Renale Anämie – Ursachen

Pathogenese (Krankheitsentstehung)

Die renale Anämie ist eine häufige Komplikation bei Patienten mit chronischen Nierenerkrankungen, insbesondere bei chronischem Nierenversagen. Sie entsteht durch eine Kombination von Mechanismen, die die Bildung und Funktion der Erythrozyten beeinträchtigen.

Hauptmechanismen:

  • Erythropoetin-Mangel:
    • Erythropoetin (EPO) ist ein Hormon, das in den Nieren produziert wird und eine zentrale Rolle bei der Stimulation der Erythropoese (Bildung von roten Blutkörperchen) im Knochenmark spielt.
    • Bei chronischen Nierenerkrankungen ist die Fähigkeit der Nieren, ausreichende Mengen an EPO zu produzieren, stark eingeschränkt. Dadurch wird die Erythropoese gedrosselt, was zu einem Mangel an Erythrozyten führt.
  • Gestörter Eiseneinbau:
    • Eisenverwertungsstörungen sind häufig bei renaler Anämie. Entzündungsprozesse (z. B. durch chronische Inflammation) führen zu einer erhöhten Hepcidinproduktion, einem Hormon, das die Eisenaufnahme im Darm und die Freisetzung von Eisen aus den Speichern hemmt.
    • Dieser gestörte Eisenstoffwechsel beeinträchtigt den Einbau von Eisen in das Hämoglobin (Blutfarbstoff), was zu einer unzureichenden Versorgung der Erythrozyten mit Eisen führt.
  • Verkürzte Lebensdauer der Erythrozyten:
    • Bei Niereninsuffizienz kommt es zu einer Verkürzung der Lebensdauer der Erythrozyten. Ursächlich dafür sind toxische Substanzen, die sich bei der verminderten Ausscheidung von Abfallprodukten im Blut (Urämietoxine) ansammeln und die Zellmembran der Erythrozyten schädigen.
    • Urämietoxine (z. B. stickstoffhaltige Substanzen) und oxidative Stressfaktoren führen zu einer beschleunigten Hämolyse (Zerfall der Erythrozyten).
  • Hämolyse:
    • Die Hämolyse entsteht durch die toxische Wirkung von Urämietoxinen und oxidativen Stressfaktoren, die die Stabilität der Erythrozytenmembran beeinträchtigen. Dies führt zu einer vorzeitigen Zerstörung der roten Blutkörperchen, insbesondere in Milz und Leber.
  • Hemmung der Erythropoese durch Urämietoxine:
    • Urämietoxine wirken zusätzlich direkt hemmend auf das Knochenmark, was die Produktion von Erythrozyten weiter vermindert. Diese Substanzen entstehen als Abbauprodukte bei der reduzierten Nierenfunktion und beeinträchtigen verschiedene Zellfunktionen, einschließlich der Erythropoese.


Verschlimmernde Faktoren:

  • Mangel an Eisen, Folsäure und Vitamin B12:
    • Ein Mangel an diesen essenziellen Mikronährstoffen verschlechtert die Blutbildung, da sie wichtige Cofaktoren bei der DNA-Synthese und der Bildung von Erythrozyten sind.
  • Sekundärer Hyperparathyreoidismus (sHPT):
    • Der chronische Hyperparathyreoidismus führt zu einer erhöhten Knochenresorption und einer Knochenmarkfibrose, die die normale Funktion des Knochenmarks beeinträchtigt. Dies reduziert die Kapazität des Knochenmarks, Erythrozyten zu produzieren.
  • Chronische Inflammation:
    • Chronische Entzündungen, die häufig bei Patienten mit chronischer Nierenerkrankung auftreten, tragen zur renalen Anämie bei. Inflammatorische Zytokine wie IL-6 fördern die Produktion von Hepcidin, was den Eisenstoffwechsel weiter beeinträchtigt.
  • Blutverluste:
    • Patienten mit Nierenversagen verlieren oft Blut durch Blutentnahmen und Hämodialyse, was den Erythrozytenmangel zusätzlich verschlimmert.
  • Medikamenteninduzierte Hemmung der Erythropoese:
    • Bestimmte Medikamente, wie ACE-Hemmer und Zytostatika, können die EPO-Produktion reduzieren oder die Erythropoese direkt hemmen.
      • ACE-Hemmer: verringern die EPO-Produktion.
      • Zytostatika und Immunsuppressiva (z. B. Azathioprin, Mycophenolat) beeinträchtigen die Erythropoese.
  • Aluminiumüberladung:
    • Bei Dialysepatienten kann eine Aluminiumüberladung zu einer Schädigung des Knochenmarks führen und die Erythropoese weiter beeinträchtigen.

