Epilepsie – Ursachen
Pathogenese (Krankheitsentstehung)
Epilepsie ist eine chronische neurologische Erkrankung, die durch wiederholte spontane epileptische Anfälle gekennzeichnet ist. Diese Anfälle resultieren aus einer Funktionsstörung des Gehirns, bei der es zu einer abnormen und synchronisierten Erregungsausbreitung zentraler Neurone (Nervenzellen) kommt. Diese pathologischen Entladungen können in verschiedenen Regionen des Gehirns auftreten und zu vielfältigen klinischen Symptomen führen, abhängig von der Lokalisation und dem Ausmaß der neuronalen Entladung.
Mechanismen der epileptischen Aktivität
Bei einem epileptischen Anfall kommt es zu plötzlichen und unkontrollierten Entladungen von Neuronen, die über das normale Aktivitätsniveau hinausgehen. Diese abnorme elektrische Aktivität breitet sich entweder lokal begrenzt (fokale Anfälle) oder über das gesamte Gehirn (generalisierte Anfälle) aus. Zu den zugrunde liegenden Mechanismen zählen:
- Ungleichgewicht zwischen Erregung und Hemmung: Im Gehirn besteht ein Gleichgewicht zwischen exzitatorischen (erregenden) Neurotransmittern (Botenstoffe), wie Glutamat, und inhibitorischen (hemmenden) Neurotransmittern, wie GABA (Gamma-Aminobuttersäure). Bei Epilepsie wird dieses Gleichgewicht gestört, wobei eine erhöhte Erregung oder eine verringerte Hemmung im Gehirn zu einer verstärkten neuronalen Aktivität führt. Diese Veränderungen können lokal oder global auftreten.
- Ionenkanal-Dysfunktion: Ionenkänale, die die elektrische Aktivität der Nervenzellen regulieren, spielen eine entscheidende Rolle in der Entstehung von epileptischen Anfällen. Mutationen in Genen, die für diese Ionenkanäle kodieren, können zu einer Dysfunktion der Kanäle führen, was die neuronale Erregbarkeit erhöht. Diese sogenannten Kanalopathien (Ionenkanalerkrankungen) können sowohl erbliche als auch erworbene Ursachen haben.
- Synaptische Plastizität und neuronale Netze: Bei der Epilepsie kommt es oft zu einer Veränderung der synaptischen Verbindungen zwischen Nervenzellen, was zu einer langfristigen Übererregbarkeit neuronaler Netze führt. Diese Veränderungen, die als epileptische Plastizität bezeichnet werden, tragen zur Chronifizierung der Epilepsie bei.
Trigger von epileptischen Anfällen
Epileptische Anfälle können durch eine Vielzahl von externen und internen Reizen (Triggern) ausgelöst werden. Zu den häufigsten Triggern zählen:
- Schlafstörungen: Schlafmangel oder gestörter Schlaf (z. B. durch Schlafapnoe) erhöht das Risiko für Anfälle. Dies ist auf eine Anfallstriggerung durch Arousal (Aktivierungsgrad des Zentralnervensystems) zurückzuführen.
- Flackerlicht: Bei Patienten mit photosensitiver Epilepsie kann flackerndes Licht (z. B. Videospiele, Blitzlichter) Anfälle auslösen.
- Fieber: Vor allem bei Kindern können hohe Temperaturen zu fieberbedingten Krampfanfällen führen.
- Absetzen von Antikonvulsiva: Das plötzliche Absetzen von Antiepileptika erhöht das Risiko für Anfälle oder einen Status epilepticus (länger anhaltender Anfall).
- Alkoholexzesse: Alkoholkonsum, insbesondere Alkoholentzug, ist ein häufiger Trigger für Anfälle.
Hormonelle Einflüsse auf Anfallshäufigkeit
Bei Frauen gibt es Hinweise darauf, dass hormonelle Schwankungen während des Menstruationszyklus die Anfallshäufigkeit beeinflussen können. Diese sogenannte katameniale Epilepsie wird durch Schwankungen von Östrogen und Progesteron beeinflusst:
- Östrogene: Diese Hormone wirken prokonvulsiv (anfallsfördernd), da sie die neuronale Erregbarkeit erhöhen.
- Progesteron: Progesteron hat eine antikonvulsive Wirkung, da es die hemmende GABA-Aktivität verstärkt.
Die Anfallshäufigkeit ist häufig in den folgenden Phasen des Zyklus erhöht:
- Perimenstruell (um den Zeitpunkt der Menstruation): Hier kommt es zu einem Abfall des Progesteronspiegels.
- Periovulatorischer Peak (um den Eisprung): Der plötzliche Anstieg von Östrogen kann zu vermehrten Anfällen führen.
