Angststörungen – Ursachen

Pathogenese (Krankheitsentstehung)

Die Pathogenese von Angststörungen ist ein komplexer und bislang nicht vollständig geklärter Prozess. Es wird angenommen, dass eine multifaktorielle Entstehung vorliegt, bei der genetische Prädispositionen, neurobiologische Abweichungen sowie psychosoziale Faktoren eine zentrale Rolle spielen. Der Entstehungsmechanismus ist also nicht auf eine einzige Ursache zurückzuführen, sondern resultiert aus dem Zusammenspiel mehrerer Einflussfaktoren.

Genetische und psychosoziale Faktoren

Untersuchungen legen nahe, dass genetische Komponenten maßgeblich zur Entstehung von Angststörungen beitragen. Familien- und Zwillingsstudien zeigen, dass Verwandte ersten Grades von Personen mit Angststörungen ein erhöhtes Risiko haben, ebenfalls eine solche Störung zu entwickeln. Die Heritabilität wird auf 30-65 % geschätzt, abhängig von der Art der Angststörung.

Zusätzlich spielen psychosoziale Einflüsse wie traumatische Lebensereignisse (z. B. Missbrauch, Verlust eines Elternteils oder schwerwiegende negative Erfahrungen in der Kindheit) eine entscheidende Rolle in der Krankheitsentstehung. Diese Ereignisse können zu einer Fehlkonditionierung und einem übermäßigen Reaktionsmuster auf angstauslösende Reize führen.

Neurobiologische Mechanismen

Im Mittelpunkt der Pathogenese von Angststörungen stehen neurobiologische Dysfunktionen, insbesondere in Bezug auf die Verarbeitung von Bedrohungsreizen und die Regulation von Angstreaktionen. Zu den zentralen Bereichen des Gehirns, die in die Entstehung und Aufrechterhaltung von Angst involviert sind, gehören:

  • Limbisches System: Eine erniedrigte Erregungsschwelle des limbischen Systems, insbesondere der Amygdala und des Hypothalamus, wird als zentraler Mechanismus angesehen. Die Amygdala spielt eine Schlüsselrolle in der emotionalen Verarbeitung, vor allem bei der Erkennung von Bedrohungen und der Auslösung von Angstreaktionen. Studien zeigen, dass bei Menschen mit Angststörungen eine Hyperaktivität der Amygdala besteht, was zu übermäßigen Angstreaktionen führt [1].
  • Neurotransmittersysteme
    • Dysfunktionen im GABAergen System (Gamma-Aminobuttersäure) sowie im serotonergen und noradrenergen System werden häufig mit der Entstehung von Angststörungen in Verbindung gebracht. Eine verminderte GABA-Aktivität, die normalerweise angsthemmend wirkt, kann zu einer verringerten Inhibition der neuronalen Aktivität führen, was eine erhöhte Angstsensibilität zur Folge hat.
    • Ein gestörtes Gleichgewicht von Serotonin und Noradrenalin ist ebenfalls ein wichtiger pathophysiologischer Faktor. Niedrige Serotoninwerte oder eine beeinträchtigte Signalübertragung können eine Fehlregulation der Angstverarbeitung begünstigen.
  • Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (HPA-Achse): Es gibt Hinweise darauf, dass Menschen mit Angststörungen eine dysfunktionale HPA-Achse aufweisen, die zu einer chronischen Überaktivität der Stressantwort führt. Dies manifestiert sich in einer erhöhten Freisetzung von Cortisol, das wiederum die Angstverarbeitung beeinflusst.

Klassifikation der Angststörungen

Angststörungen lassen sich in verschiedene Typen unterteilen:

  • Primäre Angststörungen: Diese entstehen unabhängig von anderen Grunderkrankungen. Beispiele sind die Panikstörung, die soziale Phobie und die generalisierte Angststörung (GAS).
  • Sekundäre Angststörungen: Sie treten als Folge anderer körperlicher oder psychischer Erkrankungen auf. Beispielsweise kann eine Hyperthyreose oder eine Depression Angstzustände auslösen.

Pathogenese der generalisierten Angststörung (GAS)

Die generalisierte Angststörung (GAS) ist durch übermäßige, unkontrollierbare Sorgen gekennzeichnet, die nicht auf spezifische Situationen oder Reize beschränkt sind. Die zugrunde liegenden Mechanismen sind ähnlich wie bei anderen Angststörungen, einschließlich der Überaktivität der Amygdala und Störungen im Neurotransmittersystem. Besonders auffällig bei der GAS ist die erhöhte Aktivität des präfrontalen Kortex, der normalerweise für die Kontrolle und Regulation von Angstreaktionen verantwortlich ist, jedoch bei GAS-Patienten eine verstärkte Beschäftigung mit negativen Gedanken zeigt.

