Polyzythämie – Ursachen

Pathogenese (Krankheitsentstehung)

Die Polycythaemia vera (primäre Polyzythämie; primäre Polyglobulie) ist eine klonale myeloproliferative Erkrankung, die auf einer Störung der myeloischen Stammzelle beruht. Sie ist durch eine autonome Proliferation aller drei Zellreihen (Erythrozyten, Granulozyten, Thrombozyten) gekennzeichnet:

  • Erythrozytose: Es kommt zu einer EPO (Erythropoetin)-unabhängigen, irreversiblen und progredienten Erhöhung der Erythrozytenproduktion (rote Blutkörperchen). Diese Erythrozytose steht im Vordergrund und bestimmt das klinische Bild der Erkrankung.
  • Granulopoese und Megakaryopoese: Es besteht eine gesteigerte Proliferation der Granulopoese (Entwicklung der Granulozyten, einer Gruppe der weißen Blutkörperchen) sowie der Megakaryopoese (Entwicklung der Megakaryozyten, Vorläuferzellen der Thrombozyten).
  • Erhöhte Blutviskosität: Die Zunahme des Hämatokrits (Hkt, Anteil der zellulären Bestandteile am Blutvolumen) führt zu einer erhöhten Blutviskosität, was zu symptomatischen Mikrozirkulationsstörungen und einem erhöhten Risiko für thromboembolische Komplikationen führt.

Sekundäre Polyzythämie (Polyglobulie)

Die sekundäre Polyzythämie kann durch eine Reihe von Grunderkrankungen oder Zuständen ausgelöst werden, die zu einer erhöhten EPO-Produktion führen. Mögliche Ursachen sind:

  • Renale Polyglobulie: Aufgrund von Nierenerkrankungen, die eine gesteigerte EPO-Synthese verursachen.
  • Hypertensive Polyglobulie: Infolge von chronischen Hypoxiezuständen (z. B. bei COPD, Höhenaufenthalten).

Relative Polyzythämie (Pseudopolyglobulie)

Die relative Polyzythämie entsteht durch eine Verminderung des Plasmavolumens bei isolierter, grenzwertiger oder mäßiger Erhöhung der Erythrozytenzahl, wie bei der Stresserythrozytose. Hierbei handelt es sich um eine Verhältnisanomalie zwischen den Blutzellen und dem Plasma.

Ätiologie (Ursachen) der Polyzythämie

Biographische Ursachen

  • Genetische Belastung
    • Genetische Erkrankungen
      • Polyzystische Nierenerkrankungen – Nierenerkrankung aufgrund multipler Zysten (flüssigkeitsgefüllte Hohlräume) in den Nieren
        • teils mit autosomal-dominantem wie auch autosomal-rezessivem Erbgang (s. u. Zystischer Nierenkrankheit)

Krankheitsbedingte Ursachen

Atmungssystem (J00-J99)

  • Chronische Lungenerkrankungen, nicht näher bezeichnet [sekundäre Erythrozytose wg. arterieller Hypoxie/Sauerstoffmangel)

Blut, blutbildende Organe – Immunsystem (D50-D90)

  • Erythropoietinrezeptor-Mutationen, die zur erhöhten EPO-Sensitivität erythroider Vorläufer führen
  • Essentielle Thrombozythämie (ET) – chronische myeloproliferative Erkrankung (CMPE, CMPN), die durch eine chronische Erhöhung der Thrombozyten (Blutplättchen) charakterisiert ist
  • Chuvash-Polyzythämie – gestörte EPO-Genregulation
  • Hämoglobinopathie (Erkrankung, die durch Störungen des Hämoglobins (roter Blutfarbstoff) verursacht sind) mit erhöhter Sauerstoffaffinität oder 2,3-DPG-Mangel (z. B. 2,3-DPG-Mutase-Defizienz)
  • Kongenitale Methämoglobinämie – angeborene erhöhte Konzentration von Methämoglobin in den Erythrozyten
  • Störungen der Hämoglobinbildung bei normaler O2-Affinität des Hämoglobins (heterozygote beta-Thalassämie, alpha-Thalassämia minor, leichte Eisenmangelanämien; Hämoglobinkonzentration, Hämatokrit (Anteil aller zellulären Bestandteile am Volumen des Blutes) und mittleres Erythrozytenvolumen (MVC) sind hier vermindert)

