exzessiv schreiende Babys sensibler auf Umweltreize reagieren und diese schlechter verarbeiten können. Dies wird als Regulationsstörung bezeichnet.
Normales Schreien hingegen lässt sich in der Regel durch Beseitigung der Ursache, wie eine volle Windel oder Hunger, beruhigen.
Das Schreien eines Säuglings kann Symptom vieler Erkrankungen sein (siehe unter “Differentialdiagnosen“).
Formen des exzessiven Schreiens
- Primäres exzessives Schreien: Ohne erkennbare organische Ursache.
- Sekundäres exzessives Schreien: Mit identifizierbarer Ursache wie Infektionen, gastrointestinale Beschwerden oder neurologische Erkrankungen.
Epidemiologie
Häufigkeitsgipfel: Exzessives Schreien tritt vorwiegend in den ersten drei Lebensmonaten auf.
Prävalenz (Krankheitshäufigkeit) für exzessives Schreien liegt bei 5-20 % (westliche Industrieländer).
Verlauf und Prognose
Verlauf
- Jeder Säugling folgt statistisch einer universell gültigen "Schreikurve". Nach der Geburt nimmt die Schreifrequenz allmählich zu, der Gipfel wird in der 6. bis 8. Lebenswoche erreicht. Danach nimmt die Schreifrequenz bis zum Ende des 3. Lebensmonats ab.
- Im Mittel schreit ein Säugling bis zum Ende des 3. Lebensmonats etwa 2,2 Stunden am Tag, mit großer Variabilität zwischen den Individuen [2].
- Im Extremfall können die Schreiattacken bis zum Ende des 5. Lebensmonats andauern.
Prognose
- Meistens bessert sich das Schreien nach dem 3. Lebensmonat.
- Anhaltendes Schreien über den 3. Lebensmonat hinaus ist mit einem erhöhten Risiko für psychische Auffälligkeiten in der Kindheit verbunden. Bei Kindern, die mit 13 Wochen noch durchgehend geschrien haben, zeigte sich eine Verdopplung der Häufigkeit von Verhaltensauffälligkeiten, Hyperaktivität und Depressivität im Alter von 5 bis 6 Jahren [4].
- Eltern von Kindern, die stark und ausdauernd schreien, fühlen sich oft überfordert und ausgelaugt. Eine frühzeitige ärztliche Konsultation und die Nutzung von "Schreiambulanzen" können hilfreich sein.
Komorbiditäten
Exzessives Schreien ist mit einem erhöhten Risiko für mütterliche postpartale Depressionen assoziiert. Diese Mütter nehmen die Unruhe ihres Kindes als besonders belastend wahr [3].
Literatur
- Wessel MA, Cobb JC, Jackson EB et al.: Paroxysmal fussing in infancy, sometimes called colic. Pediatrics 1954;14(5):421-435
- Brazelton TB: Crying in infancy. Pediatrics 1962 Apr;29:579-88.
- Radesky JS, Zuckerman B, Silverstein M et al.: Inconsolable infant crying and maternal postpartum depressive symptoms. Pediatrics 2013 Jun;131(6):e1857-64. doi: 10.1542/peds.2012-3316. Epub 2013 May 6.
- Smarius LJ, Strieder TG, Loomans EM et al.: Excessive infant crying doubles the risk of mood and behavioral problems at age 5: evidence for mediation by maternal characteristics. Eur Child Adolesc Psychiatry. 2017 Mar;26(3):293-302. doi: 10.1007/s00787-016-0888-4. Epub 2016 Jul 15.