Harninkontinenz (Blasenschwäche) – Ursachen
Pathogenese (Krankheitsentstehung)
Belastungsinkontinenz (früher Stressinkontinenz)
Die Belastungsinkontinenz ist durch einen unwillkürlichen Urinverlust infolge einer Druckerhöhung im Bauchraum gekennzeichnet, die bei körperlicher Belastung wie Husten, Niesen, Springen oder Heben auftritt. Die Ursache liegt in einem Versagen des Harnröhrenverschlussmechanismus, oft aufgrund einer Beckenbodenschwäche. Dies tritt besonders häufig bei Frauen auf, vor allem nach mehreren Geburten oder durch andere Faktoren, die die Beckenbodenmuskulatur schwächen.
Bei Männern ist die Belastungsinkontinenz meist iatrogen bedingt, z. B. nach einer radikalen Prostatektomie (operative Entfernung der Prostata). Hierbei kommt es zu einer Schädigung des Schließmuskels oder der Nerven, was den Urinverlust bei Belastung verursacht.
Dranginkontinenz (Urgeinkontinenz)
Die Dranginkontinenz äußert sich durch einen plötzlichen, unaufschiebbaren Harndrang, der zu einem unwillkürlichen Urinverlust führt. Der Blasenschließmuskel ist intakt, aber die Blasenmuskulatur (Detrusor) ist fehlreguliert.
- Sensorische Dranginkontinenz: Ein verstärkter Harndrang tritt schon bei geringer Blasenfüllung auf, bedingt durch eine Fehlmeldung an das Gehirn.
- Motorische Dranginkontinenz: Die Blasenmuskulatur zieht sich unwillkürlich zusammen, obwohl der Füllungszustand der Blase korrekt wahrgenommen wird. Die hemmenden Nervenimpulse des Gehirns sind jedoch zu schwach, um die Kontraktion zu verhindern.
- Instabile Blase: Hier sind sowohl die sensorischen als auch die motorischen Mechanismen gestört, was zu einer unkontrollierbaren Blasenentleerung führt.
Psychische und emotionale Faktoren wie Stress, Angst oder Depression können die Symptome verstärken.
Reflexinkontinenz
Die Reflexinkontinenz tritt bei Schädigungen des zentralen oder peripheren Nervensystems auf, wie bei Schlaganfällen, Multipler Sklerose (MS), Querschnittslähmungen oder anderen traumatischen Rückenmarksschäden. Betroffene haben kein Gefühl für den Harndrang und können die Blasenentleerung nicht willentlich kontrollieren. Die Blase entleert sich reflexartig ohne bewusste Kontrolle, was zu einem unwillkürlichen Urinverlust führt.
Überlaufinkontinenz
Die Überlaufinkontinenz ist durch einen tropfenweisen Urinverlust bei einer übermäßig gefüllten Harnblase gekennzeichnet. Dies geschieht, weil die Blase nicht vollständig entleert wird, sodass der überschüssige Urin kontinuierlich abläuft.
- Obstruktive Überlaufinkontinenz: Sie tritt bei Abflussbehinderungen wie Harnröhrenverengungen, Harnblasensteinen oder Tumoren auf, die den Harnabfluss blockieren. Durch die ständige Überfüllung der Blase läuft diese quasi "über".
- Funktionelle Überlaufinkontinenz: Hier kann sich die Blase nicht mehr ausreichend zusammenziehen, was zu einer unvollständigen Blasenentleerung führt. Dies kann durch Überdehnung der Blasenwand aufgrund einer lang bestehenden Abflussbehinderung verursacht werden.
Extraurethrale Inkontinenz
Die extraurethrale Inkontinenz entsteht durch Blasenfisteln oder einen ektopischen Harnleiter (eine Fehlmündung des Harnleiters außerhalb der Harnblase). Bei Kindern ist dies häufig angeboren, während bei Erwachsenen solche Fisteln oft nach Operationen, Geburten, Strahlentherapie oder Verletzungen auftreten. Der Urin fließt dabei nicht über die Harnröhre, sondern über abnorme Verbindungen oder Öffnungen ab.
Ätiologie (Ursachen)
Biographische Ursachen
- Mehrere Geburten; besonders gefährdet, auf lange Sicht harninkontinent zu werden, sind Frauen, die bereits während ihrer ersten Schwangerschaft Harn verloren haben [1]
- Hormonelle Faktoren – Menopause (Wechseljahre der Frau; aufgrund des Östrogenmangels)
Verhaltensbedingte Ursachen
- Genussmittelkonsum
- Alkohol – Kann die Blasenkontrolle negativ beeinflussen.
- Koffeinkonsum – Koffein wirkt diuretisch und kann zu Dranginkontinenz führen.
- Tabak (Rauchen) – Nikotinabusus ist mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit für Dranginkontinenz assoziiert [4].
- Körperliche Aktivität
- Körperliche Belastungen – Schwere körperliche Tätigkeiten oder stark belastender Sport können den Beckenboden schwächen und Inkontinenz begünstigen.
