Multiple Sklerose (MS) – Medizingerätediagnostik
Obligate Medizingerätediagnostik
- Augenuntersuchung – bei Verdacht auf Neuritis nervi optici/Optikusneuritis (Sehnervenentzündung)
- Spaltlampenuntersuchung (Spaltlampenmikroskop; Betrachtung des Augapfels unter geeigneter Beleuchtung und hoher Vergrößerung; hier: Betrachtung der vorderen und mittleren Augenabschnitte)
- Ophthalmoskopie (Augenhintergrundspiegelung; Untersuchung des zentralen Augenhintergrundes) – zur Diagnostik einer Optikusneuritis [Papille erscheint meistens scharf; ggf. leichtes Papillenödem/Stauungspapille (ein Drittel der Patienten))
- Visusbestimmung (Sehschärfenbestimmung) [bei Optikusneuritis von "kein Lichtschein" bis 1,5; bei Zweidrittel der MS-Patienten < 0,5; Normalbefund: 20-Jährige: 1,0-1,6, 80-jährige: 0,6-1,0]
- Prüfung auf relativen afferenten Pupillendefekt (RAPD): s. u. Körperliche Untersuchung/Swinging-flashlight-Test (SWIFT; Pupillen-Wechselbelichtungstest; Pupillenvergleichstest)
- Perimetrie (Gesichtsfeldsmessung)
- Magnetresonanztomographie des Schädels (Schädel-MRT; craniale MRT; cMRT) mit Einsatz der 3D-FLAIR-Bildgebung als wichtigste Pulssequenz der zerebralen Untersuchung als Goldstandard; Einsatz Gadolinium-haltiger Kontrastmittel in Abhängigkeit von der Fragestellung– bei Verdacht auf Optikusneuritis; Multiple Sklerose; zerebrales Kontroll-MRT (ohne Kontrastmittel) drei bis sechs Monate nach Therapiebeginn und nachfolgend jährliche Kontrollen [Leitlinien: 4]
Zeichen der MS im MRT sind:
- Kontrastmittelaufnahme in den T1-Sequenzen (DD: ein Optikusscheidenmeningeom (engl. Optic Nerve Sheath Meningiomas, ONSM) kann den gleichen Befund ergeben wie eine Optikusneuritis; bei Persistenz der Kontrastmittelaufnahme nach 3 Monaten ist an ein Optikusscheidenmeningeom zu denken; bei Kontrastmittelaufnahme von mehr als in der Hälfte des Sehnervs und Einbeziehung des Chiasma opticum denken an: Neuromyelitis optica)
- bei zwei und mehreren Entmarkungsherden im Gehirn (vor allem im Balken und im periventrikulärem Marklager), von denen mindestens einer Kontrastmittel (Gadolinium) aufnimmt = Multiple Sklerose
- bei zwei und mehreren Entmarkungsherden im Gehirn, die kein Kontrastmittel aufnehmen = "klinisch isoliertes Syndrom" (KIS; mit einem hohen MS-Risiko verbunden)
- wenn keine typischen Läsionen einer Multiple Sklerose vorliegen: 24 % der Patienten nach Optikusneuritis entwickeln eine Multiple Sklerose
- Hinweis: Bei Patienten mit klinisch isoliertem Syndrom (CIS), die ein abnormales Baseline-MRT haben, aber noch nicht die revidierten McDonald-Kriterien von 2010 erfüllen, sollte ein Folge-MRT nach drei bis sechs Monaten erfolgen. Bleibt auch dieser zweite Untersuchung nicht eindeutig, kann eine dritte Untersuchung selbst bis zwölf Monate später durchgeführt werden [1].
Beachte: Bei Patienten mit sogenanntem "radiologisch isoliertem Syndrom" sollte unmittelbar bei Auftreten von Symptomen die Diagnose einer MS gestellt werden [2]. - Magnetresonanztomographie der Wirbelsäule/spinale MRT – bei Patienten mit spinalen Symptomen bei Erkrankungsbeginn bzw. Verdacht auf spinale Läsion; Zeichen der MS im MRT sind:
- Fokale Hyperintensitäten in T2-/PD (Protonendichte)-gewichteten und FLAIR (fluid attenuated inversion recovery)-Bildern [mehrere Regionen des ZNS (räumliche Dissemination) betroffen; MR-tomografisch zeitliche Dissemination]
- Hinweis: Wenn das supraspinale MRT nicht eindeutig ist oder bei Patienten die supraspinale Auffälligkeiten im Sinne eines radiologisch isolierten Syndroms (RIS) aufweisen, ist das spinale MRT hilfreich [1].
- Visuell evozierte Potentiale als Basisdiagnostikum (VEP, MEP, SEP) – bei der Verdachtsdiagnose bzw. beim Schub oder Progression; Möglichkeit eine räumliche Dissemination nachzuweisen [VEP sind bei der Optikusneuritis latenzverzögert]
Hinweis: Die Untersuchung der VEP ist zur Diagnosestellung nicht notwendig.
