Bipolare Störung (manisch-depressive Erkrankung) – Ursachen

Pathogenese (Krankheitsentstehung)

Die Ursache der bipolaren Störung wird als multifaktoriell angesehen, wobei genetische, biologische und umweltbedingte Faktoren in einem komplexen Zusammenspiel stehen. Die bipolare Störung ist gekennzeichnet durch wiederkehrende manische, hypomanische und depressive Episoden, deren Entstehung und Verlauf stark von individuellen Risikofaktoren abhängen.

Genetische Faktoren

Genetische Prädispositionen spielen eine entscheidende Rolle in der Entstehung der bipolaren Störung. Zwillings- und Familienstudien zeigen eine starke Heritabilität, wobei die Wahrscheinlichkeit, dass ein Verwandter ersten Grades an einer bipolaren Störung erkrankt, deutlich erhöht ist. Mehrere Gene, die mit der Regulation von Neurotransmittern wie Dopamin, Serotonin und Glutamat zusammenhängen, wurden als potenzielle Risikofaktoren identifiziert. Dysfunktionen in diesen Neurotransmittersystemen tragen zu den affektiven Schwankungen bei, die für die bipolare Störung charakteristisch sind.

Biologische und neurobiologische Faktoren

  • Neurotransmitter-Dysregulation: Es wird angenommen, dass Störungen in der Dopamin-, Serotonin- und Noradrenalin-Transmission eine zentrale Rolle in der Entstehung der bipolaren Störung spielen. Insbesondere eine Überaktivität des dopaminergen Systems wird mit manischen Episoden in Verbindung gebracht, während depressive Episoden durch eine Dysfunktion (Fehlfunktion) des serotonergen Systems verursacht werden könnten.
  • Neuronale Netzwerke und Gehirnstruktur: Bildgebende Verfahren zeigen strukturelle und funktionelle Abweichungen in verschiedenen Hirnregionen, insbesondere im präfrontalen Kortex, der für die Emotionsregulation zuständig ist, sowie in limbischen Strukturen wie der Amygdala, die an der Verarbeitung emotionaler Reize beteiligt sind. Eine reduzierte Volumenmasse im Hippocampus (paarige Hirnstruktur, die zum limbischen System gehört) und eine gestörte Konnektivität (Verbindung) zwischen diesen Bereichen könnten die gestörte Stimmungsregulation bei bipolaren Patienten erklären.
  • Virusinfektionen: Eine mögliche Rolle von Herpesviren in der Pathogenese der bipolaren Störung wurde in einigen Studien diskutiert. Besonders das Humanes Herpesvirus 6 (HHV-6) wird dabei untersucht. Es wurde eine hohe Infektionsrate dieses Virus in Purkinje-Neuronen von Patienten mit bipolaren und schweren depressiven Störungen nachgewiesen, was darauf hindeutet, dass virale Infektionen möglicherweise einen Einfluss auf die neuronale Funktion und Stimmungsschwankungen haben könnten [4].

Risikofaktoren für häufig wiederkehrende Episoden

  • Weibliches Geschlecht: Frauen sind häufiger von wiederkehrenden Episoden betroffen, insbesondere von depressiven Phasen.
  • Junges Erkrankungsalter: Ein frühes Erkrankungsalter ist oft mit einem schwereren Verlauf und häufigeren Episoden assoziiert.
  • Schwerwiegende Lebensereignisse: Traumatische oder stressreiche Ereignisse können als Auslöser für neue Episoden wirken.
  • Gemischte Episoden: Phasen, die sowohl depressive als auch manische Symptome gleichzeitig aufweisen, sind besonders schwer zu behandeln und mit häufigen Rückfällen assoziiert.
  • Psychotische Symptome: Das Auftreten von psychotischen Symptomen während manischer oder depressiver Episoden erhöht das Risiko für ein chronisch wiederkehrendes Muster.
  • Rapid Cycling: Ein schneller Wechsel zwischen manischen und depressiven Phasen (≥ 4 Episoden in 12 Monaten) gilt als ein wichtiger Prädiktor für eine instabile Krankheitsentwicklung.
  • Ungenügendes Ansprechen auf die Therapie: Ein unzureichendes Ansprechen auf phasenprophylaktische Behandlungen kann das Risiko für wiederholte Episoden erhöhen.

