Myasthenia gravis – Ursachen

Pathogenese (Krankheitsentstehung)

Myasthenia gravis ist eine Autoimmunerkrankung, bei der das Immunsystem Antikörper gegen körpereigene Strukturen der postsynaptischen Membran im Bereich der motorischen Endplatte der quergestreiften Muskulatur (Skelettmuskulatur) bildet. Diese Autoimmunreaktion führt zu einer gestörten Signalübertragung zwischen Nerv und Muskel, was zu Muskelschwäche und in schweren Fällen zu Muskellähmung führt.

Antikörper gegen Acetylcholinrezeptoren (AChR)

In etwa 85 % der Fälle sind Autoantikörper gegen den nikotinergen Acetylcholinrezeptor (AChR) verantwortlich. Normalerweise überträgt der Neurotransmitter Acetylcholin den elektrischen Impuls von den Nervenenden auf die Muskulatur, indem er an diese Rezeptoren bindet. Bei Myasthenia gravis blockieren die Antikörper diesen Prozess, indem sie:

  • Acetylcholinrezeptoren blockieren, was die Signalübertragung beeinträchtigt.
  • Acetylcholinrezeptoren zerstören, wodurch die Anzahl der Rezeptoren an der postsynaptischen Membran verringert wird.

Die Folge dieser Blockierung und Zerstörung ist eine schwache Muskelkontraktion, was zu den typischen Symptomen wie Muskelschwäche und schneller Ermüdung der Muskulatur führt.

Antikörper gegen muskelspezifische Tyrosinkinase (MuSK) und andere Zielstrukturen

In 1-10 % der Fälle richten sich die Autoantikörper gegen die muskelspezifische Tyrosinkinase (MuSK), ein Protein, das für die Bildung und Stabilisierung der motorischen Endplatte verantwortlich ist. Diese Form der Myasthenia gravis hat oft einen schwereren klinischen Verlauf, da MuSK eine Schlüsselrolle bei der postsynaptischen Signalübertragung spielt.

Sehr selten können auch niedrigaffine Acetylcholinrezeptor-Antikörper oder Antikörper gegen das Lipoprotein-Rezeptor-ähnliche Protein 4 (LRP4) nachgewiesen werden. Diese selteneren Antikörpermechanismen zeigen, dass die Pathogenese der Myasthenia gravis komplexer ist als nur die Zerstörung der Acetylcholinrezeptoren.

Seronegative Myasthenia gravis

In einer kleinen Anzahl von Patienten (etwa 10-15 %) sind keine nachweisbaren Antikörper im Blut vorhanden. Diese Fälle werden als seronegative Myasthenia gravis bezeichnet. Es wird vermutet, dass auch in diesen Fällen andere Autoantikörper oder bisher unbekannte Mechanismen zum Krankheitsbild beitragen können.

Rolle des Thymus

Der Thymus spielt eine zentrale Rolle in der Pathogenese der Myasthenia gravis. Bei rund 70 % der Betroffenen ist eine Thymitis (entzündlicher Thymus) nachweisbar, oft mit aktiven Keimzentren, die auf eine gesteigerte Immunaktivität hinweisen. Bei weiteren 10-15 % der Patienten wird ein Thymom (Tumor des Thymus) diagnostiziert, wobei etwa die Hälfte dieser Tumoren maligne (bösartig) ist.

Der Thymus produziert im Kindesalter T-Zellen, die bei der Entwicklung des Immunsystems eine zentrale Rolle spielen. Bei Myasthenia gravis kommt es zu einer pathologischen Reaktivierung des Thymus, was zur Bildung von Autoantikörpern führt, die die Signalübertragung von Nerv zu Muskel stören. Eine chirurgische Entfernung des Thymus (Thymektomie) kann den Verlauf der Erkrankung positiv beeinflussen und in einigen Fällen sogar zu einer Besserung der Symptome führen.

Zusammenfassung

Die Pathogenese der Myasthenia gravis beruht auf einer Autoimmunreaktion, bei der Antikörper gegen Acetylcholinrezeptoren oder andere Proteine der postsynaptischen Membran gerichtet sind. Diese Antikörper blockieren oder zerstören die Signalübertragung zwischen Nerv und Muskel, was zu Muskelschwäche und Lähmung führt. Der Thymus spielt eine wichtige Rolle in der Entwicklung der Krankheit, und pathologische Veränderungen im Thymus, einschließlich Thymomen, sind häufig zu finden.

