Einnässen (Enuresis) – Ursachen

Pathogenese (Krankheitsentstehung)

Die Enuresis (Einnässen) ist eine häufige urologische Erkrankung im Kindesalter, die sich durch unwillkürliches Wasserlassen charakterisiert. Sie wird nach nichtorganischen (funktionellen) und organischen Ursachen unterteilt. Die Pathogenese ist komplex und multifaktoriell, wobei sowohl Entwicklungsverzögerungen als auch funktionelle Störungen eine Rolle spielen. Es gibt verschiedene Unterformen der Enuresis, die unterschiedliche Ursachen und Symptome aufweisen.

Nichtorganische (funktionelle) Enuresis

  • Monosymptomatische Enuresis nocturna (NEM) – rein nächtliches Einnässen:
    • Diese Form der Enuresis tritt ausschließlich während des Schlafs auf und ist die häufigste Form der Enuresis. Sie betrifft Kinder, die keine zusätzlichen Blasenprobleme am Tag aufweisen. Die genaue Pathogenese ist bislang nicht vollständig geklärt, man vermutet jedoch, dass eine Entwicklungsverzögerung der Blasenkontrolle in Kombination mit einer Störung der Urinproduktion vorliegt. Ein möglicher Faktor ist ein fehlender nächtlicher Anstieg des antidiuretischen Hormons (ADH), das normalerweise die Urinproduktion während der Nacht reduziert.
  • Nicht monosymptomatische Enuresis nocturna (Non-MEN) – nächtliches Einnässen mit zusätzlichen Tagessymptomen:
    • Diese Form der Enuresis geht mit Tagessymptomen einher, die auf Blasenfunktionsstörungen hinweisen, wie:
      • Überaktive Blase (overactive bladder, OAB): Kinder mit einer überaktiven Blase verspüren einen imperativen Harndrang (plötzlich auftretender, starker Harndrang, der schwer kontrollierbar ist) und eine verringerte Blasenkapazität. Dies führt zu häufigem und plötzlichem Einnässen sowohl tagsüber als auch nachts.
      • Habitueller Miktionsaufschub: Kinder, die das Wasserlassen bewusst hinauszögern (z. B. aufgrund von Ablenkung oder Abneigung gegen das Toilettengehen), leiden häufig unter unkontrolliertem Einnässen tagsüber und gelegentlich auch nachts.
      • Dyskoordinierte Miktion (Entleerungsstörung der Harnblase): Dies tritt auf, wenn der Beckenboden während des Wasserlassens angespannt wird, was eine Detrusor-Sphinkter-Dyskoordination verursacht. Die Blase kann sich nicht richtig entleeren, was zum Einnässen führt.
      • Unteraktive Blase (underactive bladder): Bei einer unteraktiven Blase, die häufig infolge eines chronischen Miktionsaufschubs auftritt, kann die Blase große Mengen Harn zurückhalten, was ebenfalls zu Problemen beim Wasserlassen führt. Dies tritt häufiger bei Mädchen auf.

Organische Enuresis

Die organische Enuresis ist seltener und wird durch anatomische oder neurologische Störungen verursacht, wie z. B.:

  • Anatomische Störungen:
    • Nierendoppelanlage und ektoper Harnleiter: Dies führt zu einem ständigen Harnabgang in kleinen Mengen (Tag und Nacht), da der Harnleiter nicht korrekt in die Blase mündet.
    • Fehlbildungen der Harnröhre: Strukturelle Anomalien der Harnröhre können die Blasenentleerung behindern und zu unwillkürlichem Harnabgang führen.
  • Neurologische Störungen:
    • Kongenitale (angeborene) Störungen: Dazu gehören Störungen wie Myelomeningozele (angeborene hernienartige Fehlbildung des Rückenmarks, der Rückenmarkshaut und der Wirbelsäule) und Spina bifida ("offener Rücken"), die die Nervenversorgung der Blase beeinträchtigen und eine neurogene Blase verursachen.
    • Erworbene Störungen: Tumore oder Entzündungen des Nervensystems, die die Blaseninnervation (Nervenversorgung der Blase) stören, können ebenfalls zu Enuresis führen.
  • Polyurische Nierenerkrankungen:
    • Erkrankungen wie Diabetes insipidus oder chronische Niereninsuffizienz (Nierenschwäche) führen zu einer erhöhten Urinproduktion und können Einnässen verursachen.