- Psycho-soziale Situation
- Psychische Belastungen – Chronischer Stress kann die Blasenfunktion beeinträchtigen.
- Übergewicht (BMI ≥ 25; Adipositas)
- Adipositas erhöht das Risiko für verschiedene Inkontinenzformen [5]:
- Gemischte Harninkontinenz (+52 % Risiko).
- Belastungsinkontinenz (SUI) und Dranginkontinenz (OAB) (+33 % bzw. +26 % Risiko pro 5 BMI-Punkte).
- Ein BMI ≥ 24 kg/m² vor der Schwangerschaft erhöht das Risiko für postpartale Belastungsinkontinenz bei Erstgebärenden (OR 2,1) [7].
- Adipositas erhöht das Risiko für verschiedene Inkontinenzformen [5]:
Krankheitsbedingte Ursachen
Angeborene Fehlbildungen, Deformitäten und Chromosomenanomalien (Q00-Q99)
- Epispadie (Harnröhrenspaltbildung)
- Urethra (Harnröhre), kurze oder lange – mildeste Form des Blasenekstrophie-Epispadie-Komplexes; tritt nur selten isoliert auf
- Ureterektopie (Fehlmündung des Harnleiters distal ("entfernt") des Harnblasenhalses in die Harnröhre, Prostata, Vagina/Scheide oder Uterus/Gebärmutter)
Atmungssystem (J00-J99)
- Bronchitis, chronische (dauerhafte Entzündung der Atemwege mit chronischem Husten)
Endokrine, Ernährungs- und Stoffwechselkrankheiten (E00-E90)
- Diabetes mellitus (→ sensorische Neuropathie/Erkrankung der peripheren Nerven)
- Diabetes mellitus (OR 2,3 für eine postpartale Stressinkontinenz) [7]
- Funikuläre Myelose (Synonym: funikuläre Spinalerkrankung; s. o.) wg.Vitamin B12-Mangel
- Hyperglykämie (Überzuckerung)
Herzkreislaufsystem (I00-I99)
- Herzinsuffizienz (Herzschwäche)
Infektiöse und parasitäre Krankheiten (A00-B99)
- Syphilis (→ sensorische Neuropathie)
Mund, Ösophagus (Speiseröhre), Magen und Darm (K00-K67; K90-K93)
- Obstipation (Verstopfung)
Neubildungen – Tumorerkrankungen (C00-D48)
- Harnblasentumor
Psyche – Nervensystem (F00-F99; G00-G99)
- Delir (Verwirrtheitszustände)
- Depression
- Diabetische Neuropathie
- Enuresis – unwillkürliche Einnässen des Kindes
- Kaudasyndrom – Querschnittssyndrom in Höhe der Cauda equina (anatomische Struktur, die sich innerhalb der Wirbelsäule in einem Sack aus harter Hirnhaut (Dura mater) und der dieser innen anliegenden Arachnoidea mater befindet); dieses führt zu einer Schädigung der Nervenfasern unterhalb des Conus medullaris (Bezeichnung für das konisch zulaufende, kaudale Ende des Rückenmarks), die mit einer schlaffen Parese (Lähmung) der Beine, oft mit Harnblasen- und Mastdarmstörungen, einhergeht.
- Multiple Sklerose (MS)
- Neurogene Blasenstörung – durch neurologische Schäden verursachte Blasenfehlfunktion
- Paraplegie – Lähmung aller Extremitäten
Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett (O00-O99)
- Austreibungsphase von 90 Minuten oder länger (OR 1,7 als Erstgebärende für eine postpartale Stressinkontinenz) [7]
- Früherer Abort/Fehlgeburt (OR 3,9 als Erstgebärende für eine postpartale Stressinkontinenz) [7]
- Kindliches Geburtsgewicht ≥ 3 kg (OR 1,6 als Erstgebärende für eine postpartale Stressinkontinenz) [7]
- Vaginale Entbindung/Scheidenentbindung (OR 2,3 als Erstgebärende für eine postpartale Stressinkontinenz) [7]
Urogenitalsystem (Nieren, Harnwege – Geschlechtsorgane) (N00-N99)
- Atrophische Urethritis – Harnröhrenentzündung bei älteren Frauen durch zurückgebildete Schleimhaut
- Atrophische Vaginitis – Scheidenentzündungen bei älteren Frauen durch zurückgebildete Schleimhaut
- Beckenbodeninsuffizienz (Beckenbogenschwäche)
- Blasenhalsstenose (Verengung des Blasenhalses)
- Benigne Prostatahypertrophie (BPH; gutartige Prostatavergrößerung)
- Descensus genitalis (Tiefertreten von Gebärmutter oder der Scheide)
- Detrusorinstabilität (instabile Blase, ungehemmte Blasenkontraktionen), idiopathisch oder sekundär (z. B. Apoplex/Schlaganfall, Demenz, Morbus Parkinson etc.)