Fakultative Medizingerätediagnostik – in Abhängigkeit von den Ergebnissen der Anamnese, körperlichen Untersuchung, Labordiagnostik und obligaten Medizingerätediagnostik – zur differentialdiagnostischen Abklärung
- Computertomographie des Schädels (Schädel-CT, craniale CT bzw. cCT) – kann bei leichter Form der MS unauffällig ausfallen; Zeichen der MS: Hypodensitäten
Beachte: Bei einer Optikusneuritis sollte keine Schädel-CT anstelle einer Schädel-MRT erfolgen. - Optische Kohärenztomographie* – bildgebenden Verfahren zur Untersuchung der Retina (Netzhaut), des Glaskörpers und des N. opticus (Sehnerv) verwendet; durch die Untersuchung der Retina kann auf den Verlauf der axonalen Schädigung rückgeschlossen werden
- Urodynamische Diagnostik (u. a. Messung der Blasenfunktion während der Füllung über einen Katheter und der sich anschließenden Entleerung (Druck-Fluss-Analytik) zur Differenzierung der verschiedenen Formen der Harninkontinenz (Stress-, Urgeinkontinenz auch Mischformen, neurogene Blase) – beim Vorliegen von Blasenfunktionsstörungen
*S1-Leitlinie: Pädiatrische Multiple Sklerose [s. u.]
Weitere Hinweise
- Nicht selten beginnt die Erkrankung zunächst mit einem isolierten Symptom, wofür sich der englische Begriff des "klinisch isolierten Syndroms" (Clinically isolated syndrome, CIS) eingebürgert hat.
Beachte: Ca. ein Drittel dieser Patienten entwickelt auch langfristig keine Multiple Sklerose.
Patienten mit einem CIS, die eine MS entwickeln, haben in etwa 40 % einen stabilen, gutartigen Verlauf über drei Dekaden. In der Magnetresonanztomographie (MRT) konnten zwei prognostisch relevante Faktoren nachgewiesen werden: Zahl der infratentoriellen Läsionen (Veränderungen "unterhalb des Tentoriums"/querverlaufende Hirnhautstruktur zwischen dem Okzipitallappen/Hinterhauptlappen des Großhirns und dem Kleinhirn) bei CIS-Diagnose und der "deep white matter lesions" (DWM) ein Jahr nach der CIS-Diagnose. Falls diese beiden Faktoren nicht im ersten Jahr nach der CIS-Diagnose auftraten, lag die Wahrscheinlichkeit für eine behindernde Multiple Sklerose nach 30 Jahren bei 13 %. Dagegen, wenn DWM vorlagen bei 49 % und bei Vorliegen von DWM plus infratentoriellen Läsionen bei 94 % [3]. - Bei MS-Patienten, die seit mindestens 6 Monaten mit verlaufsmodifizierenden Medikamenten (Disease Modifying Therapy, DMT) behandelt werden, kann auf die Gabe von Gadolinium-basiertem MRT-Kontrastmittel für das Monitoring verzichtet werden. Nur bei rund 1 % der MRT-Fälle konnten durch den Einsatz von Kontrastmitteln Zusatzinformationen über reaktivierte Altherde erhalten werden [4]. Einschränkung: retrospektive Studie
Literatur
- Rovira A et al.: MAGNIMS Consensus Guidelines on the use of MRI in multiples sclerosis – clinical implementation in the diagnostic process. Nat Rev Neurol. 2015 Aug;11(8):471-82. doi: 10.1038/nrneurol.2015.106. Epub 2015 Jul 7.
- Filippi M et al.: MRI criteria for the diagnosis of multiple sclerosis: MAGNIMS consensus guidelines. Lancet Neurol 2016; 15 (3): 292-303 doi: 10.1016/S1474-4422(15)00393-2. Epub 2016 Jan 26.
- Chung KK et al.: A thirty year clinical and MRI observational study of multiple sclerosis and clinically isolated syndromes. Ann Neurology 2019; https://doi.org/10.1002/ana.25637
- Tsantes E et al.: The contribution of enhancing lesions in monitoring multiple sclerosis treatment: is gadolinium always necessary? J Neurol 2020; https://doi.org/10.1007/s00415-020-09894-1
Leitlinien
- S1-Leitlinie: Pädiatrische Multiple Sklerose. Bayerisches Ärzteblatt 5/2017 S200ff
- S2e-Leitlinie: Optikusneuritis. (AWMF-Registernummer: 045 - 010), März 2018 Langfassung
- S2k-Leitlinie: Diagnose und Therapie der Multiplen Sklerose, Neuromyelitis Optica Spektrum und MOG-IgG-assoziierte Erkrankungen. (AWMF-Registernummer: 030-050), Februar 2021 Langfassung
- Wattjes MP et al.: 2021 MAGNIMS–CMSC–NAIMS consensus recommendations on the use of MRI in patients with multiple sclerosis. The Lancet Neurology Juni 2021. doi.org/10.1016/S1474-4422(21)00095-8