Amyotrophe Lateralsklerose – Ursachen
Pathogenese (Krankheitsentstehung)
Die Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) ist eine neurodegenerative Erkrankung, die sowohl das zentrale Nervensystem (ZNS) als auch das periphere Nervensystem betrifft. Die Krankheit führt zum fortschreitenden Verlust der motorischen Nervenzellen (Motoneuronen), die für die Steuerung der Skelettmuskulatur verantwortlich sind. Der Verlust dieser Nervenzellen resultiert in einer Atrophie und Schwäche der Muskulatur, die letztlich zu Lähmungen und Ateminsuffizienz führt.
Anatomische und funktionelle Grundlagen
Die Bewegungssteuerung erfolgt über zwei Haupttypen von Motoneuronen:
- Erstes Motoneuron (oberes Motoneuron): Dieses befindet sich im motorischen Kortex des Gehirns und ist für die Initiierung bewusster Bewegungen verantwortlich. Es projiziert sein Axon zum zweiten Motoneuron im Rückenmark.
- Zweites Motoneuron (unteres Motoneuron): Es leitet die Nervenimpulse über sein Axon direkt an die Muskeln weiter. Diese Motoneuronen befinden sich im Vorderhorn des Rückenmarks oder in den motorischen Kernen der Hirnnerven.
Bei ALS kommt es zu einer Degeneration sowohl der oberen als auch der unteren Motoneuronen. Die Degeneration der oberen Motoneuronen führt zu spastischen Symptomen, während der Verlust der unteren Motoneuronen zu Muskelschwäche und Atrophie führt.
Pathophysiologische Mechanismen
Degeneration der Motoneuronen
Die Pathogenese von ALS umfasst mehrere Mechanismen, die zu einer fortschreitenden Schädigung und zum Untergang der Motoneuronen führen:
- Neurodegeneration und Hirnarealdegeneration: Das Zugrundegehen der Motoneuronen kann auf eine Degeneration spezifischer Hirnareale zurückgeführt werden. Besonders betroffen sind die Ganglienzellen in den motorischen Hirnnervenkernen und im Vorderhorn des Rückenmarks.
- Späte klinische Manifestation: Klinische Lähmungen treten erst auf, wenn bereits etwa 30–50 % der Motoneuronen geschädigt sind, was eine frühe Diagnose und Behandlung schwierig macht. Bei Leistungssportlern kann der frühzeitige Leistungsabfall jedoch ein Hinweis auf den beginnenden Krankheitsprozess sein. Ein prominentes Beispiel ist der Baseballstar Lou Gehrig.
- Retroviren-Hypothese: Es gibt Hinweise darauf, dass Retroviren, die im menschlichen Genom integriert sind, eine Rolle bei der Entstehung von ALS spielen könnten. Diese Retroviren könnten durch Mutationen im Laufe des Lebens reaktiviert werden und so zur Pathogenese der Erkrankung beitragen [1].
- Proteinfehlfaltung und TDP‑43-Aggregate: Ein entscheidendes pathophysiologisches Merkmal der ALS ist die Akkumulation von fehlgefaltetem TDP‑43-Protein im Zytoplasma von Nervenzellen. Dieses Protein ist normalerweise für die RNA-Verarbeitung und den Transport in den Zellkern verantwortlich. Bei ALS wird es pathologisch verändert und im Zytoplasma abgelagert. Die beeinträchtigte Autophagie führt zu einer unzureichenden Entsorgung des pathogenen TDP‑43, was die neuronale „Selbstreinigung“ schwächt und den Zelluntergang begünstigt [7].
Klinische Symptome in Abhängigkeit der Motoneuronenschädigung
Schädigung des ersten Motoneurons (oberes Motoneuron):
- Spastik (Muskelsteifheit)
- Adduktorenspasmus (unwillkürliche Krämpfe der inneren Oberschenkelmuskulatur)
- Paraspastik der Beine (spastische Lähmung beider Beine)
- Ataxie (Koordinationsstörungen)
- Demenz
- Epilepsie (Krampfleiden)
- Harnblaseninkontinenz (unfreiwillig Harnabgang)
- Taubheit
Schädigung des zweiten Motoneurons (unteres Motoneuron):
- Motorische periphere Lähmung, die sich langsam fortschreitend entwickelt
- Faszikulationen (feine Muskelzuckungen)
- Muskelatrophien (Muskelschwund)
- Erloschene Eigenreflexe
Zusammenfassung
Die genaue Pathogenese von ALS ist bislang nicht vollständig geklärt. Verschiedene Faktoren, wie genetische Prädispositionen, Proteinfehlfaltungen, virale Reaktivierungen und entzündliche Prozesse, scheinen eine Rolle zu spielen. Die Diagnose erfolgt meist erst im fortgeschrittenen Stadium, da klinische Symptome erst bei erheblichem Neuronenverlust auftreten. Der Einsatz neuer diagnostischer Methoden zur Früherkennung und das Verständnis der molekularen Mechanismen sind entscheidend für die Entwicklung wirksamerer Therapien.
