Leichte kognitive Beeinträchtigung – Ursachen
Pathogenese (Krankheitsentstehung)
Die leichte kognitive Beeinträchtigung (LKB) ist eine komplexe neurodegenerative Störung, bei der die Schädigung von Hirnstrukturen, die für die Kognition wichtig sind, eine zentrale Rolle spielt. Diese Schädigungen betreffen sowohl normale Alterungsprozesse als auch spezifische neurobiologische Mechanismen, die eine Dysfunktion in den kognitiven Netzwerken verursachen.
Neuronale Degeneration und Alterungsprozesse
Im Rahmen der Kontinuitätshypothese wird angenommen, dass bei LKB eine neuronale Degeneration auftritt, die vor allem durch den natürlichen Alterungsprozess verstärkt wird. Diese betrifft hauptsächlich Regionen des Gehirns, die für das Gedächtnis und die exekutiven Funktionen verantwortlich sind:
- Hippocampus: Zentrale Struktur für das episodische Gedächtnis, die im Alter zunehmend an Volumen verliert. Diese Degeneration führt zu einer gestörten Speicherung und Abrufbarkeit von Informationen.
- Präfrontaler Kortex (Hirnrinde): Diese Region, die für Aufmerksamkeitssteuerung und Arbeitsgedächtnis verantwortlich ist, zeigt im Alter eine Verlangsamung der Informationsverarbeitung.
Dysfunktion der Beta-Amyloid-Akkumulation
Ein wesentlicher pathophysiologischer Mechanismus bei LKB ist die Beta-Amyloid-Akkumulation, die besonders im temporalen und präfrontalen Kortex auftritt. Es besteht eine Dosis-Wirkungs-Beziehung zwischen der Amyloid-Last und der Gedächtnisleistung. Mit zunehmender Beta-Amyloid-Akkumulation kommt es zu:
- Störungen der synaptischen Übertragung: Beta-Amyloid-Ablagerungen beeinträchtigen die Neuron-zu-Neuron-Kommunikation, insbesondere in den Regionen, die für das episodische Gedächtnis zuständig sind.
- Neuronale Dysfunktion: Der Anstieg von Beta-Amyloid führt zur Neuroinflammation (Entzündung des Nervengewebes) und letztlich zu Neuronenschäden, was den kognitiven Abbau vorantreibt.
Studien haben gezeigt, dass diese Akkumulation bereits in jüngeren Altersgruppen (30-49 Jahre) mit einer stärkeren Beeinträchtigung der Gedächtnisleistung verbunden ist, während diese Beziehung bei älteren Erwachsenen (50-69 Jahre) schwächer ausgeprägt ist [9].
Veränderung in den synaptischen Netzwerken
Die Schädigung neuronaler Netzwerke, die für Kognition und Gedächtnis verantwortlich sind, spielt eine zentrale Rolle bei der Pathogenese von LKB. Diese Schädigungen sind mit der Neuroinflammation und der Glia-Aktivierung verbunden, was die Synapsenintegrität schwächt und die neuronale Kommunikation weiter verschlechtert. Dieser Prozess führt zu einer schrittweisen Dysfunktion der kortikalen Netzwerke, was die kognitive Leistungsfähigkeit beeinträchtigt.
Zusammenfassung
Die Pathogenese der leichten kognitiven Beeinträchtigung (LKB) basiert auf einer Kombination aus neuronalen Degenerationsprozessen und Beta-Amyloid-Akkumulation, die zu einer gestörten synaptischen Übertragung und letztlich zu einer Verschlechterung der Gedächtnis- und exekutiven Funktionen führen. Der Zusammenhang zwischen der Amyloid-Last und der kognitiven Funktion zeigt eine Dosis-Wirkungs-Beziehung, wobei jüngere Menschen (30-49 Jahre) stärker betroffen sind als ältere Erwachsene (50-69 Jahre) [9].
Ätiologie (Ursachen)
Biographische Ursachen
- Blutgruppe – Blutgruppe AB (1,82-fach erhöhtes Risiko) [14]
- Lebensalter – zunehmendes Alter (> 60 Jahre)
- Hormonelle Faktoren – Prämature Menopause (vorzeitige Menopause; Klimakterium praecox) [1] – vorzeitige Ovarialinsuffizienz (POF, Premature Ovarian Failure): Eine Frau kann vorzeitig in die Menopause kommen, wenn die Eizellreserven vorzeitig aufgebraucht werden.