Risikofaktoren für einen chronischen Verlauf

  • Häufige Episoden: Wiederholte affektive Episoden können zu einer schwereren und chronischen Krankheitsentwicklung führen.
  • Prämorbide Persönlichkeit: Bestimmte Persönlichkeitsmerkmale wie emotionale Instabilität oder Impulsivität können die Erkrankung beeinflussen.
  • Schlechte Compliance: Patienten, die ihre Medikamente nicht regelmäßig einnehmen oder die Therapie abbrechen, haben ein höheres Risiko für chronische Verläufe.
  • Ungenügendes Ansprechen auf die Therapie: Ein schlechtes Ansprechen auf Akut- oder phasenprophylaktische Therapien erhöht die Wahrscheinlichkeit eines chronischen Verlaufs.
  • Weitere psychische oder somatische Erkrankungen: Begleiterkrankungen wie Angststörungen, Suchterkrankungen oder somatische Erkrankungen erschweren die Behandlung und führen häufig zu einem ungünstigeren Verlauf.
  • Zusätzlicher Substanzmissbrauch: Der Konsum von Alkohol oder Drogen verschlechtert häufig den Krankheitsverlauf und erschwert die Therapie.

Zusammenfassung

Die Pathogenese der bipolaren Störung ist komplex und multifaktoriell. Genetische Prädispositionen, Störungen in den Neurotransmittersystemen und strukturelle Abweichungen im Gehirn spielen eine entscheidende Rolle. Eine mögliche Beteiligung von Herpesviren, insbesondere HHV-6, wird diskutiert. Die individuelle Krankheitsentwicklung wird durch verschiedene Risikofaktoren wie Geschlecht, Erkrankungsalter und das Vorliegen psychotischer Symptome beeinflusst. Ein ungünstiger Krankheitsverlauf kann durch unzureichendes Ansprechen auf die Therapie, häufige Episoden und Komorbiditäten begünstigt werden.

Ätiologie (Ursachen)

Biographische Ursachen

  • Genetische Belastung durch Eltern, Großeltern; auf 60 bis 85 Prozent schätzen Experten den Beitrag der Erbanlagen
    • Genetisches Risiko abhängig von Genpolymorphismen:
      • Gene/SNPs (Einzelnukleotid-Polymorphismus; engl.: single nucleotide polymorphism):
        • Gene: ANK3
        • SNP: rs4948418 im Gen ANK3
          • Allel-Konstellation: TT (2,10-fach)
          • Allel-Konstellation: CT (1,45-fach)
          • Allel-Konstellation: CC (0,94-fach)
    • In einer genomweiten Assoziationsstudie (GWAS) konnten insgesamt 30 Regionen nachgewiesen werden, die mit einer bipolaren Störung in Zusammenhang stehen; zudem konnten zwei Unterarten der Krankheit genetisch unterschieden werden [5]:
      • Typ I scheint mit ausgeprägteren manischen und depressiven Phasen auf genetischer Ebene eher mit der Schizophrenie in Zusammenhang zu stehen
      • Typ II deutet auf einen „milderen“ Verlauf mit einer Verwandtschaft mit der Depression hin
    • Inzwischen sind 64 Genorte für die Krankheit nachgewiesen worden [7]: Risiko-Allele für bipolare Störungen wurden an Genen in synaptischen Signalwegen und im Gehirn exprimierten Genen angereichert, insbesondere solchen mit hoher Expressionsspezifität in Neuronen des präfrontalen Cortex (Frontallappens der Großhirnrinde) und Hippocampus (Vermittler zwischen dem Kurz- und dem Langzeitgedächtnis).
  • Positive Familienanamnese
  • Temperamentsauffälligkeiten