Ätiologie (Ursachen)
Die Ätiologie der Erkrankung ist unklar. Eine genetische Disposition ist wahrscheinlich. Auch Virus- oder Autoimmunerkrankungen werden diskutiert.
Biographische Ursachen
- Ein Teil der Fälle (ca. 10 %) ist unregelmäßig erblich (familiäre ALS; FALS), meist autosomal-dominant, aber auch rezessiv. 90 % der ALS-Fälle sind sporadisch (SALS).
FALS: am häufigsten betroffenen Gene sind C9ORF72, SOD1, TDP-43, FUS und TBK1 [2]; KIF5A (bei sechs Prozent der ALS-Patienten fand sich der Single-Nukleotid-Polymorphismus rs113247976) [6]
Folgende Genmutationen sind bekannt:- Mutationen des Superoxid-Dismutase 1 (SOD1) Gens [12] (15-20 % der FALS-Fälle)
- Mutationen in den DNA-/RNA-Bindungsproteinen TDP-43 (TAR DNA-binding protein 43) und FUS/TLS (fused in sarcoma/translated in liposarcoma) [14] (jeweils ca. 5 % der familiären ALS-Fälle)
- GGGGCC-Hexanukleotid-Expansionen im Chromosome-9-open-reading-frame-72(C9ORF72)-Gen (bis zu 50 % der FALS- und bis zu 20 % der SALS-Fälle nachweisen)
- Berufe
- Profifußballspieler: wg. Kopftraumata [4]
- Berufe mit schwerer körperlicher Arbeit/"schweißtreibende Aktivitäten" (z. B. Steinmetze, Holzfäller oder Spitzensportler) [9]
Umweltbelastungen – Intoxikationen (Vergiftungen)
- Dieselabgase (enthalten sind Hexan (den Alkanen zugehörige chemische Verbindung) und Formaldehyd): 13 % erhöhtes Risiko bei Männern [8]
- Extrem niederfrequente elektromagnetische Felder (Männer) (Beobachtungsstudie) [5]
- Pestizide: Pentachlorbenzol (OR 2,21; 1,06-4,60) und cis-Chlordan (OR 5,74; 1,80-18,20) [3]
- Polybromierte Diphenylether 47 (OR 2,69; 1,49-4,85) [3]
- Polychlorierte Biphenyle (PCB): PCB 175 (OR 1,81; 1,20-2,72) und PCB 202 (OR 2,11; 1,36-3,27) [3]
Hinweis: Polychlorierte Biphenyle gehören zu den endokrinen Disruptoren (Synonym: Xenohormone), die bereits in geringsten Mengen durch Veränderung des Hormonsystems die Gesundheit schädigen können.
Literatur
- Li W et al.: Human endogenous retrovirus-K contributes to motor neuron disease Science. Science Translational Medicine 30 Sep 2015: Vol. 7, Issue 307, pp. 307ra153 DOI: 10.1126/scitranslmed.aac8201
- Freischmidt A et al.: Haploinsufficiency of TBK1 causes familial ALS and fronto-temporal dementia. Nat Neurosci 2015 18:631-636
- Su FC et al.: Association of Environmental Toxins With Amyotrophic Lateral Sclerosis. JAMA Neurol. Published online May 09, 2016. doi:10.1001/jamaneurol.2016.0594
- Chio A et al.: Severely increased risk of amyotrophic lateral sclerosis among Italian professional foot-ball players. Brain 2005 Mar;128(Pt 3):472-6
- Koeman T et al.: Occupational exposure and amyotrophic lateral sclerosis in a prospective cohort. Occup Environ Med Published Online First: 29 March 2017. doi: 10.1136/oemed-2016-103780
- Brenner D et al.: Hot-spot KIF5A mutations cause familial ALS. Brain Published: 12 January 2018, awx370, https://doi.org/10.1093/brain/awx370
- Leibiger C et al.: TDP-43 controls lysosomal pathways thereby determining its own clearance and cytotoxicity, Human Molecular Genetics 2018 Feb 20. doi: 10.1093/hmg/ddy066
- Dickerson AS et al.: Amyotrophic Lateral Sclerosis and Exposure to Diesel Exhaust in a Danish Cohort. Am J Epidemiol 2018; 187: 1613-1622 https://doi.org/10.1093/aje/kwy069
- Rosenbohm A et al. The ALS Registry Swabia Study Group. Life Course of Physical Activity and Risk and Prognosis of Amyotrophic Lateral Sclerosis in a German ALS Registry. Neurology Oct 2021, 10.1212/WNL.0000000000012829; doi: 10.1212/WNL.0000000000012829