Polyneuropathien – Ursachen

Pathogenese (Krankheitsentstehung)

Die Polyneuropathie (PNP) ist eine Erkrankung des peripheren Nervensystems, die durch eine Vielzahl von Ursachen ausgelöst werden kann. Die Pathogenese der PNP hängt stark von der jeweiligen Ursache ab und umfasst verschiedene Mechanismen, die die Nervenfasern, deren Axone oder die Schwann-Zellen, welche die Myelinscheide bilden, schädigen.

Primäre Schädigung der Nervenzellen

Einige Formen der Polyneuropathie resultieren aus einer primären Schädigung der Nervenzellen selbst, wie der Motoneuronen oder Spinalganglienneuronen. Dies ist besonders bei genetischen Neuropathien oder bei toxischen Einflüssen wie der Alkohol-assoziierten Polyneuropathie der Fall.

Bei der Alkohol-assoziierten Polyneuropathie spielen zwei Hauptmechanismen eine Rolle:

  • Mangelernährung: Der Alkoholmissbrauch führt oft zu einem Mangel an B-Vitaminen, insbesondere Vitamin B1 (Thiamin), was zur Degeneration der Nervenzellen beiträgt.
  • Toxische Einflüsse von Alkohol und seinen Abbauprodukten wie Acetaldehyd schädigen die Nervenzellen direkt und beeinträchtigen deren Regeneration.

Axonale und demyelinisierende Schädigung

Die meisten Formen der Polyneuropathie, wie die diabetische Polyneuropathie oder die Chemotherapie-induzierte Neuropathie (CIN), schädigen primär die Axone oder die Schwann-Zellen, die das Myelin produzieren.

  • Bei der Chemotherapie-induzierten Neuropathie greifen die Medikamente die Spinalganglien und die peripheren Nerven an. Dies führt zu einer Degeneration der sensorischen Nervenfasern, die sich klinisch durch sensible Ausfallsymptome wie Taubheit, Kribbeln und Schmerzen manifestiert.
  • In der diabetischen Polyneuropathie führt ein chronisch erhöhter Blutzuckerspiegel zu einer endothelialen Dysfunktion der kleinen Blutgefäße, die die Nerven versorgen (Mikroangiopathie). Zusätzlich schädigen toxische Stoffwechselprodukte (z. B. Sorbitol) und oxidativer Stress die Nervenfasern direkt.

Unterschied zwischen großkalibrigen und klein-kalibrigen Nervenfasern

Die meisten Polyneuropathien betreffen die großkalibrigen Nervenfasern, die für die motorische Funktion und das Berührungs- und Vibrationsgefühl verantwortlich sind. Eine spezielle Form der Neuropathie, die Small-Fiber-Neuropathie, betrifft hingegen nur die kleinkalibrigen Nervenfasern, die für Schmerz und Temperaturwahrnehmung zuständig sind. Diese Form ist besonders durch Brennen, Stechen oder Parästhesien charakterisiert und unterscheidet sich von der klassischen Polyneuropathie.

Entzündliche und immunvermittelte Neuropathien

Bei entzündlichen oder immunvermittelten Formen wie dem Guillain-Barré-Syndrom (GBS) greifen Autoantikörper die Myelinscheide oder Axone der peripheren Nerven an, was zu einer demyelinisierenden Neuropathie führt. Diese Erkrankungen gehen oft mit einer akuten Lähmung und einem rasch fortschreitenden Verlauf einher.

Zusammenfassung

Die Pathogenese der Polyneuropathie ist vielfältig und abhängig von der jeweiligen Ätiologie. Die Schädigung kann sowohl Nervenzellen, Axone als auch die Myelinscheide betreffen. Toxische Einflüsse, wie bei der Alkohol-assoziierten oder der Chemotherapie-induzierten Neuropathie, führen zu einer direkten Schädigung der Nervenzellen. Metabolische Faktoren, wie bei der diabetischen Polyneuropathie, greifen die Mikrogefäße und die Axone an, während immunvermittelte Neuropathien die Myelinscheide zerstören.

