Magersucht (Anorexia nervosa) – Einleitung
Die Anorexia nervosa (AN) – umgangssprachlich Magersucht genannt – gehört zu den psychogenen Essstörungen.
Synonyme und ICD-10: Anorektisches Syndrom; Anorexia mentalis; Anorexie; Dysorexie; endogene Magersucht; freiwilliger Hunger a.n.k.; Psychogene Anorexie; psychogene Aphagie; psychogener Appetitmangel; Pubertätsmagersucht; ICD-10-GM F50.0: Anorexia nervosa; ICD-10-GM F50.1: Atypische Anorexia nervosa
Menschen, die unter Anorexia nervosa leiden, möchten extrem dünn sein. Die Kriterien einer gesunden, vollwertigen und abwechslungsreichen Ernährung werden von diesen Patienten nicht erfüllt.
Klassifikation
Die Anorexia nervosa wird nach verschiedenen Modellen klassifiziert:
- American Psychiatric Association (APA): Von einer Anorexia nervosa wird ausgegangen, wenn das Gewicht des Betroffenen weniger als 85 % des Gewichts beträgt, welches bei gesunden Personen zu erwarten wäre.
- ICD-11-Klassifikation: In Europa wird bei Erwachsenen ab einem BMI (Body-Mass-Index) von < 18,5 kg/m² (entspricht bei Kindern und Jugendlichen dem Unterschreiten der fünften BMI-Altersperzentile) von einer Anorexia nervosa gesprochen.
Weitere Kriterien der Anorexia nervosa
- Selbst bei geführter Gewichtsverlust
- Körperschemastörung
- Endokrine Störungen
Untergruppen der Anorexia nervosa
- Atypische Anorexia nervosa (ICD-10-GM F50.1): Form der Anorexia nervosa, bei der nicht alle Kriterien der Erkrankung erfüllt sind.
- Restriktive Anorexia nervosa: Patienten, die durch Einschränkung der Nahrungszufuhr und exzessive sportliche Aktivität an Gewicht verlieren.
- Anorexia nervosa vom "binge eating/purging"-Subtyp: Erkrankung gekennzeichnet durch Essattacken, selbst herbeigeführtes Erbrechen und Laxantien-Missbrauch (Abführmittel-Missbrauch).
- Kindliche Anorexia nervosa: Betrifft Kinder vor der Pubertät; führt zu einer Verzögerung der Entwicklung und des Wachstums.
Epidemiologie
Geschlechterverhältnis: Männer zu Frauen beträgt 1 : 8-10 (bei Erwachsenen); bei Kindern weniger Geschlechtsunterschiede
Häufigkeitsgipfel: Die Erkrankung betrifft meist Mädchen in der Pubertät (Altersgipfel 14 Jahre) und junge Frauen, die sich sehr stark mit ihrem Aussehen und ihrem Körper beschäftigen.
Prävalenz (Krankheitshäufigkeit): Die Lebenszeitprävalenz liegt bei Frauen bei 1 % (Manifestationsgipfel im Alter von 18 Jahren) und bei Männern bei < 0,5 %.
Die Prävalenz der Anorexia nervosa hat in den vergangenen Jahren zugenommen. Außerdem sind immer jüngere Mädchen und zunehmend auch Jungen und Männer betroffen.
Verlauf und Prognose
Verlauf
Die Anorexia nervosa verläuft meistens über mehrere Jahre und kann sowohl körperliche als auch psychische Gesundheit erheblich beeinträchtigen. Typischerweise durchläuft die Erkrankung mehrere Phasen:
- Initialphase: In den ersten zwei Jahren der Krankheit kommt es selten zu einer vollständigen Heilung. Die Betroffenen sind stark in ihrem Alltag eingeschränkt, was auch schulische oder berufliche Leistungen betrifft. In dieser Phase können körperliche Symptome wie starker Gewichtsverlust, Muskelschwäche, Kälteempfindlichkeit und Amenorrhoe (Ausbleiben der Menstruation) auftreten.
- Chronische Phase: Das Risiko einer Chronifizierung der Erkrankung ist hoch. Etwa 60 % der Patientinnen erreichen nach 5-6 Jahren eine Gewichtsnormalisierung, jedoch bleiben viele der psychischen und körperlichen Symptome bestehen. Nur 50-70 % der Patienten werden durch eine Therapie geheilt. Die Wahrscheinlichkeit einer vollständigen Erholung steigt, wenn die Erkrankung in der Pubertät bis zum 17. Lebensjahr erstmals auftritt, da die Prognose in diesem Altersbereich günstiger ist [2].