Herzkreislaufsystem (I00-I99)

  • Bekannte kongenitale Herzleiden wie Septumdefekte (strukturelle Schäden der Herzwand, bzw. Löcher in der Scheidewand), Links-Rechts-Shunt (Störung des Blutkreislaufs, bei der sauerstoffreiches Blut aus dem arteriellen Schenkel des Blutkreislaufs (z. B. aus der linken Herzhälfte) direkt in den venösen Schenkel des Blutkreislaufs (z. B. in die rechte Herzhälfte) gelangt) [sekundäre Erythrozytose wg. arterieller Hypoxie/Sauerstoffmangel)
  • Hypertonie (Bluthochdruck)

Neubildungen – Tumorerkrankungen (C00-D48)

  • Wg. autonomer EPO (Erythropoetin)-Produktion in Tumoren:
    • Hämangioblastom (gefäßreicher Tumor, der im Bereich des zentralen Nervensystems aber auch im Weichteilgewebe auftreten kann)
    • Hepatom (maligne (bösartige) bzw. benignen (gutartige) Adenome/Neubildungen der Leber)
    • Leberzellkarzinom
    • Nierenzellkarzinom
    • Paraneoplastische Syndrome, beispielsweise beim Ovarialkarzinom (Eierstockkrebs), Kleinhirntumoren etc.
    • Phäochromozytom (Tumoren des Nebennierenmarks oder der sympathischen Paraganglien)
  • Myeloproliferative Neoplasien:
    • Chronische myeloische Leukämie (CML) – Leukämie, die mit einer starken Vermehrung von Leukozyten (weiße Blutkörperchen), speziell von Granulozyten und ihren Vorstufen, im Blut und im blutbildenden Knochenmark einhergeht
    • Essentielle Thrombozythämie (ET) – chronische myeloproliferative Erkrankung (CMPE, CMPN), die durch eine chronische Erhöhung der Thrombozyten (Blutplättchen) charakterisiert ist
  • Wilms-Tumor (Nephroblastom) – bösartige Neubildung der Niere, die im Kindesalter auftritt

Psyche – Nervensystem (F00-F99; G00-G99)

  • Schlafapnoe-Syndrom (SAS) – Beschwerdebild, das durch Atemstillstände (Apnoen) während des Schlafs verursacht wird

Urogenitalsystem (Nieren, Harnwege – Geschlechtsorgane) (N00-N99)

  • Nierenfunktionsstörungen, nicht näher bezeichnet
  • Polyzystische Nierenerkrankung – bezeichnet das Auftreten mehrerer Zysten in den Nieren

Medikamente

  • Androgene (durch Stimulation der Erythropoese/Blutbildung)
  • EPO-Zufuhr, z. B. bei Doping 
  • SGLT-2-Inhibitoren (Gliflozine) – Canagliflozin, Dapagliflozin, Empagliflozin)
  • Steroide (durch Stimulation der Erythropoese)

Weitere Ursachen

  • Aufenthalt in großen Höhen
  • Posttransplantationserythroblastose – vermehrtes Auftreten von Vorstufen der roten Blutkörperchen nach einer Organtransplantation
  • Raucherpolyzythämie bei starken Rauchern verstärkt durch einen erhöhten Anteil von Kohlenmonoxid-Hämoglobin (COHb)
  • Schwere Exsikkose (Austrocknung) – passagere Erythrozytose mit gleichzeitiger Erhöhung von Hämatokrit und Hämoglobinkonzentration