Verhaltensbedingte Ursachen

  • Ernährung
    • Mangelernährung und Mikronährstoffdefizite – Ein Defizit an Omega-3-Fettsäuren, Zink und Magnesium könnte das Risiko für Stimmungsschwankungen erhöhen.
    • Hoher Koffein- und Zuckerkonsum – Stimuliert das Nervensystem und verschlechtert Schlaf sowie Stimmungsstabilität.
  • Genussmittelkonsum
    • Alkoholmissbrauch – Regelmäßiger Alkoholkonsum erhöht das Risiko für manische Episoden und Stimmungsinstabilität [1].
    • Tabakrauchen – Nikotinkonsum kann die Neurotransmitter-Balance beeinflussen und die Krankheitsausbrüche begünstigen.
  • Drogenkonsum
    • Cannabis (Haschisch und Marihuana) – Cannabisgebrauch verschlechtert den Verlauf und erhöht die Hospitalisierungsrate bei bipolaren Störungen [1].
    • Stimulanzien und Psychopharmaka-Missbrauch – Kokain, Amphetamine und unkontrollierter Medikamentengebrauch triggern manische Phasen.
  • Körperliche Aktivität
    • Bewegungsmangel – Fehlende körperliche Aktivität kann zu einer verstärkten Stimmungslabilität führen.
  • Schlafqualität
    • Störung des zirkadianen Rhythmus – Nächtliche Überaktivität und Tagesschläfrigkeit begünstigen manische Episoden [2].
    • Unregelmäßige Schlafgewohnheiten – Schlafmangel und -deprivation verschlechtern die Stimmungsregulation.
  • Psycho-soziale Situation
    • Chronischer Stress – Dauerhafte Stressbelastung erhöht das Risiko für bipolare Episoden.
    • Traumatische Erlebnisse – Frühkindliche Traumata, Vernachlässigung oder Missbrauch sind bedeutende Risikofaktoren.
    • Familiäre Konflikte – Belastende Beziehungen oder fehlende soziale Unterstützung verschlechtern den Verlauf der Erkrankung.

Umweltbelastung – Intoxikationen (Vergiftungen) 

  • Regionen mit besonders schlechter Luftqualität [6]

Literatur

  1. Strakowski SM, DelBello MP, Fleck DE, et al. Effects of co-occurring cannabis use disorders on the course of bipolar disorder after a first hospitalization for mania. Arch Gen Psychiatry 2007; 64: 57-64.
  2. Lyall LM et al.: Association of disrupted circadian rhythmicity with mood disorders, subjective wellbeing, and cognitive function: a cross-sectional study of 91 105 participants from the UK Biobank. Lancet Psychiatry Published: 15 May 2018 doi: https://doi.org/10.1016/S2215-0366(18)30139-1
  3. Khambadkone SG et al.: Nitrated meat products are associated with mania in humans and altered behavior and brain gene expression in rats. Mol Psychiatry. 2018 Jul 18. doi: 10.1038/s41380-018-0105-6.
  4. Prusty BK et al.: Active HHV-6 infection of cerebellar Purkinje cells in mood disorders. Front. Microbiol. online August 2018 doi: 10.3389/fmicb.2018.01955
  5. Stahl EA et al.: Genome-wide association study identifies 30 Loci Associated with Bipolar Disorder, Nature Genetics Nature Genetics 2019;51:793-803 doi 10.1038/s41588-019-0397-8
  6. Khan A et al.: Environmental pollution is associated with increased risk of psychiatric disorders in the US and Denmark PLOS Biology August 20, 2019 https://doi.org/10.1371/journal.pbio.3000353
  7. Mullins N, Forstner AJ et al.: Genome-wide association study of more than 40,000 bipolar disorder cases provides new insights into the underlying biology. Nature Genetics, doi: 10.1038/s41588-021-00857-4