Asperger-Syndrom – Ursachen

Pathogenese (Krankheitsentstehung)

Die genaue Ursache von Autismus-Spektrum-Störungen (ASS), einschließlich des Asperger-Syndroms, bleibt in den meisten Fällen unklar. Es wird angenommen, dass die Entstehung multifaktoriell ist, wobei genetische und umweltbedingte Faktoren eine Rolle spielen.

Genetische Faktoren

Aktuelle Forschung konzentriert sich auf verschiedene genetische Anomalien, die mit einem erhöhten Risiko für die Entwicklung von Autismus verbunden sind. Ein besonderer Fokus liegt auf dem Oxytocin-Rezeptor-Gen (OXTR). Oxytocin ist ein Hormon, das unter anderem für soziale Bindungen und emotionale Reaktionen von Bedeutung ist. Veränderungen oder Polymorphismen im OXTR könnten zu einer verminderten Funktion des Oxytocin-Systems führen, was in der Folge soziale Defizite und Schwierigkeiten im emotionalen Verständnis, wie sie bei Autismus und Asperger-Syndrom beobachtet werden, verstärken könnte.

Weitere genetische Aspekte

Neben OXTR wurden zahlreiche andere Gene, die an der neuronalen Entwicklung und Funktion beteiligt sind, mit Autismus in Verbindung gebracht. Dazu gehören Gene, die an der Synapsenbildung, Neurotransmission und neuronalen Plastizität beteiligt sind. Diese genetischen Varianten könnten zu veränderten neuronalen Verbindungen und einer fehlerhaften Signalverarbeitung im Gehirn führen, was die sozialen, kommunikativen und repetitiven Verhaltensweisen erklärt, die bei ASS typisch sind.

Umweltfaktoren

Zusätzlich zu genetischen Faktoren wird angenommen, dass Umwelteinflüsse wie pränatale Komplikationen, Infektionen während der Schwangerschaft oder frühkindliche Exposition gegenüber bestimmten Substanzen zur Entwicklung von Autismus beitragen können. Diese Faktoren könnten mit genetischen Prädispositionen interagieren und die Wahrscheinlichkeit einer ASS erhöhen.

Neurologische Abweichungen

Neurowissenschaftliche Studien zeigen, dass bei Menschen mit Autismus strukturelle und funktionelle Abweichungen in bestimmten Gehirnregionen bestehen, insbesondere in denjenigen, die mit sozialer Interaktion, Kommunikation und emotionaler Verarbeitung assoziiert sind. Es wird angenommen, dass diese Veränderungen die Grundlage der autistischen Symptomatik bilden.

Zusammenfassung

Die Pathogenese von Autismus und dem Asperger-Syndrom ist komplex und umfasst genetische, umweltbedingte und neurobiologische Faktoren. Eine besondere Rolle spielt das Oxytocin-Rezeptor-Gen (OXTR), das mit sozialen und emotionalen Defiziten in Verbindung gebracht wird. Zukünftige Forschung konzentriert sich darauf, die genaue Rolle dieses und anderer Gene besser zu verstehen, um mögliche therapeutische Ansätze zu entwickeln.

Ätiologie (Ursachen)