Ätiologie (Ursachen)

Biographische Ursachen

  • Genetische Erkrankungen
    • Hereditäre motorisch-sensible Neuropathie Typ I (HMSN I; vom Englischen "Hereditary Neuropathy with liability to Pressure Palsies" (HNPP); Synonyme: Morbus Charcot-Marie-Tooth (CMT), engl. Charcot-Marie-Tooth disease) – chronisch verlaufende Neuropathie, die autosomal-dominant vererbt wird und zu motorischen und sensiblen Ausfällen führt
    • Morbus Fabry (Synonyme: Fabry-Krankheit oder Fabry-Anderson-Krankheit) – X-chromosomal vererbte lysosomale Speicherkrankheit, die auf einem Defekt im Gen für das Enzym Alpha-Galaktosidase A beruht, die zu einer progredienten Akkumulation des Sphingolipids Globotriaosylceramid in den Zellen führt; mittleres Manifestationsalter: 3-10 Jahre; Frühsymptome: intermittierende Brennschmerzen, eine verminderte oder fehlende Schweißproduktion sowie gastrointestinale Probleme; unbehandelt kommt es im weiteren Verlauf zu einer zunehmenden Nephropathie (Nierenerkrankung) mit Proteinurie (erhöhte Ausscheidung von Eiweiß mit dem Urin) und fortschreitender Niereninsuffizienz (Nierenschwäche) sowie einer hypertrophen Kardiomyopathie (HCM; Erkrankung des Herzmuskels, der durch eine Verdickung der Herzmuskelwände gekennzeichnet ist).
    • Small Fiber Neuropathien (SFN) – Untergruppe der Neuropathien, in der in erster Linie die sogenannten "Small Fiber", also die kleinkalibrigen Nervenfasern, betroffen sind

Verhaltensbedingte Ursachen

  • Ernährung
    • Lebensmitteln mit Acrylamid (Gruppe-2A-Karzinogen) – entsteht beim Frittieren, Grillen und Backen; wird zur Herstellung von Polymeren und Farbstoffen verwendet; Acrylamid wird metabolisch zu Glycidamid aktiviert, einem genotoxischen ("erbgutschädigenden") Metaboliten
    • Mikronährstoffmangel (Vitalstoffe) – siehe Prävention mit Mikronährstoffen
  • Genussmittelkonsum 
    • Alkohol (= Alkohol-assoziierte Polyneuropathie) → sensible Symptome, wie beispielsweise Taubheitsgefühle, Stechen oder Gangunsicherheit; Prävalenz (Krankheitshäufigkeit) von 20-70 % unter chronischen Alkoholikern
    • Tabak (Rauchen); mäßig ausgeprägte Assoziation zwischen Rauchen und einer diabetischen peripheren Neuropathie (DPN) [1]
  • Drogenkonsum
    • Lachgas (durch chronischen Missbrauch mit der Partydroge Lachgas)
  • Schlechte Einstellung des Glucose-Serumspiegels (Blutzuckerwerte) (bei diabetischer Polyneuropathie)

Krankheitsbedingte Ursachen

Blut, blutbildende Organe – Immunsystem (D50-D90)

  • Perniziöse Anämie – Blutarmut aufgrund von Vitamin B12-Mangel
  • Porphyrie bzw. akute intermittierende Porphyrie (AIP); genetische Erkrankung mit autosomal-dominantem Erbgang; Patienten mit dieser Krankheit weisen eine Reduktion der Aktivität des Enzyms Porphobilinogen-Desaminase (PBG-D) von 50 Prozent auf, die für die Porphyrinsynthese ausreicht. Auslöser einer Porphyrieattacke, die einige Tage, aber auch Monate dauern kann, sind Infektionen, Medikamente oder Alkohol. Das klinische Bild dieser Anfälle präsentiert sich als akutes Abdomen oder als neurologische Ausfälle, die einen letalen Verlauf nehmen können. Die Leitsymptome der akuten Porphyrie sind intermittierende neurologische und psychiatrische Störungen. Im Vordergrund steht häufig eine autonome Neuropathie, die abdominelle Koliken (akutes Abdomen), Nausea (Übelkeit), Erbrechen oder Obstipation (Verstopfung) verursacht sowie eine Tachykardie (zu schneller Herzschlag: > 100 Schläge pro Minute) und ein labiler Hypertonus (Bluthochdruck).
  • Sarkoidose (Synonyme: Morbus Boeck; Morbus Schaumann-Besnier) – systemische Erkrankung des Bindegewebes mit Granulombildung

