Multiple Sklerose (MS) – Ursachen

Pathogenese (Krankheitsentstehung)

Die Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch-entzündliche Erkrankung des Zentralnervensystems (ZNS), bei der das Immunsystem eine zentrale Rolle spielt. Der genaue Mechanismus der Entstehung ist jedoch bislang nicht vollständig geklärt. Es handelt sich um eine autoimmunvermittelte Zerstörung der Myelinscheide, die die Axone der Nervenzellen umgibt und deren elektrische Leitfähigkeit sichert.

Autoimmunreaktion gegen Myelin

Ein wesentlicher Mechanismus der MS ist die autoimmune Zerstörung der Myelinscheide. Myelin ist eine lipidreiche Biomembran, die die Axone (den Achsenfortsatz) der Nervenzellen umhüllt und sie elektrisch isoliert. Im Rahmen der MS richten sich T-Lymphozyten gegen Myelin. Diese T-Zellen werden in der Peripherie aktiviert, überwinden die Blut-Hirn-Schranke und dringen in das ZNS ein. Dort lösen sie eine Autoimmunreaktion gegen die Myelinscheide aus.

Neben den T-Zellen spielen auch B-Lymphozyten eine wichtige Rolle. Nachdem die Blut-Hirn-Schranke durchlässiger wird, gelangen B-Zellen ins Gehirn, wo sie Zytokine (Botenstoffe) sezernieren, die die Zerstörung der Myelinscheide weiter verstärken. Diese entzündlichen Prozesse führen zu Läsionen im ZNS, die durch entzündliche Infiltrate charakterisiert sind. Diese Läsionen beeinflussen das Immunsystem des Körpers weiter, indem sie die Bildung von Immunglobulin G (IgG) und die Ausschüttung von Zytokinen verstärken [1].

Rolle viraler Infektionen

Virale Infektionen gelten als mögliche Trigger für MS. Insbesondere das Epstein-Barr-Virus (EBV) wird als potenzieller Auslöser der Krankheit diskutiert. Zwei bis drei Jahre bevor die Diagnose MS gestellt wird, zeigen sich im Blut der späteren Patienten häufig stark gesunkene Vitamin-D-Werte und eine erhöhte Antikörperantwort gegen EBV im Vergleich zu gesunden Menschen [2].

Ein neuer Nachweistest, der zwischen den zwei verschiedenen Typen des humanen Herpesvirus 6 (HHV-6) unterscheidet, gibt Hinweise darauf, dass die Virus-Ätiologie von MS korrekt sein könnte. Speziell die Infektion mit HHV-6a in Kombination mit EBV wird als möglicher Mechanismus vermutet, der die Erkrankung auslöst [14].

Epstein-Barr-Virus als potenzieller Auslöser

Eine Längsschnittstudie bestätigte mit hoher Wahrscheinlichkeit, dass das Epstein-Barr-Virus (EBV) ein zentraler Auslöser der MS ist. In dieser Studie erkrankten Soldaten, die sich während ihrer Dienstzeit mit dem humanen Herpesvirus infizierten, in den Folgejahren 32-fach häufiger an MS als Nicht-Infizierte. Dieser Befund stützt die Vermutung, dass EBV eine entscheidende Rolle in der Pathogenese der MS spielen könnte [16].

Genetische Prädisposition

Neben den immunologischen und viralen Mechanismen gibt es Hinweise auf eine genetische Komponente in der Pathogenese der MS. Diese genetische Prädisposition könnte beeinflussen, wie stark das Immunsystem auf bestimmte Umweltfaktoren reagiert, einschließlich Virusinfektionen.

Zusammenfassung

Die Pathogenese der Multiplen Sklerose (MS) wird durch eine autoimmune Zerstörung der Myelinscheide im ZNS bestimmt. Diese Zerstörung wird durch T- und B-Lymphozyten vermittelt, die in das Gehirn eindringen und entzündliche Prozesse auslösen, die das Myelin schädigen. Virale Infektionen, insbesondere das Epstein-Barr-Virus (EBV) und HHV-6, werden als mögliche Trigger für MS diskutiert. Trotz dieser Erkenntnisse bleibt die genaue Ursache der Krankheit ungeklärt, und es sind weitere Studien erforderlich, um die Pathogenese vollständig zu verstehen [1, 2, 14, 16].