- Zweite Zyklushälfte bei Corpus-luteum-Insuffizienz (Progesteronmangel): Ein unzureichender Progesteronanstieg in der Lutealphase kann die Anfallskontrolle negativ beeinflussen.
Besonderheiten bei pädiatrischen Patienten
Bei pädiatrischen Patienten mit Status epilepticus (anhaltende oder wiederkehrende epileptische Anfälle ohne vollständige Erholung dazwischen) liegen in etwa 50 % der Fälle bereits bekannte neurologische Vorerkrankungen oder frühere Epilepsien vor, die eine Statusneigung aufweisen. Bei diesen Patienten besteht eine erhöhte Anfälligkeit für wiederkehrende und schwerwiegende Anfälle.
Zusammenfassung
Die Pathogenese der Epilepsie beruht auf einer Funktionsstörung des Gehirns, bei der es zu einer abnormen neuronalen Erregungsausbreitung kommt. Die Ursachen sind vielfältig und umfassen ein Ungleichgewicht zwischen erregenden und hemmenden Neurotransmittern, Dysfunktionen der Ionenkanäle und Veränderungen der neuronalen Netzwerke. Verschiedene Trigger wie Schlafstörungen, Flackerlicht, Fieber, Alkoholkonsum und hormonelle Schwankungen können Anfälle auslösen. Bei pädiatrischen Patienten mit Status epilepticus sind häufig neurologische Vorerkrankungen vorhanden.
Ätiologie (Ursachen)
Biographische Ursachen
- Genetische Belastung durch Eltern, Großeltern
- Ursache von Epilepsien bei Kindern sind u. a. Mutationen im Natriumkanal-Gen SCN2A
- Idiopathische generalisierte Epilepsie: veränderte Gene, die für die inhibitorischen GABAA-Rezeptoren kodieren [2]
Verhaltensbedingte Ursachen
- Ernährung
- Mikronährstoffmangel (Vitalstoffe) – siehe Prävention mit Mikronährstoffen
- Genussmittelkonsum
- Alkohol – Übermäßiger Alkoholkonsum (aber auch Alkoholentzug)
- Nikotin aus E-Zigaretten – einer akuten Überdosierung von Nikotin kann tonisch-klonische Anfälle auslösen (35 Einzelfälle) [3]
In Deutschland sind E-Zigaretten sicherer, da die Nikotinkonzentration auf maximal 20 mg/ml begrenzt ist. In den USA sind Kapseln mit 50 mg/ml erhältlich.
- Drogenkonsum
- Schlafqualität
- Schlafdeprivation – willentlich oder unwillentlich herbeigeführter Entzug von Schlaf
Krankheitsbedingte Ursachen
- Alzheimer-Erkrankung
- Anomalien (Missbildungen) des zentralen Nervensystems
- Durchblutungsstörungen im Gehirn
- Elektrolytverschiebungen (Abweichung von der normalen Elektrolytkonzentration/Konzentration der Blutsalze)
- Hyper- und Hyponatriämie (Natriumüberschuss und -mangel) [vornehmlich Hyponatriämie]
- Hypocalcämie (Calciummangel)
- Hypomagnesiämie (Magnesiummangel)
- Entwicklungsstörungen bei Kindern
- Enzephalitiden (Gehirnentzündungen): u. a. Autoimmunenzephalitis – durch Antikörper der Immunglobulin-Klasse G (IgG) gegen körpereigenes Gewebe ausgelöste Enzephalitis; als häufigste Auslöser einer Antikörper-vermittelten Enzephalitis wurden Immunglobuline gegen NMDA-Rezeptoren und das sogenannte Leucin-rich glioma inactivated protein 1 (LGI1) identifiziert; die unterschiedlichen Auslöser führen zu unterschiedlichen Krankheitsbildern:
- Anti-NMDA-Rezeptor-Enzephalitis: Epilepsien (Anfälle), psychotisches Verhalten, Bewegungsstörungen und ggf. auch intensivpflichtige Störungen des vegetativen Nervensystems
- Limbische Enzephalitis mit LGI1-Antikörpern: Epilepsien und Gedächtnisstörungen
- Fieber → Fieberkrampf, prolongierten (damit komplizierten) (ca. 30 % der Fälle bei Kindern mit Status epilepticus)
- Hirnblutungen
- Hirntumoren
- Hirnmetastasen (Tochtergeschwülste von Tumoren aus anderen Körperregionen)
- Hormonelle Störungen (Frauen betreffend: Östrogene schreibt man eine anfallsfördernde Wirkung zu; Progesteron hat eine anfallshemmende Wirkung)
- Infektionen
- Intoxikationen (Vergiftungen)
- Leberversagen
- Medikamentenentzug
- Nierenversagen
- Porphyrie bzw. akute intermittierende Porphyrie (AIP); genetische Erkrankung mit autosomal-dominantem Erbgang; Patienten mit dieser Krankheit weisen eine Reduktion der Aktivität des Enzyms Porphobilinogen-Desaminase (PBG-D) von 50 Prozent auf, die für die Porphyrinsynthese ausreicht. Auslöser einer Porphyrieattacke, die einige Tage, aber auch Monate dauern kann, sind Infektionen, Medikamente oder Alkohol. Das klinische Bild dieser Anfälle präsentiert sich als akutes Abdomen oder als neurologische Ausfälle, die einen letalen Verlauf nehmen können. Die Leitsymptome der akuten Porphyrie sind intermittierende neurologische und psychiatrische Störungen. Im Vordergrund steht häufig eine autonome Neuropathie, die abdominelle Koliken (akutes Abdomen), Nausea (Übelkeit), Erbrechen oder Obstipation (Verstopfung) verursacht sowie eine Tachykardie (zu schneller Herzschlag: > 100 Schläge pro Minute) und ein labiler Hypertonus (Bluthochdruck).