Ätiologie (Ursachen)

Die Ursachen der Myasthenia gravis sind bisher unklar.

Biographische Ursachen

  • Genetische Belastung – Erkrankungsrisiko von 4,5 % für Geschwister von an neuromuskulären Erkrankungen leidenden Personen [1]

Eine bestehende Myasthenia gravis kann durch folgende Faktoren verschlechtert werden:

  • Entzündungen
  • Fieber
  • Hitze
  • Hormonelle Schwankungen – während der Menstruation
  • Infektionen
  • Körperliche Belastungen
  • Medikamente (Ein Anspruch auf Vollständigkeit besteht nicht!)
    • Analgetika
      • Flupirtin
      • Morphinpräparate 
    • Antiarrhythmika – Chinidin, Ajmalin, Mexitil, Procainamid 
    • Antibiotika
      • Aminoglykoside – v. a. Streptomycin, Neomycin, weniger Tobramycin
      • Makrolide – z. B. Erythromycin
      • Ketolide – Telithromycin/Ketek
      • Lincomycine
      • Polymyxine
      • Gyrase-Hemmer – Levofloxacin, Ciprofloxacin, Prulifloxacin
      • Sulfonamide
      • Tetrazykline
      • Penicilline – nur in besonders hoher Dosierung
    • Antidepressiva – Substanzen vom Amitriptylin-Typ 
    • Antikonvulsiva – Benzodiazepine, Carbamazepin, Diphenylhydantoin, Ethosuximid, Gabapentin 
    • Antimalariamittel – Chinin, Chloroquin und Analoge 
    • Antirheumatika – Chloroquin, Etanercept 
    • Betablocker – Oxprenolol, Pindolol, Practolol, Propranolol, Timolol – auch bei topischer Anwendung als Augentropfen 
    • Botulinum-Toxin
    • Calciumantagonisten – Verapamil, Diltiazem, Nifedipin und Verwandte 
    • Diuretika – Azetazolamid, Benzothiadiazine, Schleifendiuretika 
    • Glucocorticoide (eine klinisch relevante Verschlechterung ist selten bei mittleren Dosen oder einschleichender Dosierung)
    • Interferone – Interferon-alpha (Einzelfälle) 
    • Lithium
    • Lokalanästhetika – Procain (Ester-Typ), die heute verwendeten Substanzen vom Amid-Typ sind unproblematisch 
    • Magnesium – hohe Dosen als Laxanzien (Abführmittel)
    • Monoklonale Antikörper: 
    • Checkpoint-Inhibitoren: z. B. Durvalumab (selten)
    • Muskelrelaxanzien
      • Curare-Derivate – wegen erhöhter Empfindlichkeit initial (beginnend) 10-50 % der normalen Dosierung wählen
      • Succhinylcholin – Sollte grundsätzlich nicht eingesetzt werden, da es nicht mit Pyridostigmin antagonisiert werden kann!
    • Narkotika
    • Psychopharmaka – Chlorpromazin, Promazin und Verwandte, alle Benzodiazepine und Strukturverwandte wie Zolpidem, Zopiclon 
    • Statine (HMG-CoA-Reduktase-Hemmer: Atorvastatin, Fluvastatin, Lovastatin, Pitavastatin, Pravastatin, Rosuvastatin, Simvastatin) – Auslösung oder Verschlechterung von Myasthenia gravis oder okulärer Myasthenie (Häufigkeit nicht bekannt) [2]
  • Schilddrüsenerkrankungen
  • Seelische Belastungen
  • Vibrationen

Literatur

  1. Hemminki K, Li X et al.: Familial risks for diseases of myoneural junction and muscle in siblings based on hospitalizations and deaths in sweden. Twin Res Hum Genet 2006;9 (4): 573-579
  2. Medicines and Healthcare products Regulatory Agency. Statins: very infrequent reports of myasthenia gravis; 26.9.2023. Verfügbar unter: https://www.gov.uk/drug-safety-update/statins-very-infrequent-reports-of-myasthenia-gravis.

Leitlinien

  1. S2k-Leitlinie: Diagnostik und Therapie myasthener Syndrome. (AWMF-Registernummer: 030-087), November 2022 Langfassung