Ätiologie (Ursachen)

Biographische Ursachen

  • Genetische Belastung durch Eltern, Großeltern (ca. 10-15 % der MS-Erkrankungen haben eine erbliche Komponente)
    • Genetisches Risiko abhängig von Genpolymorphismen:
      • Gene/SNPs (Einzelnukleotid-Polymorphismus; engl.: single nucleotide polymorphism):
        • Gene: ALK, CLEC16A, FAM69A, HLA-DRA, IL7R, RPL5
        • SNP: rs3135388 im Gen HLA-DRA
          • Allel-Konstellation: CT (3,0-fach)
          • Allel-Konstellation: TT (3,0-fach bis 6,0-fach)
        • SNP: rs7577363 im Gen ALK
          • Allel-Konstellation: AG (1,37-fach)
          • Allel-Konstellation: AA (> 1,37-fach)
        • SNP: rs6604026 im Gen RPL5
          • Allel-Konstellation: CT (1,15-fach)
          • Allel-Konstellation: CC (> 1,15-fach)
        • SNP: rs6498169 im Gen CLEC16A
          • Allel-Konstellation: AG (1,14-fach)
          • Allel-Konstellation: AA (> 1,14-fach)
        • SNP: rs7536563 im Gen FAM69A
          • Allel-Konstellation: AG (1,12-fach)
          • Allel-Konstellation: AA (> 1,12-fach)
        • SNP: rs6897932 im Gen IL7R
          • Allel-Konstellation: CC (1,08-fach)
          • Allel-Konstellation: CT (0,91-fach)
          • Allel-Konstellation: TT (0,70-fach)
      • Vier Genvarianten (SNPs), die mit einem niedrigen Vitamin-D-Spiegel assoziiert sind, sind signifikant mit einem erhöhten Risiko für Multiple Sklerose assoziiert [4]
      • Monozygote (eineiige) Zwillingspaare: 75 % der Fälle, dass ein Geschwisterteil an MS erkrankt, das andere dagegen nicht; ursächlich sind epigenetische Unterschiede in Immunzellen des Blutes (an 7 verschiedenen Positionen war das Genom der Zwillingsgeschwister unterschiedlich methyliert) [13].
      • HLA-DRB1*15 Assoziation [11]
  • Im April geborene Personen sind um 24 % häufiger betroffen als im November Geborene [5]
  • Geschlecht – Frauen sind von der schubweise verlaufenden Multiplen Sklerose ca. dreimal häufiger betroffen als Männer.
  • Hormonelle Faktoren – niedrige 25-Hydroxy-Vitamin-D-Spiegel nach der Geburt [6]

Verhaltensbedingte Ursachen

  • Ernährung
    • Konsum tierischer Fette und von Fleisch – Steht im Zusammenhang mit einem höheren MS-Risiko [3]
    • Hohe Zufuhr gesättigter Fette (saturated fatty acids, SFA) – Fördert Entzündungsprozesse [9]
    • Hohe Salzaufnahme – (Ko-)Faktor bei der Entstehung von Autoimmunität [7, 8]; wird kontrovers beurteilt [10]
    • Mikronährstoffmangel (Vitalstoffe) – Insbesondere Vitamin D und Omega-3-Fettsäuren können protektiv wirken.
  • Genussmittelkonsum
    • Tabak (Rauchen, Passivrauchen) 
      • Merkmal HLA-DRB1*15 + Rauchen (4,5-fach erhöhtes Risiko): + Passivrauchen (7,7-fach erhöhtes Risiko) [12]
      • Shisha-Rauchen (in den USA „Hookah-Smoking“ genannt) – Regelmäßiges Shiska-Rauchen geht mit einem um 70 % erhöhten MS-Risiko einher [15]
  • Psycho-soziale Situation
    • Stress – Stressereignisse werden als Risikofaktoren diskutiert
  • Schlafqualität
    • Schlechter Schlaf bei Jugendlichen – Verkürzung auf weniger als sieben Stunden ist mit einem höheren MS-Risiko assoziiert [17]
  • Übergewicht (BMI ≥ 25; Adipositas)
  • "Mangel an Sonnenlicht" (Vitamin D) – die Prävalenz für MS steigt mit der Entfernung vom Äquator, die höchste Prävalenz liegt bei 250 Erkrankte pro 100.000 Einwohner im Norden Schottlands.