Endokrine, Ernährungs- und Stoffwechselkrankheiten (E00-E90)

  • Amyloidose – extrazelluläre ("außerhalb der Zelle") Ablagerungen von Amyloiden (abbauresistente Proteine), die u. a. zu einer Kardiomyopathie (Herzmuskelerkrankung), Neuropathie (Erkrankung des peripheren Nervensystems) und Hepatomegalie (Lebervergrößerung) führen können
  • Folsäure-Mangel
  • Hypothyreose (Schilddrüsenunterfunktion)
  • Vitamin B12-Mangel

Herzkreislaufsystem (I00-I99)

  • Vaskulitis (Gefäßentzündung) – Symptome: u. a. Hauteffloreszenzen

Infektiöse und parasitäre Krankheiten (A00-B99)

  • Borreliose – Infektionskrankheit, die durch Bakterien verursacht wird und durch Zecken auf den Menschen übertragen wird; Symptome: u. a. Erythema chronicum migrans
  • HIV-Infektion
  • Lepra – chronische tropische Infektionskrankheit durch das Bakterium Mycobacterium leprae; Symptome: u. a. Depigmentierungen

Muskel-Skelett-System und Bindegewebe (M00-M99) 

  • Granulomatose mit Polyangiitis (GPA) – ehemals Wegenersche Granulomatose genannt – nekrotisierende (Gewebe absterbende) Vaskulitis (Gefäßentzündung) der kleinen bis mittelgroßen Gefäße (Kleingefäßvaskulitiden), welche mit einer Granulombildung (Knötchenbildung) in den oberen Atemwegen (Nase, Nasennebenhöhlen, Mittelohr, Oropharynx) sowie den unteren Atemwegen (Lunge) einhergeht
  • Sjögren-Syndrom (SS; Gruppe der Sicca-Syndrome) (Synonyme: Sicca-Syndrom) – Autoimmunerkrankung aus der Gruppe der Kollagenosen, die zu einer chronisch-entzündlichen Erkrankung bzw. Zerstörung der exokrinen Drüsen führt, wobei die Speichel- und Tränendrüsen am häufigsten betroffen sind; es kann auch Lunge, Nieren und das Nervensystem betreffen

Neubildungen – Tumorerkrankungen (C00-D48)

  • Leukämie (Blutkrebs)
  • Lymphome – bösartige Vermehrung des lymphatischen Gewebes
  • Paraneoplastische Syndrome (z. B. Myelom, Leukämie) – verschiedenste Symptome, die durch einen bösartigen Tumor entstehen können
  • Plasmozytom – generalisierte Erkrankung mit übermäßiger Bildung von malignen Plasmazellen

Psyche – Nervensystem (F00-F99; G00-G99)

  • Alkoholabusus (Alkoholabhängigkeit)
  • Charcot-Marie-Tooth (CMT) – neuromuskuläre Erkrankung (erblich), die zur Degeneration der Muskeln führt
  • Chemotherapieinduzierte periphere Neuropathie (engl. Chemotherapy-induced peripheral neuropathy, CIPN)
  • Chronische Polyneuritis – entzündlich verursachte Erkrankung mehrerer Nerven
  • Critical illness neuropathy – Neuropathie (Erkrankung des peripheren Nervensystems), die im Rahmen der Therapie schwerstkranker Patienten auftreten kann.
  • Diabetische Neuropathie – Schädigung multipler Nerven (Polyneuropathie), die als Komplikation eines bestehenden Diabetes mellitus entsteht; ca. 50 % der Diabetiker entwickeln im Verlauf eine Polyneuropathie
  • Engpassneuropathie (periphere Nervenerkrankung) durch Nervenkompression
  • Guillain-Barré-Syndrom (GBS; Synonyme: Idiopathische Polyradikuloneuritis, Landry-Guillain-Barré-Strohl-Syndrom); zwei Verlaufsformen: akute inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie bzw. chronische inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie (Erkrankung des peripheren Nervensystems); idiopathische Polyneuritis (Erkrankungen mehrerer Nerven) der spinalen Nervenwurzeln und peripheren Nerven mit aufsteigenden Lähmungen und Schmerzen; tritt meist nach Infektionen auf
  • Neuroborreliose – durch Borreliose bedingte Krankheitserscheinungen des Nervensystems
  • Neuropathie (Erkrankung des peripheren Nervensystems) mit distal-symmetrischen Verteilungstyp:
    • toxische Polyneuropathie durch Alkohol oder Medikamente
    • Mangel-Neuropathie infolge von Vitamin-B-Mangel oder Malabsorption

