Autismus – Einleitung
Autismus (autistisches Syndrom, Selbstbezogenheit) bezeichnet das sich absondern einer Person von der Außenwelt. Die Betroffenen kapseln sich in eine eigene Gedanken- und Vorstellungswelt.
Autismus-Spektrum-Störungen (ASS; engl. Autism Spectrum Disorder, ASD) zeichnen sich durch Störungen in der sozialen Interaktion, Störungen der Kommunikation und repetitive, stereotype Verhaltensweisen und Spezialinteressen aus.
Formen der Autismus-Spektrum-Störungen nach ICD-10
- Frühkindlicher Autismus (Kanner-Syndrom; ICD-10-GM F84.0: Frühkindlicher Autismus); hierzu müssen alle drei diagnostischen Kriterien (Soziale Interaktion, Kommunikation, stereotypes und repetitives Verhalten) erfüllt sein
- "High-functioning"-Autismus ‒ Sonderform des frühkindlichen Autismus
- Atypischer Autismus (ICD-10-GM F84.1: Atypischer Autismus); wenn entweder nur ein oder zwei der drei diagnostischen Kriterien nachgewiesen werden können sowie eine Entwicklungsstörung vor dem dritten Lebensjahr vorliegt oder der Nachweis der autistischen Kernsymptomatik erst nach dem dritten Lebensjahr geführt werden kann.
- Asperger-Syndrom (autistische Persönlichkeitsstörung/Psychopathie; kindlicher Autismus; ICD-10-GM F84.5: Asperger-Syndrom)
- Mahler-Syndrom (symbiotische Psychose)
- Psychogener Autismus
- Somatogener Autismus
Epidemiologie
Geschlechterverhältnis
- Frühkindlicher Autismus: Verhältnis Jungen zu Mädchen 3:1.
- Asperger-Syndrom: Verhältnis Jungen zu Mädchen 8:1.
- Autismus-Spektrum-Störung: Verhältnis ca. 2-3:1 zugunsten des männlichen Geschlechts, wahrscheinlich unabhängig von der kognitiven Leistungsfähigkeit.
Häufigkeitsgipfel
- Frühkindlicher Autismus: Beginn meist in den ersten Lebensmonaten bis zum dritten Lebensjahr.
- Asperger-Syndrom: Tritt meistens im Schulalter auf.
Prävalenz (Krankheitshäufigkeit)
- Autismus-Spektrum-Störung (ASS): Liegt bei 0,9-1,1 % [3]. Es wird davon ausgegangen, dass auf drei diagnostizierte Patienten zwei weitere Patienten kommen, deren Störung bislang nicht diagnostiziert wurde.
Inzidenz (Neuerkrankungen)
- Frühkindlicher Autismus: Ca. 50-100 Erkrankungen pro 100.000 Einwohner pro Jahr.
- Asperger-Syndrom: Ca. 20-30 Erkrankungen pro 100.000 Einwohner pro Jahr.
Verlauf und Prognose
Verlauf
Der Verlauf von Autismus-Spektrum-Störungen ist sehr variabel und hängt stark von der spezifischen Form des Autismus, dem Zeitpunkt der Diagnose, der Intensität und Qualität der Interventionen sowie den individuellen Ressourcen und Komorbiditäten ab.
- Frühkindlicher Autismus (Kanner-Syndrom): Diese Form beginnt meistens in den ersten Lebensmonaten bis zum dritten Lebensjahr und hat im Vergleich zu anderen Formen eine ungünstige Prognose. Betroffene zeigen oft lebenslange Beeinträchtigungen in der sozialen Interaktion, Kommunikation und in der Anpassung an neue Situationen. Eine geistige Behinderung ist bei etwa 50 % der Fälle vorhanden. Viele Betroffene bleiben auf Unterstützung angewiesen und erreichen keine vollständige Selbstständigkeit.
- "High-functioning" Autismus: Diese Sonderform des frühkindlichen Autismus zeigt ähnliche Kernsymptome, jedoch mit besser entwickelten sprachlichen und kognitiven Fähigkeiten. Die Betroffenen können ein relativ unabhängiges Leben führen, benötigen jedoch oft Unterstützung im sozialen und beruflichen Kontext.