Das durchschnittliche Lebensalter für den Eintritt in die Menopause (Wechseljahre) liegt derzeit bei circa 51 Jahren. Wenn jedoch die Eizellreserven (wegen Follikelatresie) vorzeitig aufgebraucht sind, bleibt die Ovulation aus und die Menstruationen können ebenfalls vorzeitig aufhören. Falls dieses bei Frauen unter 40 Jahren geschieht, spricht man von einer prämaturen Menopause. Diese kommt bei 1-4 % der Frauen vor.
Verhaltensbedingte Ursachen
- Ernährung – s. u. unter Ursachen/Vitaminmangel
- Genussmittelkonsum
- Alkohol (Frau: > 20 g/Tag; Mann: > 30 g/Tag) → dosisabhängige abnehmende Dichte der grauen Substanz vor allem im Hippocampus und in Teilen der Amygdala [11]
- Tabak (Rauchen)
- Drogenkonsum
- Cannabis (Haschisch und Marihuana) [5]
- Psycho-soziale Situation
- Stress
- Fernsehkonsum (> 50. Lebensjahr und > 3,5 Stunden Fernsehkonsum) → TV-bedingte Demenz (= Abbau des verbalen Gedächtnisses) [15]
Krankheitsbedingte Ursachen
Endokrine, Ernährungs- und Stoffwechselkrankheiten (E00-E90)
- Chronische Eisenmangelanämie und Eisenmangel ohne Anämie (Blutarmut) bei Kleinkindern → Kognitionsdefizite
- Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit)
- Latente Hyperthyreose bzw. latente Hypothyreose – subklinische Schilddrüsenüber-/-unterfunktion
- Testosteronmangel
Herzkreislaufsystem (I00-I99)
- Arterielle Hypertonie (Bluthochdruck) [vaskuläre Schäden]; Hypertonie im mittleren Lebensalter (45-65 Lebensjahr) beschleunigt den geistigen Abbau (Abnahme der kognitiven Leistung); stärkster geistiger Abbau bei unbehandelter Hypertonie [3]
- Koronare Herzkrankheit (KHK; Herzkranzgefäßerkrankung) in Kombination mit Hypertonie und Diabetes mellitus [8]
Infektiöse und parasitäre Krankheiten (A00-B99)
- Chronische Meningitis − Hirnhautentzündung, die von vielen verschiedenen Erregern ausgelöst werden kann; dazu zählen Borrelien, Treponema pallidum (Syphilis) oder das HI-Virus
Psyche – Nervensystem (F00-F99; G00-G99)
- Alkoholabusus
- Chemobrain – kognitive Einschränkungen, verlangsamtes Denken, Unfähigkeit mehrere Dinge gleichzeitig zu tun (Multitasking), Konzentrationsstörungen, Vergesslichkeit (75 % bei Nicht-ZNS-Tumoren und mit 90 % bei Hirntumoren während der Therapie)
- Depression
- Nikotinabhängigkeit
- Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) – im Langzeitverlauf häufiger Einschränkungen der kognitiven Funktion [7]
Symptome und abnorme klinische und Laborbefunde, die anderenorts nicht klassifiziert sind (R00-R99)
- Gewichtsverlust im Alter – Menschen über 70 Jahren, die Gewicht verlieren, könnten ein erhöhtes Risiko für kognitive Einschränkungen haben (= Risikofaktor für Demenz) [6]
Urogenitalsystem (Nieren, Harnwege – Geschlechtsorgane) (N00-N99)
- Chronische Niereninsuffizienz (Nierenschwäche)
Verletzungen, Vergiftungen und andere Folgen äußerer Ursachen (S00-T98)
- Gewalteinwirkung auf den Schädel, nicht näher bezeichnet (z. B. Hirnkontusion (Hirnprellung))
Labordiagnosen – Laborparameter, die als unabhängige Risikofaktoren gelten
- Albuminurie [10]
- Glomeruläre Filtrationsrate (GFR) ↓
- Hyperhomocysteinämie – erhöhte Konzentration der Aminosäure Homocystein im Blut
- Hyperlipidämie – Fettstoffwechselstörung, die mit einer Erhöhung von Cholesterin und Triglyceriden und den dazugehörigen Lipoproteinen im Blut einhergeht
- Vitaminmangel:
- Cholecalciferol (Vitamin D)
- Cobalamin (Vitamin B12)
- Folsäure
- Nicotinsäure/Niacin (Vitamin B3)
- Pyridoxin (Vitamin B6)
- Thiamin (Vitamin B1)
Medikamente
- ACE-Hemmstoffe
- Antiarrhythmika
- Antibiotika
- ß-Lactam-Antibiotika
- Fluorchinolone
- Penicillin in hohen Dosen
- Alphablocker
- Anticholinergika
- Antidepressiva
- Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SSNRI)
- Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI)
- Trizyklische Antidepressiva
- Antidiabetika, orale – die Hypoglykämien auslösen
- Antiepileptika, u. a. auch Phenytoin
- Antihypertonika
- Senioren, die im Alter > 85 Jahre noch Antihypertensiva einnahmen, hatten häufiger kognitive Einschränkungen und ein erhöhtes Mortalitätsrisiko; ein niedriger systolischer Blutdruck war auch mit einem beschleunigten kognitiven Abbau assoziiert [13].
