Autismus – Anamnese

Die Anamnese (Krankengeschichte) stellt einen wichtigen Baustein in der Diagnostik der Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) dar.

Familienanamnese

  • Gibt es in Ihrer Familie Fälle von Entwicklungsstörungen, wie z. B. Lernschwierigkeiten, ADHS oder andere neuropsychiatrische Erkrankungen?
  • Sind Fälle von Epilepsie oder genetischen Syndromen, wie dem Fragilen-X-Syndrom oder Rett-Syndrom, bekannt?
  • Gab es in Ihrer Familie soziale Schwierigkeiten oder ausgeprägte soziale Isolation?

Soziale Anamnese

  • Wie gestaltet sich die tägliche Betreuung des Kindes? Gibt es wechselnde Betreuungspersonen oder eine konstante Bezugsperson?
  • Sind Lehrkräfte oder Betreuungspersonal auf Entwicklungsauffälligkeiten hingewiesen worden? Falls ja, welche wurden bemerkt?
  • Fühlen Sie sich als Eltern durch die Erziehung stark belastet? Haben sie Unterstützung durch Familie oder Institutionen?

Aktuelle Anamnese/Systemanamnese (somatische und psychische Beschwerden)

[Empfohlen: Fremdanamnese → Eltern]

  • Welche Symptome sind Ihnen an Ihrem Kind aufgefallen?
  • Ist die Entwicklung Ihres Kindes altersgerecht?
  • Spricht Ihr Kind? Wenn ja, wann hat es zum ersten Mal gesprochen?
  • Wie verläuft die motorische Entwicklung?
  • Zeigt Ihr Kind:
    • stereotype Verhaltensweisen?
    • Widerstand gegen Veränderungen?
    • eingeschränkte Interessen?
  • Ist Ihr Kind reizbar, distanzlos, hat es ritualisierte Abläufe?
  • Welche Hobbys hat Ihr Kind?
  • Spielt Ihr Kind mit Gleichaltrigen oder bevorzugt es eher eigenständiges Spiel?
  • Zeigt Ihr Kind eine Kontaktstörung, eine Abkapselung und/oder eine Veränderungsangst?
  • Hat Ihr Kind Freunde/Freundschaften?
  • Zeigt Ihr Kind Über- oder Unterempfindlichkeit gegenüber Licht, Geräuschen, Berührungen oder Geschmäckern?
  • Nutzt Ihr Kind alternative Kommunikationsformen, wie Zeichensprache oder Bildkarten, falls verbale Kommunikation eingeschränkt ist?
  • Gibt es deutliche Probleme mit der Emotionsregulation, z. B. Wutausbrüche oder anhaltende Traurigkeit?
  • Hat Ihr Kind Schwierigkeiten beim Einschlafen, Durchschlafen oder frühes Erwachen?
  • Im Erwachsenenalter:
    • Schwierigkeiten beim Eingehen sozialer Beziehungen bzw. diese aufrechtzuerhalten?
    • Schwierigkeiten eine Anstellung/Ausbildung zu bekommen bzw. diese aufrechtzuerhalten?
    • Auffällige (neuro)psychiatrische Anamnese?

Vegetative Anamnese inkl. Ernährungsanamnese

  • Gibt es Einschränkungen bei der Auswahl der Nahrung (z. B. bevorzugt nur bestimmte Konsistenzen oder Farben)?
  • Leidet Ihr Kind unter Hinweisen auf eine gastrointestinale Beteiligung (z. B. Verstopfung, Durchfall, Blähungen)?

Eigenanamnese inkl. Medikamentenanamnese

  • Gab es Komplikationen während der Geburt, wie Sauerstoffmangel oder Frühgeburtlichkeit?
  • Gab es während der Stillzeit Exposition gegenüber Medikamenten oder anderen Substanzen, die Autismus begünstigen könnten?
  • Wurden Entwicklungsverzögerungen bereits in der frühen Kindheit bemerkt (z. B. späte Kopfkontrolle, Sitzen, Krabbeln)?

Medikamentenanamnese

Medikamente, die die Mutter während der Schwangerschaft eingenommen hat:

  • Antidepressiva
    • Einnahme im zweiten und/oder dritten Trimenon (Schwangerschaftsdrittel); Zunahme um 87 % gegenüber Kindern ohne Exposition [4]
    • Eine Metaanalyse sowie zwei Registerstudien finden nach Einnahme von SSRI von Schwangeren keine Unterschiede für Autismus bei exponierten und nicht exponierten Geschwistern [6-8].  
  • Misoprostol ‒ Wirkstoff, der bei Magengeschwüren eingesetzt wird
  • Thalidomid ‒ Beruhigungs-/Schlafmittel, welches durch den sog. Contergan-Skandal bekannt wurde
  • Valproinsäure/Valproat ‒ Wirkstoff, der bei Epilepsie eingesetzt wird [3, 11]

Medikamente, die dem Kind in der frühen postnatalen Phase verabreicht wurden:

  • Paracetamol (Acetaminophen) – in der frühen postnatalen Phase ist das Risiko für eine PCM-induzierte Autismusspektrumstörung (ASS) am höchsten [31]