Biographische Ursachen

  • Genetische Belastung durch Eltern, Großeltern (52,4 % [3])
    • Genetisches Risiko abhängig von Genpolymorphismen:
      • Gene/SNPs (Einzelnukleotid-Polymorphismus; engl.: single nucleotide polymorphism):
        • Gene: SLC25A12
        • SNP: rs4307059 in einer intergenischen Region [Autismus-Spektrum-Störungen (ASS)]
          • Allel-Konstellation: CT (1,19-fach)
          • Allel-Konstellation: TT (1,42-fach)
        • SNP: rs2056202 im Gen SLC25A12 [Autismus-Spektrum-Störungen (ASS)]
          • Allel-Konstellation: CT (0,8-fach)
          • Allel-Konstellation: TT (0,64-fach)
        • SNP: rs2292813 im Gen SLC25A12 [Autismus-Spektrum-Störungen (ASS)]
          • Allel-Konstellation: CT (0,75-fach)
          • Allel-Konstellation: TT (0,56-fach)
        • SNP: rs10513025 in einer intergenischen Region [Autismus-Spektrum-Störungen (ASS)]
          • Allel-Konstellation: CT (0,55-fach)
          • Allel-Konstellation: CC (> 0,55-fach)
    • Genetische Erkrankungen
      • Kanner-Syndrom ‒ Chromosom 7, 15 (unklarer Erbgang)
      • Asperger-Syndrom ‒ Chromosom 1, 3, 13 (unklarer Erbgang)
  • Lebensalter
    • Alter der Mutter zum Zeitpunkt der Zeugung – zunehmendes Alter der Mutter von 30 bis 34 Jahren bis zum höchsten Risiko bei Müttern mit einem Alter von über 40 Jahren [8, 9]
    • Alter des Vaters zum Zeitpunkt der Zeugung > 40 Jahre (5- bis 6-fach höheres Risiko für autistische Wesenszüge als Kinder von Vätern, die jünger als 30 Jahre waren [4, 5]
  • Rauchende Großmutter mütterlicherseits [16] – Risikoerhöhung von
    • 67 %, dass Enkelinnen typisch autistische Merk­male (eingeschränkte soziale Kommunikation oder repetitive Verhaltensweisen) entwickeln
    • > 50 %, dass Enkelinnen ein Asperger-Syndrom (Autismus-Spektrum-Störung, ASD) entwickeln
  • Migrationsstatus der Eltern (konsensbasierte Aussage) [10]
  • Sozioökonomische Faktoren
    • Arbeitslosigkeit (trotz hohen Bildungsniveaus)
    • niedriger sozioökonomischer Status

Krankheitsbedingte Ursachen

Psyche – Nervensystem (F00-F99; G00-G99)

  • Alkoholabusus der Mutter während der Schwangerschaft (ausgeschlossener Risikofaktor: dieser ist mit deutlichen kognitiven Einschränkungen, zahlreichen organischen Fehlbildungen und anderen Verhaltensauffälligkeiten beim Kind assoziiert; jedoch nicht mit Autismus-Spektrum-Störungen) [11]
  • Frühkindlicher Hirnschaden
  • Kleinhirnhypoplasie ‒ Unterentwicklung des Kleinhirns

Medikamente, die die Mutter während der Schwangerschaft eingenommen hat:

  • Antidepressiva?
    • Einnahme im zweiten und/oder dritten Trimenon (Schwangerschaftsdrittel); Zunahme um 87 % gegenüber Kindern ohne Exposition [7]
    • Eine Metaanalyse sowie zwei Registerstudien finden nach Einnahme von SSRI von Schwangeren keine Unterschiede für Autismus bei exponierten und nicht exponierten Geschwistern [13-15].  
  • Misoprostol ‒ Wirkstoff, der bei Magengeschwüren eingesetzt wird
  • Thalidomid ‒ Beruhigungs-/Schlafmittel, welches durch den sog. Contergan-Skandal bekannt wurde
  • Valproinsäure/Valproat ‒ Wirkstoff, der bei Epilepsie eingesetzt wird [6]

Umweltbelastung – Intoxikationen (Vergiftungen)

  • Luftschadstoffe
    • Luftverschmutzung (Dieselpartikeln, Quecksilber sowie Blei, Nickel, Mangan und Methylenchloriden) [1]
    • Feinstaub- und Stickstoffdioxidbelastung während der Schwangerschaft und im ersten Lebensjahr [2]
  • Pränatale Belastung mit polychlorierten Biphenylen (PCB) und Organochlorpestiziden (OCP) [12]
    Hinweis: Polychlorierte Biphenyle gehören zu den endokrinen Disruptoren (Synonym: Xenohormone), die bereits in geringsten Mengen durch Veränderung des Hormonsystems die Gesundheit schädigen können.