Krankheitsbedingte Ursachen

  • Infektionen mit zahlreichen Viren wie dem Masern-, Herpes- oder Epstein-Barr-Virus (EBV)

Umweltbelastung – Intoxikationen (Vergiftungen)

  • Merkmal HLA-DRB1*15 + berufliche Exposition mit Lösungsmitteln (30-fach erhöhtes Risiko) (die Diagnose wurde im Mittel mit 34 Jahren gestellt) [12]

Literatur

    1. Weber F: Multiple Sklerose: Pathogenese und Möglichkeiten einer individualisierten Therapie. Max-Planck-Institut für Psychiatrie, München
      http://www.mpg.de/bilderBerichteDokumente/dokumentation/jahrbuch/2007/psychiatrie/forschungsSchwerpunkt/pdf.pdf
    2. Décard BF et al.: Low vitamin D and elevated immunoreactivity against Epstein-Barr virus before first clinical manifestation of multiple sclerosis.
      Journal of Neurology, Neurosurgery & Psychiatry. doi:10.1136/jnnp-2012-303068
    3. Pöhlau D, Seidel D: Schriftenreihe der DMSG: MS-Information Nr 2.7.2 Ernährungsratschläge bei Multipler Sklerose Hannover: Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft, Bundesverband e.V. (Hrsg.), 11/1999
    4. Mokry LE et al.: Vitamin D and Risk of Multiple Sclerosis: A Mendelian Randomization Study. doi: 10.1371/journal.pmed.1001866
    5. Rodríguez Cruz PM et al.: Time- and Region-Specific Season of Birth Effects in Multiple Sclerosis in the United Kingdom. JAMA Neurol 2016; epub June 27, 2016. doi:10.1001/jamaneurol.2016.1463.
    6. Nielson NM et al.: Neonatal vitamin D status and risk of multiple sclerosis. A population-based case-control study. Neurology 2016; epub Nov. 30, doi 10.1212/WNL.0000000000003454.
    7. Wu C et al.: Induction of pathogenic TH17 cells by inducible salt-sensing kinase SGK1. Nature 2013 Apr 25;496(7446):513-7. doi: 10.1038/nature11984. Epub 2013 Mar 6.
    8. Jorg S et al.: High salt drives Th17 responses in experimental autoimmune encephalomyelitis without impacting myeloid dendritic cells. Exp Neurol 2016 May;279:212-222. doi: 10.1016/j.expneurol.2016.03.010. Epub 2016 Mar 11.
    9. Swank RL. & Goodwin JW: How saturated fats may be a causative factor in multiple sclerosis and other diseases. Nutrition 19, 478 (2003)
    10. Cortese M et al.: Kein Zusammenhang zwischen der Natriumaufnahme über die Nahrung und dem Risiko für Multiple Sklerose. Neurologie. 2017, 26. September; 89 (13): 1322–1329. doi: 10.1212 / WNL.0000000000004417
    11. Mosca L et al.: HLA-DRB1*15 association with multiple sclerosis is confirmed in a multigenerational Italian family. Funct Neurol. 2017 Apr-Jun; 32(2): 83-88. Published online 2017 Jul 5. doi: 10.11138/FNeur/2017.32.2.083
    12. Hedström AK et al.: Interaction between passive smoking and two HLA genes with regard to multiple sclerosis risk. Int J Epidemiol, 2014, 1791-1798 doi: 10.1093/ije/dyu195
    13. Souren NY et al.: DNA methylation signatures of monozygotic twins clinically discordant for multiple sclerosis. Nature Communicationsvolume 10, Article number: 2094 (2019)
    14. Engdahl E et al.: Increased Serological Response Against Human Herpesvirus 6A Is Associated With Risk for Multiple Sclerosis. Front. Immunol., 26 November 2019 | https://doi.org/10.3389/fimmu.2019.02715
    15. Abdollahpour I et al.: Estimating the Marginal Causal Effect and Potential Impact of Waterpipe Smoking on Multiple Sclerosis Using Targeted Maximum Likelihood Estimation Method: a Large Population-Based Incident Case-Control Study American Journal of Epidemiology, 12 February 2021, kwab036, https://doi.org/10.1093/aje/kwab036
    16. Bjornevik K et al.: Longitudinal analysis reveals high prevalence of Epstein-Barr virus associated with multiple sclerosis Science . 2022 Jan 21. doi: 10.1126/science.abj8222
    17. Åkerstedt T et al.: Insufficient sleep during adolescence and risk of multiple sclerosis: results from a Swedish case-control study. J Neurol Neurosurg Psychiatry 2023; https://doi.org/10.1136/jnnp-2022-330123