Symptome und abnorme klinische und Laborbefunde, die anderenorts nicht klassifiziert sind (R00-R99)

  • Urämie (Auftreten harnpflichtiger Substanzen im Blut oberhalb der Normwerte)

Medikamente  toxische Polyneuropathie

  • Antiinfektiva – Chinolone/Fluorchinolone/Gyrasehemmer (Ciprofloxacin, Moxifloxacin, Nalidixinsäure, Norfloxacin, Lomefloxacin, Levofloxacin, Ofloxacin), Chloroquin (D), Dapson (A), Dideoxycytidin, Isoniazid, Nitrofurantoin (A), Metronidazol (A), Thalidomid
  • Antiarrhythmika – Amiodaron (G), Flecainid (A), Procainamid (D)
  • Antirheumatika und Immunsuppressiva – Chloroquin, Colchicin, Gold, Tacrolimus
  • Bortezomib (Proteasom-Inhibitor) (A)
  • Digoxin (Herzglykoside) (A)
  • Gold (G)
  • Hydralazin (Antihypertonika) (A)
  • Immuncheckpointinhibitoren (wie z. B. Ipilimumab, Nivolumab und Pembrolizumab) → akute inflammatorische demyelinisierende oder axonale Polyneuropathien (AIDP [akute entzündliche demyelinisierende Polyradikuloneuropathie]/ASMAN [akute sensomotorische axonale Neuropathie]/AMN [Adrenomyeloneuropathie]) und CIDP
  • Immunmodulatoren  – Tacrolimus (D)
  • Immunsuppressiva – Leflunomid (A)
  • Interferon-α (A)
  • Levodopa (Antiparkinsonikum)  (A)
  • Lithium (A)
  • Meformin wg. Vitamin b12-Mangel
  • Psychiatrische Medikation und Sedativa – Disulfiram, Lithium
  • Phenytoin (A)
  • Reverse Transkriptase-Inhibitoren 
  • Statine (A) 
  • Thalidomid (A)
  • TNF-α-Antagonisten (D)
  • Tuberkulostatikum – Isoniazid (A)
  • Vitamin-B6-Überdosierung (A)
  • Zytostatika (Chemotherapie-induzierte Neuropathie (CIN)/Chemotherapie-induzierte Polyneuropathie (CIPN)) – Doxorubicin (A),  Etoposid (A), Gemcitabin (A), Ifosfamid (A), Platin(derivate) (A), Cisplatin, Vincristin, Vincaalkaloide (A), Taxane (A; z. B. Paclitaxel)), Taxol (A) oder Proteasomen-Inhibitoren

Legende: A = axonal; D = demyelinisierend; G = gemischt axonal-demyelinisierend

Operationen

  • Organtransplantationen → dysimmune Neuropathien

Umweltbelastungen – Intoxikationen (Vergiftungen)  toxische Polyneuropathie 

  • Arsen
  • Kohlenwasserstoffe
  • Schwermetalle wie Blei, Thallium, Quecksilber 
  • Schwefelkohlenstoff
  • Trichlorethylen
  • Triorthokresylphosphat (TKP)
  • Wismut (wg. Wismut-haltigem Dentalmaterial oder bei langdauernder Behandlung mit Wismut-Präparaten)

Literatur

  1. Clair C et al.: The Effect of Cigarette Smoking on Diabetic Peripheral Neuropathy: A Systematic Review and Meta-Analysis. J Gen Intern Med, online 7. Mai 2015; doi: 10.1007/s11606-015-3354-y