- Atypischer Autismus: Diese Form tritt auf, wenn entweder nur ein oder zwei der diagnostischen Kriterien erfüllt sind oder die Symptome nach dem dritten Lebensjahr beginnen. Der Verlauf kann milder sein als beim frühkindlichen Autismus, aber auch hier können erhebliche soziale und kommunikative Beeinträchtigungen bestehen bleiben.
- Asperger-Syndrom: Diese Form tritt häufig erst im Schulalter auf und ist durch eine relative Unabhängigkeit in der Kommunikation und kognitiven Fähigkeiten gekennzeichnet. Die Betroffenen haben oft spezialisierte Interessen und Stärken, können jedoch in sozialen Interaktionen und im Umgang mit Veränderungen Schwierigkeiten haben. Viele Erwachsene mit Asperger-Syndrom führen ein unabhängiges Leben und sind beruflich erfolgreich, benötigen jedoch möglicherweise Unterstützung bei sozialen und emotionalen Herausforderungen.
Prognose
Die Prognose für Personen mit Autismus-Spektrum-Störungen variiert erheblich. Faktoren, die die Prognose günstig beeinflussen können, umfassen eine frühe Diagnose und Intervention, höhere kognitive Fähigkeiten, weniger schwerwiegende Komorbiditäten und ein unterstützendes Umfeld.
- Frühkindlicher Autismus: Der frühkindliche Autismus hat im Vergleich zu anderen Formen des Autismus eine ungünstige Prognose. Es bleiben in der Regel Störungen zurück. Eine intellektuelle/geistige Behinderung liegt in etwa der Hälfte aller Personen mit Autismus-Spektrum-Störungen vor (IQ < 70 [1, 2]).
- "High-functioning" Autismus und Asperger-Syndrom: Personen mit diesen Formen haben oft eine bessere Prognose. Mit geeigneter Unterstützung und Interventionen können sie ein hohes Maß an Unabhängigkeit und beruflichem Erfolg erreichen.
Komorbiditäten
Die häufigsten komorbiden Störungen, die bei mehr als der Hälfte der Betroffenen vorliegen, sind Entwicklungsstörungen bezüglich Sprache, Motorik und der kognitiven Entwicklung (geistige Behinderung).
Bei Kleinkindern mit der Diagnose Autismus-Spektrum-Störung kommen Schlafstörungen deutlich häufiger vor als in der Allgemeinbevölkerung. Hyperaktivität ist das am häufigsten vorkommende komorbide Symptom.
Bei Erwachsenen ohne Intelligenzminderung ist die Prävalenzrate von Persönlichkeitsstörungen sehr hoch, aber auch affektive Störungen, Angststörungen, ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung), Tic-Störungen (wiederholte Auftreten unwillkürlicher Kontraktionen einzelner Muskeln oder Muskelgruppen), psychotische sowie weitere Störungen liegen häufig komorbid vor.
Literatur
- Baird G, Simonoff E, Pickles A, Chandler S, Loucas T, Meldrum D, Charman T.: Prevalence of disorders of the autism spectrum in a population cohort of children in South Thames: the Special Needs and Autism Project (SNAP). Lancet 2006 Jul 15;368(9531):210-5.. doi: 10.1016/S0140-6736(06)69041-7.
- Brugha TS et al.: Epidemiology of Autism Spectrum Disorders in Adults in the Community in England. In: Arch Gen Psychiatry 2011;68 (5), S. 459-465. doi: 10.1001/archgenpsychiatry.2011.38.
- Fombonne E, Quirke S, Hagen A (2011): Epidemiology of pervasive developmental disorders. In: D. G. Amaral, G. Dawson und D. H. Geschwind (Hg.): Autism Spectrum Disorders. New York: Oxford University Press, S. 90-111.
Leitlinien
- S3-Leitlinie: Autismus-Spektrum-Störungen im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter Teil 1: Diagnostik (AWMF-Registernummer: 028-018), April 2016 Langfassung
- S3-Leitlinie: Autismus-Spektrum-Störungen im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter Teil 2: Therapie (AWMF-Registernummer: 028-047), März 2021 Kurzfassung Langfassung