Multifaktorielle Ursachen und Komorbiditäten

Die Enuresis wird durch eine Vielzahl von Komorbiditäten (Begleiterkranungen) beeinflusst, darunter emotionale und psychische Belastungen. Kinder mit Enuresis können oft unter psychischen Problemen wie Angst und geringem Selbstwertgefühl leiden, die die Kontrolle über die Blasenfunktion weiter verschlechtern. Verhaltensprobleme und Schlafstörungen sind häufige Begleiterscheinungen bei Kindern mit Enuresis.

Pathogenese der nichtorganischen Enuresis

Die Pathogenese der nichtorganischen Enuresis, insbesondere der monosymptomatischen Enuresis nocturna (NEM), ist bislang nicht vollständig verstanden. Es wird vermutet, dass eine Entwicklungsverzögerung der zentralnervösen Blasenkontrolle (fehlende nächtliche Unterdrückung der Blasenaktivität) eine zentrale Rolle spielt. Zusätzlich kann eine Dysregulation der nächtlichen Urinproduktion durch einen Mangel an antidiuretischem Hormon (ADH) zur Entstehung der nächtlichen Enuresis beitragen. Ein fehlendes oder unterdrücktes Erwachen bei voller Blase ist ein weiterer Faktor, der das Einnässen begünstigt.

Zusammenfassung

Die Enuresis ist eine komplexe, multifaktorielle Erkrankung, die sowohl funktionelle als auch anatomische Ursachen haben kann. Die nichtorganische Enuresis (insbesondere die monosymptomatische Enuresis nocturna) ist am häufigsten und wird durch Entwicklungsverzögerungen der Blasenkontrolle und Dysregulation der Urinproduktion verursacht. Organische Ursachen, wie anatomische Fehlbildungen oder neurologische Erkrankungen, sind seltener. Die Behandlung der Enuresis erfordert oft eine Kombination aus Verhaltenstherapie, medikamentöser Therapie und in einigen Fällen chirurgischen Eingriffen.

Ätiologie (Ursachen)

Biographische Ursachen

  • Genetische Belastung
    • Genetische Erkrankungen
      • Long-QT-Syndrom Typ II [verlängertes QT-Intervall)
      • Ochoa-Syndrom – genetische Erkrankung mit autosomal-rezessvivem Erbgang, die durch die Assoziation von schwerer Miktionsstörung (Störungen der Blasenentleerung) und charakteristischem Gesichtsausdruck gekennzeichnet ist; Patienten sind inkontinent (Unvermögen den Herrn zu halten) und haben Harnwegsinfekte (HWI) und eine Hydronephrose (Erweiterung des Nierenbeckens und/oder der Nierenkelche oder auch des Harnleiters durch eine Abflussstörung im Bereich der ableitenden Harnwege, die mittel- und langfristig zu einer Zerstörung des Nierengewebes führt.).
      • Spina bifida ‒ Spaltbildung in der Wirbelsäule, die während der Embroynalentwicklung auftritt (sporadisches, selten auch familiäres Auftreten)

Krankheitsbedingte Ursachen

Angeborene Fehlbildungen, Deformitäten und Chromosomenanomalien (Q00-Q99)