Zusammenfassung

Die Pathogenese von Angststörungen ist ein komplexer Prozess, der durch ein Zusammenspiel von genetischen, neurobiologischen und psychosozialen Faktoren geprägt ist. Genetische Prädispositionen und traumatische Lebenserfahrungen spielen eine zentrale Rolle. Neurobiologisch wird eine Dysfunktion des limbischen Systems, insbesondere der Amygdala und des Hypothalamus, angenommen. Diese führt zu einer erniedrigten Erregungsschwelle und einer verstärkten Angstverarbeitung. Außerdem tragen Störungen in den GABAergen, serotonergen und noradrenergen Neurotransmittersystemen zur Entstehung von Angst bei. Die generalisierte Angststörung zeigt ähnliche Mechanismen wie andere Angststörungen, wobei eine erhöhte präfrontale Aktivität auffällt, die sich auf übermäßige Sorgen fokussiert.

Ätiologie (Ursachen)

Biographische Ursachen

  • Genetische Belastung durch Eltern, Großeltern (Anteil genetischer Faktoren bei der Entstehung der Angsterkrankungen liegt bei ca. 30 bis 65 %)
    • Mindestens vier Varianten des Gens GLRB (Glycin-Rezeptor B) sind Risikofaktoren für Angst- und Panikstörungen [3]
  • Geburtsgewicht < 1.000 Gramm [2]; eine größere Stichprobe legt nahe, dass es kein dauerhaft erhöhtes Risiko für Angststörungen bei Kindern, die vor der 32. Schwangerschafts­woche oder mit weniger als 1.500 Gramm geboren wurden, gibt [4]
  • Störungsspezifische Entwicklungsgeschichte: Ängstliche, scheue, passive, neue Situationen vermeidende Kleinkinder
  • Alleinlebende

Verhaltensbedingte Ursachen

  • Genussmittelkonsum
    • Kaffee, Tee (Koffein)*
    • Alkohol (Frau: > 40 g/Tag; Mann: > 60 g/Tag) [Alkoholmissbrauch]
  • Drogenkonsum
    • Amphetamine* z. B. Ectasy (Synonym: Molly; MDMA: 3,4-Methylendioxy-N-methylamphetamin) oder ähnlich wirkende Sympathomimetika; Metamphetamine ("Crystal Meth")
    • Cannabis* (Haschisch und Marihuana)
    • Halluzinogene*
    • Heroin
    • Inhalanzien, d. h. Schnüffelstoffe*
    • Kokain
    • Phencyclidin* (z. B. „Angel Dust“)
  • Psycho-soziale Situation
    • Einsamkeit, chronische
  • Übergewicht (BMI ≥ 25; Adipositas) 

Krankheitsbedingte Ursachen

  • Andropause (Wechseljahre des Mannes)
  • Burnout-Syndrom
  • Chronisch-entzündliche Darmerkrankungen (CED; engl. inflammatory bowel disease, IBD) – 32 Prozent der Patienten haben Symptome einer Angststörung [5]
  • Chronisch obstruktive Lungenerkrankung (COPD) – progrediente (fortschreitende), nicht vollständig reversible (umkehrbare) Obstruktion (Verengung) der Atemwege
  • Diabetes mellitus
  • Insomnie (Schlafstörungen)
  • Klimakterium/Wechseljahre (Menopause)
  • Nahezu jede organische Erkrankung kann zu Angststörungen führen.
  • Nicht-therapierbare Erkrankungen führen häufig zu Angststörungen.
  • Somatopause
  • Viele psychiatrische Erkrankungen (z. B. Depression, Essstörungen) führen zu Angststörungen
  • Vorhofflimmern (VHF)

Medikamente

  • Anticholinergika (Aclidinium, Biperiden, Darifenacin, Glycopyrronium, Ipratropiumbromid, Metixen, Methantheliniumbromid, Oxybutynin, Phenoxybenzamin, Propiverin, Scopolamin, Solifenacin, Tiotropium, Tolterodin, Trihexyphenidyl, Trospiumchlorid, Umeclidinium)
  • Antiepileptika
    • AMPA-Rezeptor-Antagonist (Perampanel)
  • Antivirale Medikamente (Foscarnet)
  • Anxiolytika*
  • Benzodiazepin-Antagonist (Flumazenil)
  • HCV-Proteaseinhibition (Boceprevir)
  • Hypnotika*
  • Sedativa*
  • Medikamentenabhängigkeit jeder Art

Operationen

  • Zustand vor oder nach schweren Operationen

*Substanzinduzierte Angststörung

Literatur

  1. Kagan J (1994) Galen’s prophecy. Basic Book, New York
  2. Karen J et al.: Mental Health of Extremely Low Birth Weight Survivors: A Systematic Review and Meta-Analysis. Online First Publication, February 13, 2017. http://dx.doi.org/10.1037/bul0000091
  3. Deckert J et al.: GLRB allelic variation associated with agoraphobic cognitions, increased startle response and fear network activation: a potential neurogenetic pathway to panic disorder. Molecular Psychiatry , (7 February 2017) | doi:10.1038/mp.2017.2
  4. Jaekel J et al.: Mood and anxiety disorders in very preterm/very low–birth weight individuals from 6 to 26 years. Journal of Child Psychology and Psychiatry (2017) doi: 10.1111/jcpp.12787
  5. Barberio B et al.: Prevalence of symptoms of anxiety and depression in patients with inflammatory bowel disease: a systematic review and meta-analysis Lancet Gastroenterol Hepatol. 2021 May;6(5):359-370. doi: 10.1016/S2468-1253(21)00014-5.