Weiteres

  • Rötel-Impfung in der Schwangerschaft (konsensbasierte Aussage) [10]

Literatur

  1. Roberts AL, Lyall K, Hart JE, Laden F, Just AC, Bobb JF, Koenen KC, Ascherio A, Weisskopf MG: Perinatal Air Pollutant Exposures and Autism Spectrum Disorder in the Children of Nurses’ Health Study II Participants. Environ Health Perspect; doi:10.1289/ehp.1206187
  2. Volk EV, Lurmann F, Penfold B, Hertz-Picciotto I, McConnell R: Traffic-Related Air Pollution, Particulate Matter, and Autism. AMA Psychiatry. 2013;70(1):71-77. doi:10.1001/jamapsychiatry.2013.266.
  3. Gaugler T et al.: Most genetic risk for autism resides with common variation. Nature Genetics 46, 881–885 (2014) doi:10.1038/ng.3039
  4. Reichenberg A, Gross R, Weiser M et al.: Advancing paternal age and autism. Arch Gen Psychiatry 2006;63:1026-1032
  5. Buizer-Voskamp JE, Laan W, Staal WG et al.: Paternal age and psychiatric disorders: findings from a Dutch population registry. Schizophr Res. 2011 Jul;129(2-3):128-32. doi: 10.1016/j.schres.2011.03.021
  6. Wood AG et al.: Prospective assessment of autism traits in children exposed to antiepileptic drugs during pregnancy. Epilepsia. 2015 May 11. doi: 10.1111/epi.13007.
  7. Boukhris T et al.: Antidepressant Use During Pregnancy and the Risk of Autism Spectrum Disorder in Children. JAMA Pediatr 2016; 170(2):117-124. doi:10.1001/jamapediatrics.2015.3356.
  8. Maimburg RD, Vaeth M: Perinatal risk factors and infantile autism. In: Acta Psychiatr Scand 2006,114 (4), S. 257-264. doi: 10.1111/j.1600-0447.2006.00805.x
  9. Daniels, J. L.: Forssen, U.; Hultman, C. M.; Cnattingius, S.; Savitz, D. A.; Feychting, M.; Sparen, P. (2008): Parental Psychiatric Disorders Associated With Autism Spectrum Disorders in the Offspring. In: PEDIATRICS 121 (5), S. e1357-e1362. doi: 10.1542/peds.2007-2296
  10. Interdisziplinäre S3-Leitlinie: Autismus-Spektrum-Störungen im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter Teil 1: Diagnostik . (AWMF-Registernummer: 028-018), April 2016 Langfassung
  11. Eliasen M, Tolstrup JS, Nybo Andersen AM, Gronbaek M, Olsen J, Strandberg-Larsen K: Prenatal alcohol exposure and autistic spectrum disorders - a population-based prospective study of 80 552 children and their mothers. International Journal of Epidemiology 2010; 39 (4), S. 1074-1081. doi: 10.1093/ije/dyq056
  12. Lyall K et al.: Polychlorinated Biphenyl and Organochlorine Pesticide Concentrations in Maternal Mid-Pregnancy Serum Samples: Association with Autism Spectrum Disorder and Intellectual Disability. Environ Health Perspect; doi:10.1289/EHP277
  13. Mezzacappa A et al.: Risk for Autism Spectrum Disorders According to Period of Prenatal Antidepressant ExposureA Systematic Review and Meta-analysis. JAMA Pediatr 2017, epub 17.4.17, doi:10.1001/jamapediatrics.2017.0124
  14. Brown HK et al.: Association Between Serotonergic Antidepressant Use During Pregnancy and Autism Spectrum Disorder in Children. JAMA. 2017;317(15):1544-1552 doi:10.1001/jama.2017.3415
  15. Sujan AC et al.: Associations of Maternal Antidepressant Use During the First Trimester of Pregnancy With Preterm Birth, Small for Gestational Age, Autism Spectrum Disorder, and Attention-Deficit/Hyperactivity Disorder in Offspring. JAMA. 2017;317(15):1553-1562 doi:10.1001/jamapediatrics.2017.0124
  16. Golding J et al.: Grand-maternal smoking in pregnancy and grandchild’s autistic traits and diagnosed autism. Nature Scientific Reports 7, Article number: 46179 (2017) doi:10.1038/srep46179

Leitlinien

  1. Interdisziplinäre S3-Leitlinie: Autismus-Spektrum-Störungen im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter Teil 1: Diagnostik . (AWMF-Registernummer: 028-018), April 2016 Langfassung