Umweltanamnese

  • Dichlordiphenyltrichlorethan (DDT) – Schwangere hatten deutlich höhere Konzentrationen von DDT und dessen wichtigsten Metaboliten Dichlorodiphenyl­trichloroethan p,p′-Dichlorodiphenyl-Ddichloroethylene (p,p′-DDE) im Blut [9].
  • Feinstaub- und Stickstoffdioxidbelastung während der Schwangerschaft und im ersten Lebensjahr? [2]
  • Luftverschmutzung (Dieselpartikeln, Quecksilber sowie Blei, Nickel, Mangan und Methylenchloriden)? [1]
  • Pränatale (vorgeburtliche) Belastung mit Pestiziden?
    • Polychlorierten Biphenyle (PCB) und Organochlorpestizide (OCP) [5]
      Hinweis: Polychlorierte Biphenyle gehören zu den endokrinen Disruptoren (Synonym: Xenohormone), die bereits in geringsten Mengen durch Veränderung des Hormonsystems die Gesundheit schädigen können.
    • Glyphosat (Odds Ratio 1,16; 95-%-Konfidenzintervall 1,06 bis 1,27), Chlorpyrifos (Odds Ratio 1,13; 1,05-1,23), Diazinon (Odds Ratio 1,11; 1,01-1,21), Malathion (Odds Ratio 1,11; 1,01-1,22), Avermectin (Odds Ratio 1,12; 1,04-1,22) und Permethrin (Odds Ratio  1,10; 1,01-1,20) [10]

Bei dem Verdacht auf Autismus können die folgenden testpsychologischen Untersuchungen hilfreich sein:

  • Autismus-diagnostische Interviews
  • Screening mit dem Autismus-Spektrum-Quotienten (AQ) nach Baron-Cohen (gilt als hochsensitiv und spezifisch)
  • Sprachentwicklungstest
  • Intelligenztests

Unsere Empfehlung: Drucken Sie die Anamnese aus, markieren Sie alle mit „Ja“ beantworteten Fragen und nehmen Sie das Dokument mit zu Ihrem behandelnden Arzt.

Literatur

  1. Roberts AL, Lyall K, Hart JE, Laden F, Just AC, Bobb JF, Koenen KC, Ascherio A, Weisskopf MG: Perinatal Air Pollutant Exposures and Autism Spectrum Disorder in the Children of Nurses’ Health Study II Participants. Environ Health Perspect; doi:10.1289/ehp.1206187
  2. Volk EV, Lurmann F, Penfold B, Hertz-Picciotto I, McConnell R: Traffic-Related Air Pollution, Particulate Matter, and Autism. AMA Psychiatry. 2013;70(1):71-77. doi:10.1001/jamapsychiatry.2013.266.
  3. Wood AG et al.: Prospective assessment of autism traits in children exposed to antiepileptic drugs during pregnancy. Epilepsia. 2015 May 11. doi: 10.1111/epi.13007.
  4. Boukhris T et al. Antidepressant Use During Pregnancy and the Risk of Autism Spectrum Disorder in Children. JAMA Pediatr 2016; 170(2):117-124. doi:10.1001/jamapediatrics.2015.3356.
  5. Lyall K et al.: Polychlorinated Biphenyl and Organochlorine Pesticide Concentrations in Maternal Mid-Pregnancy Serum Samples: Association with Autism Spectrum Disorder and Intellectual Disability. Environ Health Perspect; doi:10.1289/EHP277
  6. Mezzacappa A et al.: Risk for Autism Spectrum Disorders According to Period of Prenatal Antidepressant ExposureA Systematic Review and Meta-analysis. JAMA Pediatr 2017, epub 17.4.17, doi:10.1001/jamapediatrics.2017.0124
  7. Brown HK et al.: Association Between Serotonergic Antidepressant Use During Pregnancy and Autism Spectrum Disorder in Children. JAMA. 2017;317(15):1544-1552 doi:10.1001/jama.2017.3415
  8. Sujan AC et al.: Associations of Maternal Antidepressant Use During the First Trimester of Pregnancy With Preterm Birth, Small for Gestational Age, Autism Spectrum Disorder, and Attention-Deficit/Hyperactivity Disorder in Offspring. JAMA. 2017;317(15):1553-1562 doi:10.1001/jamapediatrics.2017.0124
  9. Brown AS et al.: Association of Maternal Insecticide Levels With Autism in Offspring From a National Birth Cohort American Journal of Psychiatry Published Online:16 Aug 2018
  10. von Ehrenstein OS et al.: Prenatal and infant exposure to ambient pesticides and autism spectrum disorder in children: population based case-control study BMJ 2019; 364. doi.org/10.1136/bmj.l962
  11. Wiggs KK et al.: Anti-seizure medication use during pregnancy and risk of ASD and ADHD in children. Neurology October 28, 2020, doi: https://doi.org/10.1212/WNL.0000000000010993
  12. Parker W, Anderson LG, Jones JP et al.: The Dangers of Acetaminophen for Neurodevelopment Outweigh Scant Evidence for Long-Term Benefits. Children (Basel). 2023;11(1):44