- Interstitielle Zystitis (IC; chronische abakterielle Zystitis)
- Neurogene Blase – Funktionsstörung der Harnblase aufgrund einer Störung im Nervensystem
- Überlaufblase
- Urethrastenose (Verengung der Harnröhre)
- Urolithiasis (Harnsteinleiden)
- Zystitis (Blasenentzündung), infektiöse
Verdauungssystem (K00-K93)
- Obstipation (Verstopfung) (nur nachgewiesen bei Frauen: Inkontinenzrisiko für Frauen mit Obstipation (Odds Ratio, OR 2,46) [6])
Verletzungen, Vergiftungen und andere Folgen äußerer Ursachen (S00-T98)
- Traumata (Verletzungen), nicht näher bezeichnet (z. B. Beckenfraktur/Bruch mit Sphinkterverletzung/Verletzung des Schließmuskels)
Medikamente (die zu einer vorübergehenden Harninkontinenz führen können)
- Alphablocker (Belastungsinkontinenz als direkte Nebenwirkung)
- Analgetika der Gruppe der COX-Hemmer (Celecoxib)
- Anticholinergika (z. B. Disopyramid)
- Antidepressiva (z. B. Amitriptylin, Fluoxetin)
- Antihypertensiva (z. B. Captopril, Dihydropyridin, Prazosin)
- Anti-Parkinson-Medikamente (z. B. Trihexyphenidyl)
- Antipsychotika (z. B. Haloperidol)
- Diuretika (z. B. Furosemid)
- Opiatanalgetika
- Orale Antidiabetika (z. B. Rosiglitazon)
- Zytostatika (Vincristin*)
*Reversiblität möglich
Operationen
- Mann (die reine Belastungsinkontinenz des Mannes ist zumeist iatrogen/durch ärztliche Einwirkung bedingt):
- Zust. n. radikaler Prostatektomie (operative Entfernung von Prostata mit Kapsel, den Endstücken der Samenleiter, den Samenblasen und den regionalen Lymphknoten); meistens temporär (vorübergehend)
- Zust. n. transurethraler Resektion der Prostata (TUR-P; chirurgische Entfernung der Prostata durch die Harnröhre)
- Zust. n. Laserbehandlung der Prostata
- Zust. n. Adenomenukleation (chirurgisches Ausschälen eines Adenoms (Enukleation = Ausschälung vom gut abgegrenztem Gewebe ohne Mitnahme von umliegendem Gewebe)
- Zust. n. transurethralen Harnröhrenoperationen bei Harnröhrenengen
- Frau:
- Zust. n. Operationen mit Fistelbildung (z. B. vesikovaginale Fistel (Blasen-Scheiden-Fistel))
- Zus. n. Vakuumextraktion ("Saugglockenentbindung")
Weiteres
- Geburt(en) – In einer Studie mit knapp 8.000 Mütter wurde durch Befragung festgestellt:
- Nach zwölf Jahren: 52,7% Fälle mit Harninkontinenz, 37,9% der Fälle mit persistierender Inkontinenz
- In 54,2 % der Fälle eine Stressinkontinenz, in 32,8 % eine Mischung aus Stress- und Dranginkontinenz; reine Dranginkontinenz 9,8 % der Frauen
- Nach Radiatio (Strahlentherapie)
- Menopause (Wechseljahre der Frau)
Mögliche Auslöser einer vorübergehenden Harninkontinenz bei älteren Menschen im Pflegeheim (modifiziert nach [3])
- Exzessive Urinproduktion
- Eingeschränkte Mobilität
- Psyche
- Atrophische Urethritis/Kolpitis
- Delirium
- Infektionen
- Stuhlprobleme/Obstipation
- Pharmaka
Autoren: Prof. Dr. med. G. Grospietsch, Dr. med. W. G. Gehring
Literatur
- Svare JA et al.: Risk factors for urinary incontinence 1 year after the first vaginal delivery in a cohort of primiparous Danish women. Int Urogynecol J 2014; 25: 47-51
- MacArthur C et al.: Urinary incontinence persisting after childbirth: extent, delivery history, and effects in a 12-year longitudinal cohort study. BJOG 2015, online 2. April; doi: 10.1111/1471-0528.13395
- Resnick NM, Baumann MM (1988) Incontinence in the nursing home patient. Clin Geriatr Med 4(3):549-570
- Hannestad YS, Rortveit G, Daltveit AK, Hunskaar S. Are smoking and other lifestyle factors associated with female urinary incontinence? The Norwegian EPINCONT Study. BJOG. 2003; 110: 247-54.
- Aune D et al.: Body mass index, abdominal fatness, weight gain and the risk of urinary incontinence: A systematic review and dose response meta-analysis of prospective studies. BJOG 2019 https://doi.org/10.1111/1471-0528.15897
- Lian WQ et al.: Constipation and risk of urinary incontinence in women: a meta-analysis. Int Urogynecol J 2019;30:1629-34
- Gao J et al.: Risk factors of postpartum stress urinary incontinence in primiparas. What should we care. Medicine 2021 doi: 10.1097/MD.0000000000025796