  • Blasenekstrophie (Verlagerung der gespaltenen Blase im Bereich der vorderen Blasen- (und Bauch-)Wand zwischen das gespaltene Schambein und die Mm. recti abdominis bei gespaltener Bauchdecke, kombiniert mit offener Harnröhre), Epispadie (Fehlbildung der Harnröhre mit oberer Harnröhrenspaltung), Kloakenfehlbildung
  • Ektope Harnleitermündung beim Mädchen (meist Doppelniere mit Dysplasie (Fehlbildung) der oberen Anlage und Mündung des zugehörigen Ureters (Harnleiter) unterhalb der Sphinkterebene/Schließmuskel)
  • Fehlbildungen der Harnröhre
  • Infravesikale Obstruktion (schwere Verengung der Harnröhre) beim Jungen
  • Fehlbildungen des Os sacrum (Kreuzbein) mit spinaler Dysraphie (Fehlbildung beim Verschluss des Neuralrohres)
  • Harnröhrenklappen
  • Myelomeningozele ‒ angeborene Fehlbildung des Rückenmarkes durch mangelnden Verschluss des Neuralrohres mit offenen Wirbelbögen und Ausstülpung des Durasackes
  • Ochoa-Syndrom (s. u. "Biographische Ursachen")
  • Spina bifida (s. u. "Biographische Ursachen")
  • Spina bifida occulta ‒ nicht sichtbare Form der Spina bifida
  • Tethered Cord-Syndrom ‒ neuromuskuläre/orthopädische Funktionsstörung, die durch ein fixiertes Filum terminale (Rückenmarksende) bedingt ist
  • Sakralagenesie ‒ genetische bedingtes Fehlen der Kreuzbeinabschnitte des Rückenmarks

Endokrine, Ernährungs- und Stoffwechselkrankheiten (E00-E90)

  • Diabetes insipidus ‒ angeborene oder erworbene Krankheit, die durch eine vermehrte Urinausscheidung (Polyurie) und ein gesteigertes Durstgefühl mit Polydipsie (vermehrtem Trinken) charakterisiert ist

Kreislaufsystem (I00-I99)

  • Herzrhythmusstörungen – arrhythmogene Synkopen (kurzzeitige Bewusstlosigkeit aufgrund einer Rhythmusstörung) können mit nächtlichem Einnässen einhergehen 

Neubildungen – Tumorerkrankungen (C00-D48)

  • Tumoren des Nervensystems, nicht näher bezeichnet (z. B. spinale Tumoren)

Psyche – Nervensystem (F00-F99; G00-G99)

  • Infektionen des Nervensystems, nicht näher bezeichnet (z. B. Enzephalitis (Gehirnentzündung), Poliomyelitis (Kinderlähmung), Neuroborreliose/Komplikation der Lyme-Borreliose bei der Hirn und Nervenbahnen befallen sind)
  • Multiple Sklerose (MS)

Symptome und abnorme klinische und Laborbefunde, die anderenorts nicht klassifiziert sind (R00-R99)

  • Polyurie (krankhaft erhöhte Urinausscheidung)/Polydipsie (krankhaft gesteigerten Durst)

Urogenitalsystem (Nieren, Harnwege – Geschlechtsorgane) (N00-N99)

  • Chronische Niereninsuffizienz (Nierenschwäche)
  • Symptomatische Zystitis (Blasenentzündung)
  • Tubulopathien ‒ Nierenfunktionsstörungen, die durch eine Einschränkung des Tubulusapparates bedingt sind
  • Vaginaler Influx (ICCS: vaginal reflux) – dieser führt bei Miktion (Wasserlassen) zum Harnträufeln bis zu 10 Minuten nach dem Verlassen der Toilette; Ursache kann eine gering ausgeprägte Form einer weiblichen Hypospadie (angeborene Entwicklungsstörung der Harnröhre (Urethra); die Mündung der Harnröhre (Meatus urethrae externus) ist dabei weiter ventral/proximal (d. h. auf der Unterseite) gelegen)) oder auch eine Labiensynechie (die kleinen Schamlippen haften aneinander) sein

Weitere Ursachen

  • Syndrom der nicht neurogenen Blase (Hinman-Syndrom; Synonyme: „nicht-neurogene neurogene Blase“ (NNNB), engl. auch lazy bladder syndrome und infrequent voider syndrome) ‒ seltene Erkrankung, deren Symptome, denen der neurogenen Blase gleichen; eine neurologische Ursache ist jedoch nicht nachweisbar