Ätiologie (Ursachen)

Biographische Ursachen

  • Genetische Belastung durch Eltern, Großeltern
    • Genetische Erkrankungen/Missbildungen
      • Polyzystische Nierenerkrankungen – Nierenerkrankung aufgrund multipler Zysten (flüssigkeitsgefüllte Hohlräume) in den Nieren
        • teils mit autosomal-dominantem wie auch autosomal-rezessivem Erbgang (s. u. Zystischer Nierenkrankheit)

Krankheitsbedingte Ursachen

  • Akutes Nierenversagen (ANV)
  • Chronische Niereninsuffizienz
  • Diabetische Nephropathie – Nierenerkrankung auf Grund einer Gefäßerkrankung bei Vorliegen eines Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit)
  • Hämolytisch-urämisches Syndrom (HUS) – Trias aus mikroangiopathischer, hämolytischer Anämie (MAHA; Form der Blutarmut, bei der die Erythrozyten (rote Blutkörperchen) zerstört werden), Thrombozytopenie (krankhafte Verminderung der Thrombozyten/Blutplättchen) und akuter Nierenfunktionseinschränkung (acute kidney injury, AKI); meist bei Kindern im Rahmen von Infektionen auftretend; häufigste Ursache des akuten, dialysepflichtigen Nierenversagens im Kindesalter

Medikamente

Anämie 

  • Antiprotozoika
    • Analogon des Azofarbstoffs Trypanblau (Suramin)
    • Pentamidin
  • Alpha-Methyldopa (Antihypertensivum) 
  • Antimalariamittel wie Primaquin oder Dapson
  • Chelatbildner (D-Penicillamin, Trieethylentetramin-Dihydrochlorid (Trien), Tetrathiomolybdan)
  • Chinidin
  • Direkter Faktor Xa-Inhibitor (Rivaroxaban)
  • Immunsuppressiva (Thalidomid)
  • Januskinase-Inhibitoren (Ruxolitinib)
  • Monoklonale Antikörper – Pertuzumab
  • mTOR-Inhibitoren (Everolimus, Temsirolimus)
  • Neomycin
  • P-Aminosalicylsäure (Mesalazin)
  • Phenytoin [megaoblastäre Anämie]
  • Thrombininhibitor (Dabigatran)
  • Tuberkulostatika (Isoniazid, INH; Rifampicin, RMF)
  • Virostatika
    • Nukleosid-Analoga (Ribavirin) [hämolytische Anämie]
    • NS5A-Inhibitoren (Daclatasvir)
    • Protease-Inhibitoren (Boceprevir, Telaprevir)

Aplastische Anämie

  • Allopurinol*
  • Alpha-Methyldopa*
  • Antibiotika – Medikamente wie Streptomycin*, Tetracyclin* oder Methicillin*
  • Antidiabetika – Tolbutamid und Chlorpropamid
  • Antihistaminika – Cimetidin
  • Antikonvulsiva – Carbomazepin
  • Carboanhydrasehemmer (CAH, CAI)Acetazolamid, Dichlorphenamid, Methazolamid
  • Chinidin*
  • Chloramphenicol
  • Colchicin
  • D-Penicillamin – Medikament, welches bei der Therapie der rheumatoiden Arthritis eingesetzt wird
  • Lithium*
  • Medikamente gegen Protozoen-Infektionen wie Chloroquin oder Mepacrin
  • Nicht-steroidale Antirheumatika (NSAR) – Phenylbutazon, Ibuprofen oder Acetylsalicylsäure (ASS)
  • Östrogene
  • Sedativa – wie Chlorpromazin* oder Meprobamat*
  • Sulfonamide
  • Tuberkulostatika (Isoniazid, INH)
  • Thyreostatika – wie Methylthiouracil oder Carbimazol
  • Zytostatika
    • Alkylanzien wie Chlorambucil oder Cyclophosphamid
    • Antimetaboliten wie Mercaptopurin, Fluorouracil oder Methotrexat
    • Mitosehemmer wie Vincristin oder Paclitaxel

Anmerkung: Bei den Stern (*) gekennzeichneten Medikamenten ist der Zusammenhang mit der aplastischen Anämie nur gering belegt.