- Pyridoxin (Vitamin B6)-Mangel beim Neugeborenen
- Schädel-Hirn-Trauma (SHT)
- Toxoplasmose – 2,25-fach höheres Risiko für eine Epilepsie [1]
- Vaskulitiden (Gefäßentzündungen auf Grund von Autoimmunerkrankungen)
Labordiagnosen – Laborparameter, die als unabhängige Risikofaktoren gelten
- Hyperglykämie (Überzuckerung)
- Hypernatriämie (Natriumüberschuss)
- Hypocalcämie (Calciummangel)
- Hypoglykämie (Unterzuckerung)
- Hyponatriämie (Natriummangel)
- Hypomagnesiämie (Magnesiummangel)
Medikamente
- Analgetika (Schmerzmittel)
- Antibiotika
- Direkte orale Antikoagulantien, kurz DOAK bzw. NOAK (neue orale Antikoagulantien) – Patienten mit Vorhofflimmern haben unter DOAKs ein höheres Risiko für Epilepsie bzw. Krampfanfälle als mit Phenprocoumon (Vitamin-K-Antagonisten (VKA): Marcumar, Falithrom, weitere Generika) [5].
Hinweis: Die Autoren weisen darauf hin, dass unter Phenprocoumon möglicherweise der Schutz vor stummen Hirninfarkten besser ist als unter DOAK. - Flumazenil – Gegenmittel bei Beruhigungsmittelvergiftung – kann bei Beruhigungsmittelabhängigkeit zu Krampfanfällen führen
- Immunsuppressiva – Medikamente, die die körpereigene Abwehr drosseln
- Lokalanästhetika – Mittel zur örtlichen Betäubung
- Methylphenidat – Risiko eines epileptischen Anfalls in den ersten 30 Tagen der Methylphenidattherapie erhöht [4]
- Psychopharmaka – Medikamente, die bei psychischen Erkrankungen eingesetzt werden
- Theophyllin – Medikament zur Behandlung von Lungenerkrankungen
- Virostatika – Medikamente zur Bekämpfung von Infektionen durch Viren
Operationen
- Bei Operationen am Gehirn kann es als Komplikation zu einem Krampfanfall kommen
Umweltbelastung – Intoxikationen (Vergiftungen)
- Stroboskoplicht in Klubs → Patienten mit einer bekannten lichtempfindlichen Epilepsie sollten solche Veranstaltungen meiden bzw. Vorsichtsmaßnahmen ergreifen
Weitere Ursachen
- Kontrastmittel in der Radiologie
Literatur
- Ngoungou EB et al.: Toxoplasmosis and epilepsy– systematic review and meta analysis. PLoS Negl Trop Dis. 2015 Feb 19;9(2):e0003525. doi: 10.1371/journal.pntd.0003525. eCollection 2015.
- May P et al.: Rare coding variants in genes encoding GABAA receptors in genetic generalised epilepsies: an exome-based case-control study. Lancet Neurology Volume 17, Issue 8, P 699-708, August 01, 2018 doi: https://doi.org/10.1016/S1474-4422(18)30215-1
- Safety Reporting Portal
- Man KKC et al.: Association between MPH treatment and risk of seizure. Lancet Child Adolesc Health 2020;4:435-43 doi: 10.1016/S2352-4642(20)30100-0
- Platzbecker K et al.: In atrial fibrillation epilepsy risk differs between oral anticoagulants: active comparator, nested case-control study. Europace 2023; https://doi.org/10.1093/europace/euad087