- Langfristiger Verlauf: Nach einer Langzeituntersuchung erholen sich die meisten Patientinnen im Erwachsenenalter von ihrer Essstörung. 22 Jahre nach Beginn der Studie hatten sich 62,8 % der Patientinnen von der Essstörung erholt und waren seit mindestens einem Jahr symptomfrei [7]. In einer schwedischen Langzeitstudie hatte 30 Jahre nach Krankheitsbeginn jedoch jeder Fünfte weiterhin Essstörungen [8].
Prognose
Die Prognose der Anorexia nervosa ist von verschiedenen Faktoren abhängig:
- Alter bei Erkrankungsbeginn: Die Prognose ist am günstigsten, wenn die Erkrankung in der Pubertät beginnt. Sehr frühe oder späte Ersterkrankungen sind mit einer schlechteren Prognose verbunden [2].
- Therapieerfolg: Nur etwa die Hälfte bis zwei Drittel der Patientinnen erreichen durch Therapie eine vollständige Heilung. Bei frühzeitiger Diagnose und Behandlung kann das Risiko einer Chronifizierung verringert werden.
- Langzeitüberleben: Die 12-Jahres-Letalität der Anorexia nervosa (Sterblichkeit bezogen auf die Gesamtzahl der an der Krankheit Erkrankten) beträgt etwa 10 %. Die Mortalität (Sterberate) liegt bei 5-6 % pro Jahrzehnt, was einer jährlichen Sterberate von 5,1 pro 1.000 Erkrankten entspricht [3]. Diese hohe Sterblichkeitsrate unterstreicht die Notwendigkeit einer raschen und nachhaltigen Behandlung.
- Komorbiditäten (Begleiterkranungen): Die Anorexia nervosa ist häufig mit anderen psychischen Störungen wie Persönlichkeitsstörungen, Suchtstörungen, Depressionen und Zwangsstörungen vergesellschaftet. Die Lebenszeitprävalenz (Krankheitshäufigkeit in der gesamten Lebenszeit) für die Entwicklung einer Depression liegt bei etwa 40 %, für Zwangsstörungen zwischen 15 und 69 %, und etwa 60 % der Anorexia nervosa-Patienten haben eine Komorbidität mit Angsterkrankungen [4-6].
Beachte: Die Anorexia nervosa kann eine lebensbedrohliche Entwicklung nehmen und bedarf einer raschen, nachhaltigen Behandlung.
Komorbiditäten
Die Anorexia nervosa ist vermehrt mit anderen psychischen Störungen wie Persönlichkeitsstörungen und Suchtstörungen (Alkoholabhängigkeit oder -missbrauch) vergesellschaftet. Die Lebenszeitprävalenz für die Entwicklung einer Depression bei Magersucht-Patienten liegt bei ca. 40 % [4], für Zwangsstörungen zwischen 15 und 69 % [5]. Etwa 60 % der Anorexia nervosa-Patienten haben eine Komorbidität mit Angsterkrankungen [6].
Literatur
- Steinhausen HC, Jensen CM: Time trends in lifetime incidence rates of first-time diagnosed anorexia nervosa and bulimia nervosa across 16 years in a danish nationwide psychiatric registry study. Int J Eat Disord 2015; 48: 845-850
- Herpertz-Dahlmann B. Adolescent Eating Disorders: Update on Definitions, Symptomatology, Epidemiology, and Comorbidity. Child Adolesc Psychiatr Clin N Am 2015; 24: 177-196
- Arcelus J, Mitchell AJ, Wales J et al.: Mortality rates in patients with anorexia nervosa and other eating disorders: A meta-analysis of 36 studies. Archives of General Psychiatry 2011; 68: 724-731
- Godart NT, Perdereau F, Rein Z, Berthoz S, Wallier J, Jeammet P et al.: Comorbidity studies of eating disorders and mood disorders. Critical review of the literature. J Affect. Disord. 2007;97, 37-49
- Serpell L, Livingstone A, Neiderman M, Lask B (2002): Anorexia nervosa: obsessive-compulsive disorder, obesessive-compulsive personality disorder, or neither? Clinical Psychology Review, 22 5), 647-669
- Bulik CM, Sullivan PF, Fear JL, Joyce PR (1997b): Eating disorders and antecedent anxiety disorders: a controlled study. Acta Psychiatr.Scand., 96, 101-107
- Eddy KT et al.: Recovery From Anorexia Nervosa and Bulimia Nervosa at 22-Year Follow-Up. J Clin Psychiatry. 2017 Feb;78(2):184-189. doi: 10.4088/JCP.15m10393.
- Rydberg Dobrescu S et al.: Anorexia nervosa: 30-year outcome BJPsych published online: 22 May 2019 https://doi.org/10.1192/bjp.2019.113
Leitlinien
- S3-Leitlinie: Diagnostik und Therapie der Essstörungen. (AWMF-Registernummer: 051 - 026), Mai 2018 Langfassung