- Antikonvulsiva
- Antivertiginosa
- Benzodiazepine – betrifft die Einnahme anxiolytischer Benzodiazepine (Alprazolam, Bromazepam, Chlordiazepoxid, Clonazepam, Diazepam, Lorazepam, Oxazepam) [16]
- Betablocker
- Calciumantagonisten
- Digoxin
- Diuretika
- Glucocorticoide
- MAO-Hemmer
- Neuroleptika (D2-Antagonisten und Serotonin-Dopamin-Antagonisten)
- Nichtsteroidale Antiphlogistika (NSAR)
- Nitrate und andere Vasodilatatanzien
- Lidocain
- Opiate/Opioid-Analgetika
- Parkinsonmittel, z. B. Bromocriptin, Amantadin
- Psychopharmaka
- Sedativa; dazu zählt vor allem Diazepam
- Sedierende H1-Antihistaminika
- Statine (Statine (Simvastatin, Atorvastatin; beide Wirkstoffe sind lipophil und überwinden die Blut-Hirn-Schranke): In einer Studie hatten Ärzte bei 3,03 % der Statin-Anwender im Verlauf der Therapie unterschiedliche Störungen des Gedächtnisses (von vereinzelten Gedächtnislücken bis zu einer retrograden Amnesie) angegeben. Bei 2,31 % der Nichtanwender von Statinen traten diese Störungen ebenfalls auf. Die adjustierte Odds Ratio betrug 1,23, die bei einem 95-Prozent-Konfidenzintervall von 1,18 bis 1,28 signifikant war. Dieses weist auf einen leichten Anstieg von Gedächtnisstörungen hin. Deutlicher war die Assoziation in den ersten 30 Tagen der Therapie (0,08 % der Statin-Anwender gegenüber 0,02 % der Nicht-Anwender) [4].
- Theophyllin
Operationen
- Postoperative kognitive Dysfunktion (POCD) (protektive Assoziation längerer Bildungsdauer und POCD-Risiko)
Umweltbelastungen – Intoxikationen (Vergiftungen)
- Hochfrequente elektromagnetische Felder (z. B. Mobilfunktelefone; Smartphones, Handys) – kumulative Hirn-HF-EMF-Exposition durch Mobiltelefone kann sich negativ auf die Entwicklung der figuralen Gedächtnisleistung bei Jugendlichen auswirken [12]
- Lösungsmittel-Enzephalopathie (Veränderungen des Gehirns durch Kontakt zu Lösungsmitteln) [2]:
- Benzol (z. B. enthalten in: Motorenbenzin)
- Chlorkohlenwasserstoffe (z. B. enthalten in: Lösungen zur Trockenreinigung, Reinigungsmitteln für Motoren sowie in Farb- und Fettentfernern)
- Lösungsmittel auf Petroleumbasis (z. B. enthalten in: Möbelpflegemitteln und Teppichklebern sowie Farben und Lacken)
- Benzol (z. B. enthalten in: Motorenbenzin)
- Medikamenten-induzierte Hyponatriämie (Natriummangel) etwa durch Diuretika (wassertreibende Mittel, welche die Bildung und Ausscheidung von Harn fördern), Antiepileptika oder gelegentlich durch ACE-Hemmer – dieses kann zu einer sekundären Demenz führen
- Perchloräthylen
- Quecksilber
- Schwermetallvergiftung (Arsen, Blei, Quecksilber, Thallium)
Literatur
- Ryan J et al.: Impact of a premature menopause on cognitive function in later life. 7 MAY 2014 DOI: 10.1111/1471-0528.12828
- Sabbath EL et al.: Time may not fully attenuate solvent-associated cognitive deficits in highly exposed workers. doi: 10.1212/WNL.0000000000000413 Neurology May 13, 2014 vol. 82 no. 19 1716-1723
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